Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Zweiter Teil

1

Ein verhutzelter kleiner Greis mit roten Augen stand in Dupics Arbeitszimmer. Novembernachtwind schlug an die Fenster. Der Bittsteller zitterte, die Beine wollten ihn nicht länger tragen, aber er wagte nicht, sich zu setzen. Nur wenig besorgt, mit kindlichem Vertrauen war er vor einer Viertelstunde eingetreten. Dupic hatte ihm vor drei Monaten fünfhundert Kronen gegeben, heute war der Verfallstag.

Die ganze Stadt war Dupic Geld schuldig, die ganze Stadt glaubte, er werde das Geld überhaupt nicht oder nur lässig zurückfordern. Der Greis, der in Dupics Zimmer stand, war einer der ersten gewesen, die sich der unerwarteten Hilfe bedient hatte. Er war mit dem Vorsatz gekommen, Dupic um ein neues Darlehen zu bitten und nur nebstbei zu erwähnen, daß er später, bei günstigerer Konjunktur, alles zurückzahlen wolle. Dupics Blick hatte ihn gleich beim Eintreten erschreckt, gelähmt. Nun bettelte der Schuldner seit einer Viertelstunde um Zahlungsaufschub. Dupic schwieg. Unheilvoll wuchs das Schweigen von Minute zu Minute. Der verhutzelte kleine Greis stammelte: »Wo soll ich das Geld hernehmen? Wo soll ich es hernehmen?« Er wiederholte den Satz, als ob er sich selbst fragen, zu einer Antwort zwingen wollte.

In dieser Viertelstunde stand er vor einem 130 Gerichtshof, der ihm alle Geheimnisse seines Lebens, hundert Geständnisse und Selbstbeschuldigungen entlockte. Dupic hatte noch kein Wort gesprochen.

Endlich öffnete er den Mund, es sah aus, als ob er zornig schreien wollte, aber er sagte nur ein leises Wort: »Aufpassen.«

Der kleine zitternde Greis schlug die roten Augen auf. Dupic sagte leise: »Du wirst für mich arbeiten.«

Der Besucher zuckte zusammen. Daß Dupic ihn duzte, traf ihn wie ein furchtbarer Schlag. Er war ein kleiner unbescholtener Handwerker, vor dem Krieg hatte er sich nicht übel durchgeschlagen, im Krieg war seine Drechslerei zugrunde gegangen, seit dem zweiten Kriegsjahr hungerte er. Von allen Demütigungen, die er in den letzten Jahren erfahren hatte, war Dupics Du die schwerste. Er empörte sich, sagte mit zitternder Stimme: »Ich hab' nicht Bruderschaft mit Ihnen getrunken.«

Dupic wandte sich verächtlich ab: »Sei kein großer Herr.«

Der Kleine ging zur Tür, stammelte: »Verklagen Sie mich.«

Dupic lachte, ging zur eisernen Kasse.

»Wieviel willst du noch? Fünfhundert? Wieder auf drei Monate?«

Der Greis an der Tür riß die Augen auf, trat einen Schritt vor, lächelte schüchtern: »Es war also nur . . . Spaß?«

»Setz dich. Unterschreib.«

Der Drechsler unterschrieb. Dupic sagte: »Wenn du das Geld nicht zurückzahlst, wirst du für mich 131 arbeiten. Du und deine Kinder. Ihr alle werdet für mich arbeiten.«

Der Drechsler erhob sich unsicher, Schwindel befiel ihn, langsam drehte sich das Zimmer. Er hielt das Geld in der Hand und duckte sich, als wollte er einem niedersausenden Schlag ausweichen. In diesem Augenblick klopfte es. Dupic öffnete die Tür. Ein großer, breitschultriger, etwa dreißigjähriger Mann stand draußen. Dupic musterte ihn, lachte auf: »Fast hätte ich dich nicht erkannt.«

»Guten Abend, Vater«, sagte der Eintretende und schüttelte Dupic die Hand.

»Setz dich, ich bin gleich fertig«, lächelte Dupic.

Er wandte sich an den Drechsler: »Die fünfhundert Kronen mußt du verfressen, damit du zu Kräften kommst. Du wirst für mich Ziegel schleppen. Daß du mir nicht krepierst, bevor ich zu bauen beginne! Die tausend Kronen sind ein Vorschuß, betrügen lass' ich mich nicht. Gute Nacht.«

Er stieß den Drechsler zur Tür hinaus.

»Setz dich, Peter«, befahl er und blickte seinen Sohn von allen Seiten an. Peter blieb stehen. Dupic grinste: »Der hochgeehrte Herr Doktor beehrt mich also doch.«

»Ich war bis zuletzt an der Front.«

»Hättest längst Urlaub haben können. Im August waren alle deine Brüder hier. Allen hab' ich den Urlaub erwirkt, auch dir. Warum bist du nicht gekommen?«

»Du hast mich nicht gebraucht.«

»Dein Schaden gewesen. Jeder hat fünfhundert Hektar Boraner Boden geschenkt bekommen. Nur du bist leer ausgegangen.« 132

Peter lachte. Dupic runzelte die Stirn: »Hast es wohl nicht nötig. Bist wahrscheinlich reich geworden im Krieg. Bestechungen, wie? Was hast du für jede Superarbitrierung bekommen?«

Peter lachte wieder. Dupic ereiferte sich:

»Dumm warst du. Hättest nehmen sollen. Glaubst du, daß alle Regimentsärzte so dumm waren wie du? Jetzt ist's aus damit. Mit Honoraren à zehn Kronen wirst du nicht viel aufstecken.«

Peter setzte sich; jetzt erst nahm er den Hut ab. Das braune glatte Haar schimmerte hell. Das Gesicht war wie aus grobem Stein gehauen, die breite Stirn, der breite ernste Mund, das breite entschlossene Kinn. Die dunkelbraunen großen Augen gaben dem grob geformten Gesicht Wärme und Jugend.

Dupic sah unzufrieden aus. Dieser Sohn machte ihn befangen. Dieser Sohn war anders als die andern. Was wollte er, warum kam er jetzt, warum war er im August nicht gekommen? Dupic fragte:

»Was für Pläne hast du, was wirst du anfangen?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Willst du hier schlafen? Hinter dem Vorhang ist ein Bett.«

»Gut. Morgen will ich weiterwandern.«

Dupics Gesicht erhellte sich. Peter lächelte. Er hatte den Vater in den letzten fünfzehn Jahren sehr selten besucht, viel seltener als die andern Söhne. Er war immer unerwartet erschienen, es waren immer zwecklose Besuche gewesen, unangenehme Besuche, dachte Dupic, denn einem Menschen, der nichts verlangte und nicht verriet, was er wollte, konnte er nicht trauen. 133

Peter hatte als Student die Hilfe seines Vaters nicht in Anspruch genommen. Nie war ihm eingefallen, einen Monatswechsel oder einen Zuschuß zu fordern. Dennoch hatte er sich nie wie ein armer Student gefühlt. Die ersten Klassen des Gymnasiums hatte er in Agram in einem Studentenheim verbracht, das jeden, der sich meldete, gratis verköstigte. Später hatte er Stunden gegeben. Es war ihm nie eingefallen, daß er es eigentlich nicht nötig gehabt hätte, sich auf diese Art durchzuschlagen. Die Ferien hatte er gewöhnlich mit seinen Schülern auf den Gütern ihrer Eltern zugebracht. Nach Hause war er immer erst knapp vor Beginn des neuen Schuljahrs gereist.

Das fiel Dupic jetzt ein. Er erinnerte sich auch, daß Peter von ihm jedesmal eine lächerlich geringe Summe, nicht mehr, als man einem besseren Bettler gibt, gefordert hatte, kaum die Hälfte des Fahrpreises nach Agram. Über diese sonderbare, völlig unvernünftige Forderung hatte Dupic sich immer wieder geärgert. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Peter jedesmal einen großen Betrag (der ihm manchmal verweigert worden wäre) verlangt hätte. Dupic hatte noch den Klang der Knabenstimme im Ohr. Der Knabe erbat – die Stimme bemühte sich, es nicht zu verraten – einen kleinen Betrag, um den Vater, der gern den Freigebigen spielte, nicht zu enttäuschen, die Geringfügigkeit des erbetenen Betrags war blanker Hochmut. Es war geradezu, als ob Peter andeuten wollte, es sei ihm nichts daran gelegen, in künftigen Zeiten behaupten zu dürfen, daß er seinem Vater nichts zu verdanken habe. Vielleicht wollte der Knabe nur das Gewissen des Vaters 134 beruhigen; diesen Verdacht hatte Dupic immer gehabt. Diese Empfindung mußte sehr deutlich in ihm gewesen sein, denn sonst wäre der vielbeschäftigte Mann, der sich um seine Kinder grundsätzlich nicht kümmerte, schwerlich auf einen so entlegenen, unvernünftigen Einfall gekommen.

Als Peter sich niedergelegt hatte, kam Dupic noch einmal ins Arbeitszimmer und fragte, ob Peter wirklich schon morgen abreisen wolle. Peter lächelte ihm freundlich zu, antwortete aber nicht, sondern fragte, wer der alte Mann, der späte Besucher gewesen sei. Dupic brummte eine ausweichende Antwort. Peter lächelte immer vertraulicher und sagte:

»Hast du mehreren Leuten hier Geld gegeben?«

»Ja.«

»Willst du den alten Mann wirklich zwingen, Ziegel zu schleppen?«

»Natürlich.«

»Hast du ihm deshalb das Geld gegeben?«

»Natürlich.«

»Wußte er, als er zu dir kam, was du mit ihm vorhast?«

»Schwerlich.«

»Und mit allen andern machst du es genauso?«

»Forderst du Rechenschaft von mir?«

»Was fällt dir ein, Vater.«

Dupic wich dem Lächeln Peters aus. Dieses Lächeln irritierte ihn. Zorn stieg in ihm auf. Er wollte die Tür zuschlagen und schlafen gehen, aber er blieb, er setzte sich an Peters Bett.

Peter lächelte: »Ich höre, daß du in den letzten Jahren sehr reich geworden bist.« 135

»Wieviel brauchst du? Viel kann ich nicht geben. Die Geldentwertung schreitet fort. Geld wird in absehbarer Zeit ein nobles Klosettpapier sein.«

»Ich werde dich um dreihundert Kronen bitten.«

»Dreihundert??«

»Ja. Ich werde mich irgendwo als Arzt etablieren. Die Einrichtung besitze ich. Jetzt brauche ich nur noch dreihundert Kronen, um die Miete zu bezahlen.«

»Dreihundert Kronen kannst du haben.«

»Danke, Vater.«

Peter reichte dem Vater die Hand. Dupic blieb sitzen. Verdammter Junge, dachte er; er spielt dieselbe Komödie wie vor fünfzehn Jahren. Braucht er wirklich die dreihundert Kronen? Dummer Kerl. Vier Jahre lang Arzt an der Front, Regimentsarzt – und besitzt keine dreihundert Kronen. Nein, unmöglich; er spielt wieder Komödie. Bei den andern weiß man wenigstens, was sie wollen. Man wirft ihnen Geld hin, sie schnappen es wie die Hunde den Knochen, fertig.

Er schlug Peter leicht auf die Schulter.

»Du, wenn du willst, kannst du mehr haben. Willst du – sechshundert?«

»Nein. Dreihundert. Das ist genau der Betrag, den ich brauche. Jetzt aber möchte ich schlafen.«

Dupic ging. Peter drehte das Licht ab. Er dachte an den alten Drechsler, er hatte sich jedes Wort gemerkt.

Am nächsten Morgen sagte Peter beim Frühstück: »Der alte Mann, dem du gestern Geld gegeben hast, weiß vielleicht gar nicht, wie gut du's mit ihm meinst. Ziegelschleppen ist zweifellos die richtige Arbeit für einen so hinfälligen Körper, der kaum mehr stehen 136 kann. Die Arbeit wird ihm die Muskeln stärken. Wenn du ihn jeden Tag acht Stunden Ziegel schleppen läßt, wird er nach kurzer Zeit ein ganz anderer Mensch sein. Sicherlich wird es ihn verjüngen, falls er's aushält. Du wirst schon wissen, ob er's aushält.«

Dupic schwieg. Peter fragte: »Was willst du eigentlich bauen?«

Dupic blickte ihn durchdringend an.

»Wo willst du dich als Arzt niederlassen?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Geh nach Dugosela. Dort brauchen sie einen Arzt.«

»Vielleicht befolge ich deinen Rat. Gib mir jetzt die dreihundert Kronen.«

Peter nahm das Geld in Empfang und ging. Nach drei Stunden kehrte er zurück und sagte:

»Ich habe keinem Menschen gesagt, daß ich dein Sohn bin; trotzdem haben alle von dir und nur von dir gesprochen.«

Dupic lachte.

Peter lächelte ihn an:

»Ich werde mich hier als Arzt niederlassen.«

Dupic fuhr auf. Peter lächelte:

»Ich habe schon eine Wohnung gemietet. Auf dem Marktplatz; gleich hier, schräg gegenüber. Ich werde dir in die Fenster sehn können.«

Dupic ging erregt auf und ab. Dann öffnete er die eiserne Kasse. »Es paßt mir nicht. Etablier' dich, wo du willst, nur nicht hier. Wieviel brauchst du, wenn du dich in Wien etablierst?«

Peter schüttelte den Kopf. Dupic nickte ihm anerkennend zu. 137

»Du kennst dich aus. Dreitausend?«

Peter rührte sich nicht.

Dupic schrie, plötzlich dunkelrot im Gesicht:

»Dreitausend, mehr geb' ich nicht! Ja oder nein.«

Peter stand regungslos.

Dupic warf drei Tausendkronennoten auf den Tisch. Peter nahm sie, steckte sie in Dupics Rocktasche, die Ecken der drei Noten blieben wie Taschentuchzipfel sichtbar. Dupic legte das Geld in die eiserne Kasse. Er dachte nach. Plötzlich lachte er laut auf:

»Falls du auf meinen Tod wartest, mußt du viel Geduld haben. Von meiner Konstitution hast du keine Ahnung. Wirst ja sehn, wie ich beschaffen bin, hochgeschätzter Herr Doktor. Von mir hast du nichts zu erwarten. An mir wirst du nichts verdienen. Und was die andern betrifft: Hier bestimme ich, wer leben und wer krepieren soll.«

Peter zuckt die Achseln und ging. In der Tür drehte er sich um und lächelte: »Willst du den lieben Gott spielen?«

Dupic lachte, rief heiter: »Ich spiele nicht. Ich hab' nie gespielt.«

»Das weiß ich, Vater. Deshalb – bleibe ich.«

 


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