Ludwig Winder
Die nachgeholten Freuden
Ludwig Winder

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Hinter dem Schloßpark begannen die Felder, Dupic sah sie kaum an. Das sanft gewölbte Land gehörte ihm, alles was wuchs und sich dehnte in die Horizonte, er sah es kaum an. Er ging auch nicht seine Wälder besichtigen, sie lagen hinter dem nächsten Dorf – wenn er hie und da, wie in Dugosela, aus Gesundheitsrücksichten ausritt, beschränkte er sich auf die Reitallee im Schloßpark –, er wollte nicht den Wald und nicht die Felder sehen, sie interessierten ihn nicht. Er war wegen der Menschen nach Boran gegangen.

Auf Menschen ging er aus, ein Neues war in ihm. Jahrzehntelang war er überzeugt gewesen, niemand kenne die Menschen besser als er. Ein Mensch hatte ihm weniger bedeutet als ein Früchte tragender Baum oder eine Flasche Wein. Die Frau, mit der er vierundzwanzig Jahre gelebt hatte – es gab nichts über sie zu sagen, nichts, das Erinnerungen an sie wecken konnte. Sie hatte ihm gedient. Sie hatte ihm als junges Mädchen, als junge Frau diensteifrig Nacht für Nacht Lust bereitet. Vom Morgengrauen bis spät in die Nacht war sie Arbeitstier gewesen, ihre Arbeit in Feld und 78 Hof hatte den Diensteifer ihrer Umarmungen gehabt. Dann hatte sie ihm Jahr für Jahr die Kinder geschenkt, seltener waren die Umarmungen geworden, schlaff die üppigen Brüste, aber eine vorbildliche Arbeiterin war sie geblieben, noch in der Todesstunde hatten sich ihre Arme und Beine bemüht, rentable Sklaven zu sein. Das war die Frau. Mit den Kindern hatte er nie gespielt, kaum erwachsen, waren sie seiner strengen Zucht entlaufen, wenn sie Geld brauchten, kamen sie, forderten, bettelten, nie gaben sie etwas, immer nahmen sie alles, was sie erraffen konnten. Das waren die Kinder. Für die sollte man Interesse haben? Oder für fremde Leute etwa? War nicht ein Mensch wie der andre? Dumm und ehrlich oder verschlagen und diebisch, er kannte alle, er blickte ihre Augen oder nur ihren Nacken an und kannte ihre geheimsten Gedanken. Wie waren sie uninteressant, diese Tiere, diese Maschinen. Eines Tages aber war ein Neues da, im Wirtshaus von Dugosela, in der Stunde des Erkennens, als seine kapitulierenden Feinde ihn besiegt hatten, die alten Männer, das weiße Haar. Da geht man jahrzehntelang auf ein Ziel los – und das Ziel entfernt sich immer mehr. Erreicht man es aber, entpuppt es sich als toter Punkt, von dem man nicht mehr loskommt, als toter Mensch, der über den Lebenden triumphiert, und der Tote spricht zum Lebenden: Ich bin du. Gott spielt mit den Menschen, Gott lacht über menschliche Ziele. Gott läßt sinnlos das Meer stürmen und zwecklos unerschöpfliche Kräfte rasen, Gott ruft die Erdbeben zu ihrem wahnsinnigen Vernichtungswerk auf, Gott spielt mit derselben Unermüdlichkeit mit den Schicksalen der Menschen. Gott 79 langweilt sich nicht. Man muß trachten, Gott ähnlich zu werden.

Das war Dupics Glaube; seit er diesen Glauben hatte, war sein Interesse für Menschen wach. Er war nicht größenwahnsinnig, er wollte nicht die Welt beherrschen, in einem kleinen Kreis wollte er wirken. Einen kleinen Kreis der sinnlosen Schöpfung wollte er umspannen mit seinen ausgebreiteten Armen. Gab es aber einen Sinn der Schöpfung, den er nicht kannte, eine göttliche Weltordnung –: so wollte er hier, in Boran, in diesem kleinen Kreis, inmitten dieser gleichgültigen Menschen, einbrechen in diese Ordnung und eine eigene Ordnung schaffen, eine göttlich unvernünftige, göttlich chaotische Ordnung, erkennbar keinem außer ihm selbst.

Nach zwei Tagen kannte jedes Kind die hagere gebeugte Gestalt, die forschenden kleinen Augen. Vor den Läden saßen die Weiber und Greise und blickten dem fremden Manne nach. Sie hatten nichts zu essen, sie wußten, in dieser Stunde schießt man auf unsere Männer, auf unsere Söhne, wie waren die Weiber und Greise müde, in der Nacht hatten sie vor dem Bäckerladen einen Platz im Kot erkämpft, um am Morgen ungenießbares Brot zu erkämpfen, aber sie dachten nicht an die Männer im Feld und Hunger und Tod, sie dachten: Wer ist dieser fremde Mann? Der Schloßpark ist geöffnet, was haben wir davon, wir brauchen keinen Park, wir brauchen Brot, wir brauchen Frieden. Was will dieser Fremde? Ist es wahr, daß er den Park geöffnet hat, daß ihm jetzt das Schloß gehört? Niemand wußte etwas, der Rechtsanwalt und der Notar schwiegen, auch 80 Lehrer Buxbaum schwieg, seine Tochter wollte es. Sie glaubte nicht an Dupics »Gesellschaft«, er selbst ist die »Gesellschaft«, das war ihr erster Gedanke, was will er, was können wir von ihm haben? Sie hoffte, eine zweite Begegnung werde Klarheit bringen; einstweilen hielt sie es für ratsam, alles, was er dem Vater erzählt hatte, geheimzuhalten. Sie hoffte, obwohl sie die Unwahrscheinlichkeit einsah, der Fremde werde den andern Boranern gegenüber weniger vertrauensselig sein, vielleicht hatte er im Park einer augenblicklichen Laune nachgegeben, keinesfalls durfte man der Verbreitung der möglicherweise äußerst wichtigen Neuigkeiten Vorschub leisten.

Der Lehrer Buxbaum hatte zwei Kinder. Karl, der sechsundzwanzigjährige Sohn, war Ende 1915 in russische Gefangenschaft geraten, nach Ausbruch der Russischen Revolution hatte man nichts mehr von ihm gehört. Die Geschwister waren einander durchaus unähnlich; der Vater behauptete das Gegenteil. »Meine Kinder wollen hoch hinaus, wie komme ich zu solchen Kindern?« pflegte er zu sagen. Er wußte nichts von ihnen, er verstand sie nicht. Das Haus stand schmutziggelb und baufällig im Judenviertel, im ersten Stock war die einklassige Schule, im Erdgeschoß wohnte die Familie Buxbaum. Die Mutter war vor Kriegsbeginn gestorben. Sie hatte das Haus beherrscht. Morgens vor acht, wenn die Kinder in die Schule geströmt waren, hatte sie vor der Tür die Kinder im Zaum gehalten, ungeheuren Respekt verbreitend. Geduckt, lautlos waren sie vorbeigehuscht, unter tiefen Verbeugungen. Oben, in der Klasse, tobten sie sich aus; der Lehrer 81 vermochte sie nicht zu bändigen, sie johlten ihm entgegen, frech und hemmungslos. Ohnmächtig lauschte er dem Gedröhn; in jüngeren Jahren hatte er im Jähzorn zweimal in der Gesangsstunde seine Geige an der Wand zerschmettert, später war eine tiefe Resignation über ihn gekommen. Die Kinder tanzten, pfiffen, stampften, der Fußboden zitterte, da öffnete sich die Tür, die Frau trat ein, im Nu war Totenstille.

Nur fort, nur fort, einerlei wohin, hatten Karl und Elsa jahrelang Nacht für Nacht in die Bettdecke gebetet, gestammelt, er wußte nichts von ihr, sie nichts von ihm. Der Vater, in dem verhaßten Beruf sich aufreibend, war ruhiger als die Kinder. Die Jugend war vorüber, nun fand er sich mit allem ab. Grau und müde geworden, fühlte er sich fast glücklich. Nun wurde alles besser, sogar die Disziplin.

Bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr hatte Karl mit Elsa in einem dunklen Zimmerchen geschlafen, sie auf einem schmalen Kanapee, er auf dem Fußboden, noch jetzt sahen sie im Traum einander so liegen, im Nebenzimmer atmen die Eltern, die Mutter schimpft, der Vater ächzt, hinter dem Zimmerchen liegt dunkel der Hof im Regen, braune Pfützen, dort klatscht etwas auf, o still, es sind Ratten, an der Wand ist ein Knarren, o still, es sind Mäuse, o still, nicht schreien, sonst kommt die Mutter. Wie unwürdig das alles ist, denkt der Knabe, der nicht einschlafen kann, so muß ich leben, so muß ich heranwachsen, der Bursche, der neben mir im Gymnasium sitzt, hat einen großen Saal zum Schlafen, ein Bett, das größer ist als mein Zimmer, ein Badezimmer neben dem Schlafzimmer, am Morgen bringt man 82 ihm heiße Schokolade ins Bett, ein Fräulein muß ihm die Strümpfe anziehen. Und der Vater dieses Burschen, dieser dicke gemeine Mann, der jeden Dativ mit dem Akkusativ verwechselt, nickt gnädig, wenn der Vater tief den Hut vor ihm zieht, die Mutter lächelt devot, wenn wir an seinem Haus vorübergehen, der Vater läßt sich Zigarren von ihm schenken, o pfui, ich hab' es selbst gesehn, er wirft ihm nicht die Zigarren vor die Füße, er nimmt die Zigarren mit einer tiefen Verbeugung an und sagt: »Herzlichsten Dank für das kostbare Geschenk.« Ich hasse die Reichen, ich hasse diese gemeine, ungerechte Welt, jeder gerecht denkende Mensch muß die Reichen hassen, warum hassen meine Eltern sie nicht, warum lassen sie sich demütigen, warum, warum, warum?! Ich werde mich nie demütigen lassen, lieber verrecken, ich werde auch nie so ruhig schlafen können wie Elsa, wie glücklich ist sie doch, sie hört nicht die Ratten und Mäuse, sie sieht nicht, wie würdelos unsere Eltern sind, sie weiß nicht, wie schlecht es uns geht, wie schrecklich es ist, in einem solchen Haus geboren zu sein, sie schläft.

Aber Elsa schlief nicht, auch sie nicht. Als Vierzehnjährige lag sie nächtelang mit dem Gedanken wach: Nur fort, nur fort, einerlei wohin! Auch sie sah und hörte alles, aber sie empörte sich nicht gegen die Welt, sie dachte immer nur: Wie werd' ich mich befreien, wie lös' ich mich los von diesem Elend? Eines Tages begann Karl sie auszuforschen, er war achtzehn, sie sechzehn, am Tag vor seiner Abreise in die Universitätsstadt vertraute er sich der Schwester an, einmal wollte er sich einem Menschen anvertrauen, einmal herausschreien, 83 was er verschwiegen hatte in diesen vielen Jahren, er packte Elsas Schultern und schrie: »Wie kannst du so weiterleben, weißt du nicht, daß es würdelos ist, so zu leben, alles hinzunehmen, ohne sich zu empören?! Ich geh' nicht wegen des Studiums an die Universität, es gibt Wichtigeres als das Studium, ich will kämpfen gegen die Reichen, wir Jungen müssen kämpfen gegen die Reichen, alle, alle, willst du mithalten, sprich!« Sie antwortete nicht. Sie hielt nichts von solchen Kämpfen, sie wußte besser, was ihr nottat. Keiner kann dem andern helfen, jeder muß sich selbst helfen – und ich werde mir selbst helfen! Sie lernte Sprachen, Stenographie, Maschineschreiben, sie wollte eine Stelle in einer großen Stadt suchen, sich hervortun, sich unentbehrlich machen, da starb die Mutter, und alle Pläne waren begraben, den alten Vater konnte sie nicht verlassen. Dann kam der Krieg, der Bruder war gefangen, verschollen, der Vater wurde immer hilfloser, es gab keine Hoffnung mehr. Da erschien Dupic.

Sie vereinbarte mit dem Vater, niemand solle erfahren, was der Fremde im Park gesprochen hatte, sie wolle selbst mit Dupic sprechen, man müsse ihn einladen, einen Abend mit ihm verbringen, dann werde man alles wissen. Vielleicht ist er verrückt, sagte sie, sehr wahrscheinlich, daß er verrückt ist, welcher vernünftige Mensch gibt in diesen Zeiten ohne Gegenleistung, ohne Zweck und Sinn, fremden Menschen Geld! Eine kaufmännische Gesellschaft gewiß nicht. Das tut nur ein Verrückter. Ist er aber nicht verrückt, so reizt es mich erst recht, ihn kennenzulernen, laß mich nur machen. Der Vater fügte sich, lud Dupic ein. 84

Man saß an einem heißen Augustabend in dem schwülen Zimmer, Elsa wollte das Fenster nicht öffnen, kein Wort durfte auf die Straße dringen. Sie bewirtete den Gast mit Marmeladebrötchen. Etwas Besseres gibt es seit langer, langer Zeit nicht mehr, sagte sie lächelnd. Dupic nickte ihr väterlich zu und aß ein halbes Brötchen. Elsa lenkte vorsichtig das Gespräch auf die »Gesellschaft«, der Vater senkte schamhaft den Kopf, jede Zudringlichkeit war ihm peinlich, er fürchtete, Elsa werde zu weit gehen, was ging die »Gesellschaft« sie an, sie waren arme, aber ehrliche Leute, sie hatten sich bis heute recht und schlecht durchgeschlagen, so sollte es auch künftighin bleiben. Ein paar Zigarren als Geschenk von einem reichen Manne, das war keine Schande, das durfte man einem armen Lehrer nicht verübeln, aber in dunkle Geschäfte durfte man sich nicht einlassen, vielleicht machte der Fremde dunkle Geschäfte, das ist nichts für unsereinen, plötzlich ist man hineinverwickelt, man weiß nicht wie.

Dupic hörte Elsa wohlwollend zu und schwieg, sein Schweigen erregte sie immer mehr, immer unvorsichtiger fragte sie und beantwortete selbst alle Fragen, er blieb stumm. Eine Gesellschaft, die ohne Bürgschaft unverzinsliche Darlehen gewähre, das sei unmöglich, sagte sie, aber der Vater habe erzählt, es sei dennoch so, Herr Dupic sei von einer Gesellschaft tatsächlich beauftragt, jedem, der wolle, Geld hinzuschmeißen, so etwas habe man noch nie gehört, welchen Sinn könne das haben, welchen Zweck, vielleicht einen politischen, aber auch das könne man sich nicht vorstellen, die armen Menschen von Boran, was hätten sie mit Politik zu tun, 85 eine Gesellschaft mit politischen Absichten ginge wohl eher in eine Großstadt, dort könne man für Geld tüchtige, zu allem verwendbare Menschen bekommen, hier aber sei alles seit Jahren erschöpft, die Vorräte und die Menschen. Was also solle man von all dem halten? Treibe man vielleicht Spott mit dieser armen Bevölkerung? Das wäre ein Verbrechen.

Sie schwieg, der Vater hob den Kopf und blickte furchtsam den Fremden an. Dupic blinzelte ihm gutmütig zu, humoristisches Wohlwollen lag in dem Blinzeln, lassen wir sie reden, sagte das Blinzeln, es ist amüsant, ihr zuzuhören, wie könnte man ihr etwas verübeln, diesem hübschen, temperamentvollen Mädchen. Endlich brach er das Schweigen. »Der Regen fällt«, sagte er lächelnd, »und der ausgedorrte Boden ist nicht zufrieden damit, sondern fragt: warum, warum, warum fällt der Regen?« Er lachte gutmütig auf. »So ist es, mein kleines Fräulein. Lassen Sie den Regen fallen, kümmern Sie sich nicht um das Warum. Meine Tür steht jedem offen. Wer zu mir kommt, wird zufriedengestellt. Und niemand erfährt etwas. Niemand braucht sich zu schämen. Wer bedürftig ist, kommt, wer mich nicht braucht, kommt nicht. So ist es.« Er beugte sich vor: »Wenn Sie etwas brauchen, Herr Lehrer, Sie wissen, wo ich wohne.« – »Wir brauchen nichts«, stieß Elsa rasch hervor. – »Desto besser«, lächelte Dupic. Er stand auf, reichte dem Lehrer die Hand: »Stolz ist sie, das hab' ich gern, ein schönes Mädchen soll stolz sein.« Er reichte Elsa die Hand, nickte beiden pfiffig-wohlwollend zu, ging nach Hause.

Von diesem Abend an gab es keine Offenheit mehr 86 zwischen Vater und Tochter, immer dachten beide an Dupic, aber der Name wurde nicht ausgesprochen, beide stellten sich taub und blind. Dupic könnte uns helfen, dachten beide, aber der Tochter schwebte anderes vor als dem Vater, er ahnte es und schwieg furchtsam, jedes Wort war plötzlich gefährlich. Bald kommt der Herbst, der Winter, wir haben nichts mehr anzuziehen, sie nicht und ich nicht, dachte der Lehrer, Dupic könnte uns helfen. Sie ist blutarm, Milch ist unerschwinglich, Dupic könnte uns helfen. Jeder Gegenstand, den er anrührte, am Morgen die ausgefranste Hose, der schmutzige Selbstbinder, der gewendete Rock, die gesprungene Kaffeetasse, am Mittag der unvollkommen den Hunger stillende Teller, am Abend der stinkende Tabakersatz in der Pfeife, alles erinnerte an Dupic, alles mahnte, wisperte, raunte, schrie: Geh zu Dupic! Ein kleiner Betrag würde genügen, ein verhältnismäßig winziges Darlehen, wir haben ja keine Bedürfnisse, nur am Leben bleiben, nicht verhungern, nicht erfrieren, mehr wollen wir nicht.

Elsa tat, als ob sie nichts merkte, aber der Lehrer fühlte die Kontrolle der großen klugen Mädchenaugen, ihnen entging nichts, sie wußten alles, eine Aussprache hätte zu keiner Verständigung geführt. Sie ist stolz, dachte der Lehrer, im Grunde freut es mich ja ungeheuer, daß sie mir nachgerät, auch ich bin ja stolz, das heißt, ich wäre gern stolz, aber ein armer Mann kann sich solchen Luxus nicht leisten. Das aber würde sie nie begreifen, nie zugeben. Wenn ich einmal zu Dupic ginge, müßte ich es heimlich tun, sie dürfte es nicht erfahren. 87

Es fiel ihm auf, daß sie ihn jetzt ungern allein ausgehen ließ – es war geradezu, als ob sie jeden seiner Schritte bewachen wollte; und das war keine Einbildung, sie bewachte ihn wirklich.

Er konnte nicht ahnen, wie leidenschaftlich sie sich in den Gedanken verbohrt hatte, Dupic bedeute einen Wendepunkt in ihrem Leben. Sie wußte nicht, was sie von Dupic eigentlich erwartete, sie konnte sich kaum vorstellen, daß sie einmal zu Dupic gehen würde und etwas verlangen. Was verlangen? Geld? Das war wohl unmöglich; ein junges Mädchen kann nicht zu einem fremden Mann gehen und einfach Geld verlangen. Und überdies – Geld wollte sie eigentlich nicht, sie erwartete von Dupic mehr als Geld: Unabhängigkeit, ja, das war es, Unabhängigkeit, die Erfüllung des großen Traums. Wer aber Geld verlangt, erringt nicht Unabhängigkeit, sondern opfert sie. Je mehr Geld man verlangt, desto gründlicher wird man abhängig. Das war das unlösbare Problem.

Der Vater durfte Dupics Hilfe nicht in Anspruch nehmen, das stand fest. Er mit seiner Bescheidenheit würde alles verderben. »Was für ein Glück, daß wir diesen Dupic nicht brauchen«, sagte sie zum Vater, »ich weiß nicht warum, aber ich kann mir nichts Schrecklicheres vorstellen, als von diesem Menschen abhängig zu sein.« – »Das kann ich verstehn«, erwiderte der Vater, »aber eigentlich« – er stockte –, »eigentlich könnten wir eine kleine Aushilfe schon brauchen, du hast ja nichts mehr anzuziehn, wär' es nicht hübsch, wenn du zum Beispiel einen neuen Wintermantel bekämst?« – »Mein alter Mantel ist noch ganz gut«, sagte 88 Elsa, »es ist Krieg, es ist nicht die Zeit, große Ansprüche zu machen. Aber selbst wenn mein Wintermantel in Fetzen zerfiele und selbst wenn wir beide frieren und hungern müßten, zu Dupic darfst du nicht gehn. Wir haben bis jetzt alles überstanden, wir werden uns auch weiterhin durchfretten, ewig kann der Krieg ja nicht dauern.«

Während sie den Vater auf solche Art zu hypnotisieren versuchte, gingen kühne Gedanken ihr durch den Kopf. Etwas Großes mußte man versuchen, etwas Ungewöhnliches, sagte sie sich. Mit den gewöhnlichen Mitteln ist nichts Entscheidendes zu erreichen. Man müßte sich dieses Dupic bemächtigen: das müßte ich versuchen, das werde ich versuchen. Vor allem aber müßte man wissen, wer er ist, ob alles ernst zu nehmen ist, was er spricht, vielleicht ist alles dummes Gerede, vielleicht ist er ein lächerlicher Großtuer.

Der Lehrer gehorchte seiner Tochter und erzählte keinem Menschen von Dupics Absichten. Schon nach wenigen Tagen wußte Elsa, daß diese Vorsicht sinnlos war. Eines Abends sah sie einen jüdischen Gemeindeangestellten bei Dupic anklopfen. Der Vater zupfte sie am Ärmel: »Hast du gesehn? Mandler ist zu Dupic gegangen.« Elsa antwortete nicht, aber es ergab sich von selbst, daß Vater und Tochter auf dem Marktplatz stehenblieben, den Blick auf Dupics Haus, bis Mandler, vorsichtig wie ein Dieb, das Haus verlassen hatte. Dann fragte der Lehrer, ob Elsa schon nach Hause wolle, sie antwortete nicht, es ergab sich von selbst, daß sie weiterpromenierten, den Blick auf Dupics Haus. Plötzlich sagte der Lehrer: »Der alte Kocourek geht jetzt hinein.« Fünf Bewohner von Boran besuchten an diesem 89 Abend Dupic, der letzte Besucher, ein Nachbar des Lehrers, der tief in Schulden steckte, nahm, nachdem er Dupics Haus verlassen hatte, einen Briefumschlag aus der Brusttasche und zählte Banknoten.

»Das ist doch unglaublich«, sagte Elsa, »der alte Narr wirft tatsächlich sein Geld zum Fenster hinaus. Von den fünf Leuten, die heute bei ihm waren, bekommt er keinen Heller zurück.« – »Gestern waren auch schon einige bei ihm«, erzählte der Vater, »sogar jemand, der es nicht nötig hätte, der Bäcker Vitrofsky, der gewiß nicht Not leidet, hat sich tausend Kronen geben lassen, er hat es selbst erzählt, warum auch nicht, Darlehen ohne Zinsen, wo gibt es das noch?« – »Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte Elsa. »Vorsicht, Vater, ich rate dir gut, laß dich nicht einfangen wie die andern, Gott weiß, was dabei herauskommt, vielleicht ein Verbrechen, im Krieg ist alles möglich.« Der Vater nickte; vielleicht hatte sie recht. Aber um seine Ruhe war es geschehen, in dieser Nacht konnte er nicht einschlafen. Elsa wälzte sich die ganze Nacht unruhig in ihrem Bett, einigemal stand sie auf, ging unruhig auf und ab, der Vater im Nebenzimmer hörte sie sprechen, murmeln, er lauschte, es war kein Wort zu verstehen. »Fehlt dir etwas, Elsa?« rief er. Sie antwortete nicht, kroch leise ins Bett, lag regungslos mit offenen Augen bis zum grauenden Morgen. 90

 


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