Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Auf Schloß Boran schien sich nichts geändert zu haben. Noch immer bewachte der hinkende Livrierte den Haupteingang. Der siebzigjährige Richard sorgte mit kindischer Unbefangenheit für die Aufrechterhaltung der alten Ordnung. Der Wirtschaftsdirektor wollte eine Zeitlang nach dem Verkauf gewohnheitsmäßig der Gräfin Vortrag halten und blickte den alten Richard vorwurfsvoll an, der melden mußte, Ihre Königliche Hoheit lasse sagen, der Wirtschaftsbericht gehe sie nichts mehr an.

Der Graf, Allegra, das Personal, alle wurden von der Gräfin gefangengehalten. Wer das Schloß verlassen wollte, mußte den Zweck nennen, die Notwendigkeit beweisen. Das Betreten des Parks vom frühen Morgen bis nach Einbruch der Dunkelheit war streng verboten. Als Dupic den Park geöffnet und der Bevölkerung zugänglich gemacht hatte, war der Gräfin der Zusammenbruch ihrer Existenz plastisch vor Augen getreten. Der Park ist jedermann zugänglich, gut, man wird uns nicht im Park begegnen. Fenster schließen! Vorhänge! 119 Wir wollen nichts sehen, nichts hören, wir wollen unter uns bleiben. Wir werden in der Nacht, wenn alles schläft, in den Park Luft schöpfen gehen. Ein wahres Glück, daß er wenigstens in der Nacht gesperrt ist, sonst müßte man gefaßt sein, in den Alleen über Liebespaare zu stolpern. In der Nacht darf auch die Dienerschaft den Park betreten, und zwar die Hauptallee bis zum Teich; wer in einem andern Teil des Parks angetroffen wird, ist auf der Stelle entlassen.

Die Vorschriften waren inappellabel. Für alle Eventualitäten war Vorsorge getroffen. Wenn Herrn Dupic die Lust anwandeln sollte, ins Schloß zu kommen, ist es überflüssig, die Anmeldung zu überbringen, es ist vielmehr dem Herrn sofort zu sagen, daß man ihn nicht empfange. Auch sonstige Besucher sind abzuweisen; jeder Verkehr mit der Bevölkerung ist einzustellen; die Lebensmittelversorgung hat womöglich zu funktionieren wie bisher, jedoch nur, falls die Leute von selbst tun, als ob alles unverändert geblieben wäre. Sollte es sich herausstellen, daß die Meierei nicht mehr berechtigt oder gewillt ist, die übliche Milchration ins Schloß zu liefern, müßte ohne Milch gewirtschaftet werden. Interventionen, welcher Art immer, sind strengstens untersagt. Allenfalls müßten die amtlichen Lebensmittelkarten regelmäßig in Anspruch genommen werden.

Der Graf und Allegra machten sich in guten Stunden, wenn sie sich unbeobachtet wußten, über diese Maßnahmen, unter denen sie am schwersten zu leiden hatten, lustig. Allegra fand, dieser Dupic benehme sich grandios. »Wenn er wollte, könnte er uns noch heute glatt hinauswerfen, und Mama gibt Auftrag, ihm, 120 wenn er kommt, die Tür zu weisen. Ich muß sagen, der Mann behandelt uns mit einer Eleganz, die einfach unverständlich ist. Findest du nicht?« – »Von Mama kann man was lernen«, erwiderte der Graf mit zartem Lächeln.

Er dachte über Dupic nicht nach; »man soll sich selbst nicht aufscheuchen«, pflegte er zu sagen. Er war, trotz der Unfreiheit, die er sich von der Gräfin aufzwingen ließ, zufrieden, beinahe glücklich. Er spielte viele Stunden täglich Klavier, kein Kupka kam ihn stören, er las weder Briefe noch Zeitungen, er hielt sich den Krieg vom Leib. Das Augenleiden war in der letzten Zeit nicht schlechter geworden; vielleicht hatte der alte Hausarzt recht, der die Ansicht vertrat, nur Ruhe tue not, Aufregungen seien Gift für die Augen. Nun ließ es sich nicht leugnen, daß die Zukunft völlig von Herrn Dupic abhing. Man mußte immer auf einen Überfall gefaßt sein, man durfte nicht allzusehr vergessen, daß man hier nur noch geduldet war, aus Gnade und Barmherzigkeit – nein, aus einem unerratbaren Grund, den niemand kannte. Der Graf bekam Kopfschmerzen, wenn er an Dupic dachte; trotzdem erheiterten ihn Allegras Phantasien über den erstaunlichen Mann. Sie phantasierte, eines Tages werde Dupic der Mama zwanzig Millionen unter der Bedingung schenken, daß sie ihn täglich zum Dejeuner lade. Der Graf meinte, daß Dupic mit einem solchen Vorschlag keinen Erfolg hätte; Allegra war anderer Ansicht und malte sich die Folgen aus; eines Tages würde Dupic ein gebratenes Bauernmädchen servieren lassen und Mama zwingen, einen Schenkel mit Mayonnaise zu verspeisen. 121

Max Königsegg, dessen zerschossener Arm langsam heilte, stellte die Verbindung mit der Welt her. Allegra empfing ihn täglich mit der Frage, welche Neuigkeiten man von Dupic erzähle. Max begriff nicht dieses Interesse, einige Tage lang war er eifersüchtig, Ende August erblickte er Dupic zum erstenmal, von nun an ließ er sich in allen Läden Tratsch, der Dupic betraf, erzählen und befriedigte Allegras Neugierde.

Am 6. September berichtete er, gestern habe es im Raudnitzer Schloß einen unglaublichen Zwischenfall gegeben. Nach übereinstimmenden Schilderungen mehrerer Persönlichkeiten habe sich die Geschichte folgendermaßen zugetragen: Der politisch interessierte Fürst beruft eine große Adelsversammlung nach Schloß Raudnitz ein, es erscheint nahezu der gesamte böhmische Adel, der Fürst begrüßt die Herren, plötzlich erblickt er den Dupic. Wer ist das? fragt der Fürst. Kein Mensch weiß es oder will es wissen. Dupic stellt sich nicht vor, der Fürst unterbricht die Begrüßungsrede, Dupic spricht den Baron Nadherny an, unangenehm, aber was tun? Dann spricht Dupic den jungen Seillern an, klopft ihm auf die Schulter, sagt laut: »Wie geht's, lieber Graf, was gibt's Neues auf dem Hypothekenmarkt?« Der Fürst fordert Dupic auf, die Einladung vorzuweisen, Dupic buckelt, erklärt devot, ohne Einladung erschienen zu sein, die gemeinsame Gefahr erfordere gemeinsames Vorgehen aller Großgrundbesitzer. Der Fürst erklärt, er habe keine Versammlung von Großgrundbesitzern, sondern eine Adelsversammlung einberufen. Dupic grinst, er ruft laut, so daß jeder ihn hört: »Gut, so berufe ich ins Bräuhaus eine 122 Großgrundbesitzerversammlung ein, eine Adelsversammlung hat keinen Wert, denn der Adel wird abgeschafft, der Großgrundbesitz hingegen kann teilweise gerettet werden. Ich habe nicht lange Zeit, die Herren müssen sich beeilen.« Der Fürst gibt einem Diener einen Wink, Dupic wird hinausbefördert, die Beratung beginnt. Man hat sich zu entscheiden, ob noch ein Versuch gemacht werden soll, Österreich zu halten oder ob man nicht lieber schon jetzt deklarieren soll, daß man mit dem künftigen tschechischen Staat sympathisiere. Die Debatte verspricht lebhaft zu werden, aber plötzlich sind einige Herren verschwunden. Es verschwinden immer mehr, zuletzt sitzt der Hausherr mit ein paar intimen Freunden allein am Beratungstisch, alle andern sind im Bräuhaus bei Dupic. Erst nach Dupics Abreise kommen sie höchst verlegen zurück, von gemeinsamen Plänen ist nicht mehr die Rede, beim Abschied denkt jeder: »Rette sich, wer kann.«

Allegra lachte. Max sagte ernst: »Vielleicht ist Dupic der Elefant, das Untier, von dem du kürzlich geschwärmt hast, erinnerst du dich?« – »Aber nein«, lachte Allegra, »ich hab' das Volk gemeint, das Volk, verstehst, wird auf uns herumtrampeln, das hab' ich gemeint. Gehört der Dupic zum Volk? Zu uns gehört er auch nicht, was ist's also mit ihm, wohin gehört er?« Max erklärte, jetzt wisse man von keinem Menschen, wohin er gehöre, aber bald werde man klarer sehen, demnächst werde jeder rasch erraten müssen, wohin er gehöre. »Auch wir, du und ich«, fügte er zögernd hinzu. Allegra lenkte ab, fragte, ob er seinen zu Ende gehenden Urlaub prolongieren lasse. Sie will mich los 123 sein, sie wünscht mich ins Feld zurück, dachte er, verbarg seine Niedergeschlagenheit, scherzte: »Keine Angst, ich geh' schon noch ins Feld.«

Am 1. Oktober erschien er in Prag vor der Superarbitrierungskommission. Der Generalstabsarzt fragte ihn, ob er wieder an die Front wolle, wartete die Antwort nicht ab, sagte: »Gehn's nach Haus, es hat keinen Sinn mehr, gestern haben die Bulgaren den Waffenstillstand unterschrieben, jetzt dauert's mit uns auch nicht mehr lang.« Max fuhr nach Boran zurück, erzählte, nach Bulgarien wolle nun auch die Türkei kapitulieren, in Prag halte man das Ende für gekommen. Man saß im Nachtdunkel auf dem Balkon des Roten Saals, die Gräfin sagte heftig: »Alles soll untergehn, gut so!« Der Graf suchte im Dunkeln ihre Hand, lächelte: »Jetzt kommen alle dran.« Max sah im Dunkeln Allegras Augen aufleuchten, er hatte das fast unüberwindliche Verlangen, ihren Atem zu spüren, ihren Schuh mit dem Fuß zu berühren, aber es war zu ungewiß, wie sie es aufnehmen würde. »Heut' ist alles sehr deprimierend«, ließ Thun sich vernehmen, »aber ich beklag' mich nicht, nein, wirklich nicht. Man muß schon froh sein, wenn man verhältnismäßig gesund hier sitzen darf; alles in allem, mein' ich.« – »Also mir tut's nicht leid, daß es keine Reisen nach Wien und keine Hofbälle geben wird«, sagte Allegra, »jetzt kommt dafür hoffentlich etwas anderes, etwas Neues. Es war ja fad, das bequeme Leben. Was jetzt kommt, wird vielleicht nicht so fad sein.« Eine unerträgliche Pause entstand, dann sagte die Gräfin: »Man muß sich nicht abfinden«, und stand auf und ging. Der Graf folgte ihr. 124 Max lächelte: »Ich werde eine Stelle suchen, dann heiraten wir.«

Allegra lachte: »Du mußt den Dupic erschlagen, wenn du dich bei Mama einschmeicheln willst.«

»Und bei dir?«

»Da kann ich dir nicht raten . . .«

In den nächsten Tagen erschienen zwei Abordnungen auf Schloß Boran. Die erste, mit einem kaiserlichen Handschreiben ausgerüstet, kam aus Wien, der Generaladjutant des Kaisers war ihr Sprecher. Der Graf und die Gräfin empfingen die Herren im Roten Saal. Der Generaladjutant verkündete in leichtem Plauderton, Kaiser und Adel müßten sich nun inniger denn je zusammentun und die Monarchie verteidigen, zu Hause oder im Exil. Füge es das Schicksal, daß das Reich verschwinde – man werde es wieder aufbauen, Frankreich lasse Habsburg nicht untergehen. Es klang, trotz dem leichten Plauderton, memoriert. Die Gräfin blickte den Sprecher durchdringend an und sagte: »Wir danken, Durchlaucht, der Kaiser wird sich ohne uns behelfen müssen.« Kein Wort mehr. Die Herren wurden lebhaft, sprachen von Pflicht und Gebot der Selbsterhaltung, der Graf zuckte bedauernd die Achseln, die Gräfin saß erstarrt. Deprimiert verabschiedete sich die Abordnung, einer der Herren sagte leise in der Tür: »Überall dasselbe.«

Kurz darauf erschien eine Abordnung des tschechisch orientierten Hochadels, zwei Herren aus Südböhmen, einer aus Nordböhmen, einer aus Mähren. Sie sagten, man müsse den Ereignissen vorgreifen, das tschechische Volk habe gestern seine Vertreter in die 125 Schweiz entsandt, bei den letzten Verhandlungen dürfe der böhmische Adel nicht fehlen. Die vier Herren hoben hervor, man habe sie mit Recht immer schon zu den Tschechen gezählt, sicherlich werde der neue Staat diese Tatsache anerkennen, aber gerade Graf Thun, unbeschriebenes Blatt, isoliert in der großen kaisertreuen Familie des ehemaligen Statthalters Fürsten Thun, wäre am Beratungstisch eine bedeutungsvolle Figur; gerade er, als Unpolitischer, im Grunde Desinteressierter, hätte die Eignung, namens der sehr bedeutenden unpolitischen Gruppe des Adels mitzusprechen. – »Laßt mich doch«, erwiderte der Graf, »ich tauge nicht zu solchen Geschäften, ich bin ein höchst ungeschickter Patron, nicht wahr, Alice?« Die vier Herren lächelten der Gräfin zu, sie ist ehrgeizig, ein Wort von ihr, und er wäre gewonnen. Sie bemerkte das Lächeln nicht. Sie sagte: »Wir sind ausgeschaltet, bien entendu.«.

Am Nachmittag des 28. Oktober versammelte sich eine freudig erregte Menge auf dem Marktplatz, die Kaufleute schlossen die Läden, aus allen Dörfern kam Zuzug, in Prag hatte man um elf Uhr die Republik ausgerufen, in alle Städte und Dörfer war die Nachricht telegraphiert und telephoniert worden. Max geriet in den Trubel, als er ahnungslos ins Schloß gehen wollte, er fragte: »Was ist los?« Vor dem Gebäude der Bezirkshauptmannschaft hatte man eine Feuerleiter befestigt, der gußeiserne Doppeladler wurde heruntergeholt und der Menge zugeworfen, sie zertrampelte ihn. Während Max zusah, entriß ihm ein halbwüchsiger Bursche blitzschnell die Offizierskappe, schnitt die Rosette ab und überreichte dem Verblüfften lachend den »126 gesäuberten Deckel«. Dupic lag im offenen Fenster und winkte der Menge mit einem weißroten Fähnchen, das er im September nach seiner Auslandsreise gekauft hatte, zu.

Im Schloß hatte die Dienerschaft den Auftrag, eindringenden Volksmassen keinen Widerstand zu leisten. Der Graf, die Gräfin, Allegra und Max saßen am Abend im Roten Saal. Allegras rosiges Gesicht war tränenfeucht, zweimal hatte sie zu entkommen versucht. »Nur auf fünf Minuten«, hatte sie gebeten, »nur auf eine Minute, einmal in hundert Jahren ist hier etwas los, und ich soll nichts davon haben!« Man hatte sie in ihrem Zimmer eingeschlossen. Nun saß man in dem stillen Saal und wartete. Der Graf meinte nach Mitternacht schüchtern, für heute sei wohl Schluß, man beabsichtige wohl nicht, dem Schlosse noch heute einen Besuch abzustatten. Die Gräfin schüttelte unwillig den Kopf. Allegra und der Graf schliefen im Sitzen ein. Max wollte sich verabschieden, die Gräfin betrachtete mißbilligend die Schlafenden, reichte Max die Hand zum Kuß, flüsterte: »Wenn sie doch gekommen wären, mit Gewehren und Bomben, es wäre mir sehr erwünscht gewesen.« Sie weckte den Grafen und Allegra und sagte: »Wir gehen schlafen.«



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