Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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3

Es dunkelte bereits im Park. Dem Grafen Max Königsegg war es noch immer nicht gelungen, vor Allegra die peinlich-ernsten Gedanken auszusprechen, mit denen er gekommen war. Zuerst hatte sie sich über seinen verwundeten Arm lustiggemacht, dann war sie auf die elterliche Misere zu sprechen gekommen. Ob er wisse, was die heutigen Besuche im Schloß bedeuteten, hatte sie gefragt; wenn er es nicht wisse, wolle sie ihm reinen Wein einschenken. Papa und Mama seien fertig, auf jedem Stein und jedem Grashalm in der Runde säßen unzählbar die Gläubiger, und wenn sich nicht einer der vier Freunde der Eltern erbarme, werde man demnächst von den Thuns erbauliche Sachen hören. Als Königsegg, um eine Nuance zu feierlich, erklärte, das alles habe er gewußt, es gehe ihn und Allegra wenig an, nach dem Krieg werde sofort geheiratet, alles andre müsse sich finden, lachte sie ihn aus: Er solle nicht den Märchenmann spielen, das hätte nur Sinn, wenn sie ein Liebespaar wären, davon könne aber, wie oft wolle er das noch hören, keine Rede sein. Wenn er aber in sein 33 Unglück rennen wolle, gut, sie sei einverstanden, aber nicht sehr gern, das müsse sie schon sagen; der Mann, den sie lieben könnte, müßte anders, ganz anders aussehen. Nun wollte er ausführlich sprechen. Sie ließ ihn nicht zu Wort kommen, sie lachte: »Mit mir kann man nicht reden, ich hab' keine Geduld zuzuhören, den ganzen Tag muß ich herumreden und herumtanzen, bis alle Leut' Kopfweh davon kriegen. Weißt' warum? Da ist nur mein Name schuld, nix andres. War selbstverständlich eine Idee von Papa, mich Allegra zu taufen, wenn's nach Mama gegangen wär, hätt' ich wahrscheinlich Annunciata oder Immaculata geheißen. Papa, weißt, ist seit jeher ein Verehrer von Lord Byron, das ist sein Lieblingsdichter. Kennst was von Lord Byron? Ich auch nicht. Nicht eine Zeile. Also, Papa hat mich Allegra taufen lassen, weil die Tochter von Lord Byron Allegra geheißen hat. Das mußt du jetzt büßen.«

Wie kläglich und vertrocknet ich neben ihr bin, dachte Max Königsegg. Immer, wenn er in ihr frisches, übermütiges, weißblondes Gesicht blickte, wurde er von Scham ergriffen. Er hatte nicht viel mehr gelernt als seine Kameraden, die er verachtete, aber seine gemessene Haltung, sein Stubenhockergesicht, seine ernsten, kurzsichtigen Augen sonderten ihn von den andern ab. In der Uniform fühlte er sich nicht wohl, er war entschlossen, nach dem Krieg unbedingt einen »ordentlichen Beruf« zu wählen, aber welche Wahl gab es für einen Theresianisten, der weder Soldat noch Diplomat sein wollte? Das war es, was er mit Allegra zu besprechen hatte.

Unter allen Übertreibungen, die sie an diesem 34 Nachmittag herausgelacht hatte, stand nur ein Wort da, an dem nicht zu rütteln war, das einzige wichtige, das Wort von ihrer Gefühlsleere. Ich heirate dich, weil es mir gleichgültig ist, wen ich heirate: das hatte sie von Anfang an gesagt. Sie hatte es dem Liebenden auch ins Feld geschrieben, obwohl sie gewußt hatte, er halte eine exponierte Stellung und könne jeden Augenblick fallen. Sie wollte ihn nicht abschrecken, sie wollte nur Klarheit. Plötzlich begann sie, als ob sie seine Gedanken erraten hätte, von seiner Zukunft zu sprechen. Zum General werde er es in diesem Krieg wohl kaum mehr bringen, lachte sie, was aber solle aus ihm werden, was könne überhaupt aus den vielen jungen Herren werden, denen der offenbar bereits verhaute Krieg die von den Ahnen vorbestimmte Karriere verderbe? »Wenn du wenigstens ein exzellenter Reiter wärst, könntest du zum Zirkus, aber nicht einmal das geht wegen deiner unstandesgemäßen Kurzsichtigkeit. Willst du Hauslehrer bei einem reichgewordenen Lederhändler werden? Willst du von der Oberleutnantspension leben? Oder soll ich Empfangsdame bei einem Photographen werden? Jetzt hast du das Wort.«

Nun war es schwer, das Notwendige zu erwidern; der Ton, den Allegra angeschlagen hatte, war ja bereits eine Ablehnung. Max Königsegg hatte sich vorgenommen, Allegra zu erklären, er sei fest entschlossen, mit aller Energie einen der tausend Berufe zu ergreifen, die jedem Menschen, der arbeiten will, offenstehen. Nach dem Krieg, hatte er sagen wollen, werde die zerstörte Welt alle Hände brauchen, denn der Wiederaufbau werde schwierig sein, und das müsse als ein Glück 35 betrachtet werden; je verzweifelter sich die Gesamtlage gestaltete, desto weniger müsse und dürfe der einzelne verzweifeln, erforderlich sei nur eine gewisse Demut gegenüber dem Weltganzen, diese Demut trage bereits heute jeder, der den Krieg kennengelernt habe, unverlierbar in der Brust. Das hatte er Allegra sagen wollen. Er sagte es nicht, er lächelte: »Vielleicht werde ich wirklich Hauslehrer bei einem Lederhändler und du wirst Empfangsdame bei einem Photographen.«

Sie wurde ernst. »Ich weiß ja nicht, wie's werden soll«, sagte sie leidenschaftlich, »aber ich kann mir vorstellen, daß alles schrecklich interessant werden könnt'. Weißt, ich stell' mir vor, wenn der Krieg einmal aus ist, verloren natürlich, wird man uns die Schuld geben, uns paar Familien mit den großen Namen. Wir haben die Diplomaten und die Generale geliefert, die das alles so wunderbar verpatzt haben, das wird man uns honorieren. Auf einmal wird's heißen: Auf die Erde hinlegen, Augen zu und nicht mucksen! Und da werden wir alle daliegen wie Wasserleichen, und über uns wird ein riesiger, unerhört gewalttätiger Elefant mit schrecklichen wilden Augen stehn, und wir werden wissen: Das ist das Volk! Und dieser Elefant wird so groß sein wie ganz Europa, mit einem Fuß wird er auf unsern Leibern thronen und mit einem Fuß vielleicht in Frankreich und mit den beiden Hinterpfoten Gott weiß wo, und wir, wir werden nix sehn, wir werden nur fühlen: Jetzt ist er über uns, und wenn er nur ein bissel auszuschlagen anfangt, sind wir alle hin. Weißt, darauf könnt' ich mich direkt freuen. Weil wir doch immer geglaubt haben, der Elefant ist nur zu unserem Vergnügen da, und 36 je größer und geduldiger er ist, desto mehr dürfen wir ihm aufladen.«

Allerneueste Komtessenromantik, dachte Max Königsegg; was für eine bequeme Art, heroisch zu sein. Wenn sie mir doch lieber sagen wollte, ob sie sich in eine Zweizimmerwohnung hineindenken könnte. Aber er schämte sich seines Spotts; zweifellos würde Allegra einer gewissen Großartigkeit in jeder Lebenslage fähig sein. Er stand auf und erklärte, sich von den Eltern verabschieden zu wollen, morgen könne man weiterreden. Er ging mit Allegra vor die Tür des Roten Saals, hörte erregte Stimmen und entschloß sich, doch lieber ohne Abschied zu verschwinden. Allegra drückte ihm die Hand und flüsterte »Adieu«. Er verließ auf den Fußspitzen den hellerleuchteten Vorsaal.

Allegra blieb wie in Träumen an der Tür, gebannt von einer hohen, heiseren Stimme, die sie nicht kannte. Es war kein Wort zu verstehen, aber diese Stimme war beklemmend scharf, obwohl sie völlig heiser zu sein schien, und die Stimme der Mutter, die jetzt einfiel, wie klang sie fremd, fast wie Gebell. Was war das? Allegra überlegte. Rohan, Kinsky, Waldstein, Colloredo-Mansfeld . . . keiner von ihnen hatte diese heisere, scharfe Stimme. Außerdem war es unmöglich, daß Kinsky, dessen ruhige, sachliche, energische und trotzdem unvergleichlich verbindliche Stimme Allegra unter tausend Stimmen herausgehört hätte, so lange schwieg; in seiner Gegenwart gab es keine erregten Auseinandersetzungen, er war immer der Wortführer, man hörte ihm zu und sagte dann ja oder nein. Jetzt klopfte jemand wuchtig auf den Tisch, die Stimme der 37 Mutter bellte laut und deutlich: »Unverschämt!« Allegras Herz schlug laut, sie pochte an die Tür, trat ein, blieb maßlos überrascht in der Tür stehen.

In der Mitte des Saals stand ein ungewöhnlich großer alter Mann und grinste. Die Gräfin, erschreckend blaß, mit roten Augen, hundert krankhaft große Sommersprossen im Gesicht, blickte ihn wutzitternd an, ihre Hand, die auf den Tisch geklopft hatte, zitterte. Der Graf saß regungslos neben ihr und preßte die linke Hand an die Stirn, dieser Anblick war fast noch schmerzlicher als das Außer-sich-Sein der Mutter. Jetzt verbeugte der alte Mann sich tief und verharrte, ein ungeheuer langer schmaler Rücken, in dieser Stellung ohne Bewegung, bis die Gräfin »Geh, Allegra!« hervorstieß. Der Fremde richtete sich auf, fragte devot: »Die gnädigste Komtesse?« – »Gehgehgeh!« sagte die Gräfin ungeduldig. – »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle: Dupic«, grinste der Fremde. »Sie stören durchaus nicht, gnädigste Komtesse, wir haben keine Geheimnisse.«

»Was bedeutet das?« fragte Allegra und trat einen Schritt vor. Die Eltern schwiegen. Dupic wandte sich devot an die Gräfin: »Königliche Hoheit sollten die gnädige Komtesse nicht wegschicken, sie sieht wie ein gescheites Mädchen aus, könnte vielleicht mitberaten.« Er grinste Allegra an: »Ich bin nämlich der Käufer. Ich kaufe Boran. Es sind nur noch ein paar Kleinigkeiten zu bereinigen, alles in allem sind wir ziemlich einig.«

Ein gespenstisches Traumtier war in diese hellen, geheimnislosen Räume eingebrochen. So schien es auch 38 der Vater zu empfinden, er dauerte Allegra, sie versuchte ihre Beklemmung zu unterdrücken.

»Urteilen Sie gefälligst selbst, gnädigste Komtesse«, begann Dupic in väterlichem Ton, »ich werde Ihnen sagen, um was es sich handelt. Ich kaufe alles in Bausch und Bogen, das Schloß, den Grundbesitz, alles, was da ist. Ich biete für jedes Objekt eine Summe, die jeder Sachverständige angemessen, wenn nicht sogar zu hoch findet. Ich befreie Ihre verehrten Eltern von allen Sorgen. Ich garantiere ihnen eine Rente. Ich überlasse ihnen das Schloß bis auf weiteres. Sie können hier wohnen, als ob sie es nicht verkauft hätten. Ihre Königliche Hoheit regt sich auf, weil ihr zwei Punkte mißfallen. Erstens, daß ich den Park in die Kalkulation nicht einbeziehe. Ich übergebe den Park der Öffentlichkeit, für mich hat er keinen Wert, folglich kann ich ihn nicht kalkulieren. Zweitens soll das Eckhaus auf dem Marktplatz gegenüber dem Schloß geräumt werden, weil ich selbst dort wohnen will. Ich bitte, ist das ein Malheur? Ist das ein Grund, sich aufzuregen?«

Er grinste, blieb in gebückter Haltung vor Allegra stehen. Er zwinkerte ihr zu, sagte: »Nun? Nun?« und wartete. Natürlich der Park, dachte Allegra, Mama kränkt sich wegen des Parks, ich versteh das nicht, in so einem Augenblick ist der Park doch wirklich nebensächlich. Sie wollte die Gräfin in diesem Sinn beeinflussen, aber es war zu spät. Die Gräfin hatte wieder zu sprechen begonnen, unerträglich war ihre fremdgewordene, bellende Stimme, diese Hemmungslosigkeit, die niemand für möglich gehalten hätte.

»Sie wollen also in dem Haus uns gegenüber sitzen 39 und uns auslachen, sich über uns lustig machen, uns Tag für Tag fühlen lassen, daß wir von Ihren Gnaden leben, den Leuten sagen, seht, mir gehört das Schloß, aber ich dulde eure frühere Herrschaft drin, ich lasse sie in dem Schloß, aber es bedarf nur eines Worts von mir, und sie fliegen, ich kann sie auf die Straße werfen, jeder Bettler darf stolzer sein als sie. Das wollen Sie. Ich sehe klar, es ist so, aber es wird nicht so sein, lieber gleich auf die Landstraße.«

»Aber Mama, so scheint es doch nicht zu sein«, sagte Allegra und schüttelte unwillig den Kopf. Dupic nickte ihr lebhaft zu: »Richtig! Ganz richtig! Ich bin Geschäftsmann, nichts als Geschäftsmann. Herr Graf, gnädigste Komtesse, daß ich mich hier zur Ruhe setze, hat mit dem Geschäft nichts zu tun. Sagen Sie selbst, ist es nicht mein gutes Recht? Kann ein einsamer alter Mann Sie stören? Ich werde Sie nicht belästigen. Wir machen das Geschäft, von diesem Augenblick an brauchen Sie mich nicht mehr zu kennen. Ich werde nicht lästig fallen, es ist nicht meine Art.«

Er stand hochaufgerichtet, seine kleinen grauen Augen glänzten trüb. Niemand antwortete. Dupic begann zu lächeln, der zu lange Körper beugte sich nach vorn, als ob er die unnatürliche steife Haltung nicht länger ertrüge. »Überdies waren ja die Herrschaften bereits entschlossen, das Geschäft zu machen«, sagte er.

»Ist das richtig?« fragte Allegra.

»Geh, Allegra, laß uns mit dem Herrn allein«, sagte die Gräfin auffallend ruhig.

Allegra ging. Die Gräfin lud mit einer Handbewegung Dupic ein, Platz zu nehmen. »Du bist entschlossen, nicht wahr, Hermann?« sagte sie ruhig. 40

»Ich denke, wir werden noch mit dem Advokaten sprechen müssen«, erwiderte der Graf ausweichend.

»Die Herrschaften sind also prinzipiell einverstanden«, sagte Dupic.

Die Gräfin rührte sich nicht.

»Wir schreiben Ihnen«, sagte der Graf erleichtert.

»Bis zum Fünfzehnten«, notierte Dupic. »Bis zum ersten August müssen die Kontrakte unterschrieben sein.«

Er stand auf: »Königliche Hoheit, Herr Graf, ich gratuliere zu dem Entschluß. Die Herrschaften hätten es nicht besser treffen können.«

Er verbeugte sich zweimal devot, nahm den Überzieher und den kleinen Handkoffer und ging langsam. In der Tür drehte er sich um und verbeugte sich noch einmal.

An einem Fenster im ersten Stock stand Allegra und blickte ihm nach. Man ist doch noch sehr dumm und ahnungslos, dachte sie. Er imponiert mir, ich kann mir nicht helfen. Gräßlicher Mensch. Ob es wohl mehrere Exemplare dieser Sorte geben mag? Ich glaub' nicht. Hoffentlich nicht. Gott sei Dank, jetzt biegt er um die Ecke.

 


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