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XX

»Nun, Tobias,« sagte Jons, »jetzt sind wir also so weit: ›Wo du stirbst, da sterbe ich auch; da will ich auch begraben werden.‹«

Das Reich war noch einmal gewachsen und hatte ein fremdes Volk in seine Grenzen gezwungen, und selbst Jons erkannte nun, daß der Herr von Balk ein Prophet gewesen war. Er erkannte auch, daß dieses das letzte Volk gewesen war, das sich nicht gewehrt hatte. Der Mond sei unbewohnt, hatte Balk gesagt, aber die Erde sei bewohnt, und nun würde also die bewohnte Erde gegen diejenigen aufstehen, die fremde Türen aufbrachen, um auch in der Fremde zu Hause zu sein. Es könnte heute oder morgen sein, aber der Wegweiser stand schon aufgerichtet über der Welt, und auch seine Schrift war nun schon für jedermann zu lesen, der Schicksalsschrift lesen konnte.

»Hast du gedacht«, fragte Tobias, »daß die Lüneburger Heide weiter von Gott entfernt sei als das Dorf Sowirog? Auch auf den Flügeln der Morgenröte können wir ihm nicht entgehen.«

»Aber wir wollen ja gar nicht ihm entgehen, Tobias. Wir wollen nur dem entgehen, was sie ohne unsre Schuld über uns bringen.«

»Und weißt du, Jons, daß das zweierlei ist? Gott und ›sie‹? Und weißt du, daß es ohne unsere Schuld ist?«

»Willst du sagen, daß Gott und sie dasselbe sind?«

»Ich will sagen, daß er sich ihrer bedient, Jons. Auch der Kriegsknechte hat er sich bedient, als das Kreuz aufgerichtet wurde. Auch der Schlange hat er sich bedient, als der Garten Eden verloren wurde. Wenn er sich ihrer nicht bediente, Jons, würden sie nicht so groß und mächtig sein. Sie würden kleiner sein, und wir brauchten sie nicht zu fürchten ... Und was ist das, ›ohne unsre Schuld‹? Weißt du das? Dieses wenigstens können wir wissen, daß Blut in unsrem Dorf geflossen ist, und wir haben nicht auf seinen Richterspruch gewartet. Wir haben selbst gerichtet.«

»Würdest du gewartet haben?«

»Ja, ich würde wohl gewartet haben, Jons. Und nun warte ich auch auf das andere. Und deshalb tut es mir auch nicht leid, daß ich damals über das Buch Ruth gepredigt habe. Auch wenn ich über das Buch Josua gepredigt hätte oder über ein anderes, würden sie nicht gegangen sein, Jons. Es war längst beschlossen bei ihnen, und ich habe sie nur ruhig gemacht. Weshalb hätte ich sie unruhig machen sollen? Diese können nicht fortgehen, Jons. Alle anderen mögen es können, diese nicht. Und wenn sie einmal fortgehen müssen, wird es ihnen immer sein, als hätte Gott sie fallen lassen aus seiner Hand. Sie werden verloren sein, Jons, ganz und gar verloren. Ein Tod in Gott ist besser als ein verlorenes Leben.«

Jons erwiderte nichts. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und blickte auf das Dorf, an dessen Zäunen die Fliederbüsche nun wieder grün wurden.

»Sorge dich nicht, Jons«, sagte Tobias leise und legte den Arm um seine Schultern. »Sieh, Reiche sind nie ewig, aber Dörfer können ewig sein. Verbrannte Reiche stehen nicht mehr auf, so wie Karthago nicht mehr aufgestanden ist. Aber verbrannte Dörfer können immer wieder aufstehen. Gott kann sie in andere Hände legen, würdigere oder unwürdigere. Er kann das Eigentum auslöschen, er kann sogar den Namen auslöschen. Aber er löscht nicht die Dörfer aus. Sie sind eingeschrieben bei ihm, und er bewahrt das Eingeschriebene.«

Noch einmal fragte Jons das Mädchen, ob es nicht fortgehen wolle. Aber es lächelte nur. Es kniete auf der Erde und wies mit der braunen Hand auf die Blätter der Tulpen, die aus dem welken Laub herauskamen. »Soll ich das allein lassen?« fragte es. »Ist es nicht so, als ob du Kinder allein lässest?«

In diesem Frühjahr starb Kiewitt, der zweite aus der Reihe der Alten. In Maschlankas Lautsprecher dröhnten die Märsche und Lieder, mit denen Soldaten über eine fremde Grenze marschierten, aber sie drangen nicht über den Wald, hinter dem die Hütte an dem armen Acker lag. Hier war der Frieden der Erde. Die Bäume rauschten wie immer, und die Lerchen hoben sich aus der dünnen Saat in den blauen Himmel empor. Der Meilerrauch stieg über den Wald, und alles war, wie es vor fünfzig oder hundert Jahren gewesen war. Die Hand der Mächtigen hatte nicht bis hierher gereicht. Was rings um die Hütte lag, hatte Kiewitts Hand geschaffen, sein Pflug, sein Spaten, der Schweiß seiner gefurchten Stirn. Kein Paradies, keine Kornkammer, keine goldene Schale der Fruchtbarkeit. Ein einfacher Mann im Dienst der Erde, der Gesichte gehabt hatte und zweimal getauft worden war, aber der den Acker ohne Gesichte gepflügt hatte, weil es im ersten Buch Mose so befohlen worden war. Der Pflug stand noch am Rande des Feldes, am Ende der letzten Furche, die er für die Sommersaat gezogen hatte, und das Pferd stand dahinter zwischen den jungen Birken und hob von Zeit zu Zeit den fahlen Kopf, um nach der Hütte zu sehen, aus deren Schornstein kein Rauch stieg.

Niemand war bei Kiewitt als Erdmuthe, ein stiller Schatten, der noch stiller geworden war seit Michas Tat. Von allen, die das Schicksal gebeugt hatte, war sie die einzige, die sich nie wieder aufgerichtet hatte. Sie arbeitete und lächelte und sprach, aber fern von den Menschen, in einem anderen Reich, einem vergangenen, in dem immer noch Michael auf der Schwelle der Meilerhütte lag und auf den ersten Schrei seines Sohnes wartete, um sterben zu können.

Und dann, als es zu Ende ging, war Jons viele Stunden da und die ganze letzte Nacht. Es gab keine Hilfe für das müde Herz, aber es gab Linderung für die Atemnot und die Schmerzen. Kiewitt hatte einen schweren Tod, aber nur den des Leibes, nicht den der Seele. Seine Seele war gewiß und bedurfte keiner Hilfe.

Das Fenster der Hütte war klein und blind, und sie hatten das Bett an die Tür gerückt, so daß die Waldluft hinein konnte und Kiewitt das grüne Feld sehen konnte. Da lag er nun still und ließ die großen hellen Augen hinausgehen über das, was er sehen konnte. Mitten in dem Ausschnitt der Tür stieg der Meilerrauch still über den dunklen Wald.

Er sprach wenig, aber er ließ es gern zu, daß Jons seine Hand hielt. Er lag auch ruhig, wenn die Atemnot ihn nicht bedrängte. Seine Seele ging wohl schon in die Schatten ein, denn um die Mitte der letzten Nacht begann er leise zu sprechen, aber seine Augen waren weit zu den Sternen aufgeschlagen, die über dem Walde funkelten. »Und ich sah, und siehe, eine weiße Wolke ...«, begann er.

Das kannte Jons, und er hörte wie von ferne zu.

Aber dann wurde es anders, als es in der Offenbarung geschrieben stand, und nun beugte Jons sich über das Bett und lauschte dem letzten Gesicht, das von den Lippen des Sterbenden kam. Es war wohl kein neues Gesicht für Jons, aber es schauerte ihn doch in der Stille der Nacht vor den Bildern, die den kleinen Raum erfüllten. Erdmuthe hatte den Kopf in ihre Hände auf den Tisch gelegt und schlief, und es war nichts zu hören als der leise Gang der alten Schwarzwälder Uhr und das Flüstern des Entrückten. Und es war, als teile der Schlag des blinden Pendels die Gesichte in Verse und Kapitel ein, ganz wie in der Offenbarung, und als stehe an jedem Anfang das große, uralte Wort: »Und ich sah, und siehe ...«

Alles stieg aus dem Meere auf, das um Patmos geblaut hatte oder aus dem See, der sich vor Sowirog breitete. Tiere und geflügelte Wesen, Feuer und Rauch, Blut und Plagen. Aber zuletzt doch das Lamm und das geöffnete Siegel, aber es war nicht zu erkennen, wessen Augen übrigbleiben würden, um die letzte Schrift zu lesen. Und Jons wollte es auch nicht erkennen. Sein Gesicht war so blaß wie das des Sterbenden, und er sah über ihn hinweg auf den schwarzen Wipfelsaum, über dem die erste Frühe sich rötlich abzeichnete und über dem nun immer deutlicher die weiße Säule erschien, die aus dem Meiler stieg.

Der Puls wurde immer leiser, und Jons drückte seine Finger fester in die kühle Haut, um ihn nicht zu verlieren. ›Wie ein Schatten über der Erde ...‹, dachte er müde.

Der Wiedehopf erwachte, die Turteltaube in den Erlen am Fließ, der Kiebitz, der dem Sterbenden seinen Namen gegeben hatte. Das Morgenrot wuchs und flammte, und Jons dachte, daß es schön sein müsse, so in dem zu sterben, in dem man siebzig oder achtzig Jahre gelebt hatte. Er sah die Spritze neben sich auf dem Schemel liegen, auch sie nun rötlich bestrahlt vom wachsenden Licht, und die kleine Flasche mit Kampfer, und es kam ihm gering und töricht vor, mit ihr gegen das Große anzugehen, das nun vor der Tür stand, den Wechsel vom Morgen und Abend, den betauten Acker, die verblassenden Sterne, das Ewige der Erde, an dem dieser Mann seinen Anteil gehabt hatte.

Er beugte sich vor, aber Kiewitts Augen waren immer noch weit aufgeschlagen, auch sie von dem rötlichen Schein erfüllt wie ein schweigendes Wasser im Walde, und um seine Lippen lag die Heiterkeit des letzten Wissens. »Er hat sie ausgerenkt, Jons«, flüsterte er, »und hat sie wieder eingerenkt ... fürchte dich nicht ...«

Der Puls schlug noch ein paarmal zu und verstummte dann.

Als Jons aus der Tür trat, stand das weiße Pferd an dem niedrigen Zaun an dem kleinen Hofplatz und sah ihn an. Tau lag auf seiner Mähne und seinem Stirnhaar, aber darunter waren die Augen dunkel und groß. Augen wie die anderer Tiere, aber Jons war es, als wüßten sie um alles, auch um den Tod, der dort drinnen zu Häupten Kiewitts stand, und er ging schnell durch den Wald auf die Meilerhütte zu.

Über das, was er in dieser Nacht gehört hatte, sprach er zu niemandem.

Für das Dorf Sowirog war Kiewitts Tod mehr als jeder andere. Er war das Ende einer Zeit, ja, vielleicht war er das Ende der Zeit überhaupt. Er hatte ferne von ihnen gelebt, aber eben aus dieser Ferne war die Stimme erst deutlich vernehmbar geworden, für die er nur ein Gefäß gewesen war. Er hatte einen anderen Glauben gehabt und vielleicht auch einen anderen Gott, aber es konnte sein, daß dies der Gott der Vorzeit gewesen war, der Gott der Wüste, der eine Feuersäule zur Nachtzeit war. Auch Jakob war bei den alten Propheten zu Hause gewesen, wie Stilling oder Piontek es bei den Patriarchen waren, aber Kiewitts Ursprung reichte weiter zurück, in die graue Urzeit, als der Geist Gottes noch über den Wassern schwebte. Der Pfarrer war in den Evangelien zu Hause, und das war gut und tröstlich für Leben und Sterben und schwere Zeit. Aber wenn das Tier aus dem Meere aufstand, war es gut, jemanden zu haben, dessen Augen so aussahen, als ob sie noch das Urmeer gesehen hätten. »Spannt an, Leute!« hatte er gerufen. »Spannt an!« Aber nun war es zu spät zum Anspannen, und sie wollten es auch nicht. Sie spannten nur die vier kleinen Pferde vor den Wagen, weil es zu weit war, den Fichtensarg aus dem Walde zu holen.

Die Sonne schien warm, und die Sprosser am schwarzen Fließ waren deutlich über den See hinweg zu hören. Sie warfen den Sand auf das helle Holz, und Stilling bedachte, wie viele Hände mit diesem weißen, warmen Sand er wohl in seinem langen Leben auf die Särge von Sowirog hatte fallen lassen.

Und dann, als sie sich umgewendet hatten und den Friedhof verließen, erschraken sie alle, und auch der Herr von Balk zog die grauen Augenbrauen hoch. Denn unter den Fliederbüschen, die sich über die niedrige Feldsteinmauer neigten und schon blühten, stand Kiewitts Pferd, hatte die Ohren zurückgelegt und blickte über die Mauer hinweg auf den niedrigen Hügel, auf dem die Kiefern- und Fliederkränze lagen. Sein Haar war ungepflegt, die Mähne wie in Zöpfen geflochten, und das Fell lag in Falten über dem mageren Leib. Aber nicht das war das Unheimliche an ihm, sondern die starre Unbeweglichkeit, in der es dastand, und daß es nicht einmal den langen, bis zur Erde reichenden Schweif hob, um die Fliegen zu vertreiben, die auf dem fahlen Fell saßen.

Sie wagten nicht, es zu vertreiben. Sie gingen mit scheuen Blicken an ihm vorüber, und noch auf der Dorfstraße, ehe sie in ihre Häuser traten, drehten sie sich um und sahen es dort stehen.

»Wie ist es mit der sogenannten Apokalypse, Jons?« fragte Herr von Balk. »Wenn der Himmel die Pferde schickt, wird es wohl Zeit werden. Pferde sind kluge Tiere ...«

Bei Tage war es nun nicht mehr zu sehen, außer in den Moorwiesen um Kiewitts Hütte. Aber bei Nacht sahen sie es nun auf dem Friedhof stehen, am Rande der Gräber, und das kümmerliche Gras weiden, das an der Mauer wuchs. Sie versuchten es zu vertreiben, aber es kam immer wieder, wenn auch nur unter die Fliederbüsche, und dort ließen sie es nun. Sie konnten es nicht einfangen, und wenn sie es umstellten, legte es die Ohren zurück und zog die Lippen von den alten, gelben Zähnen. »Wie ein Teufel sieht es aus«, sagte Piontek böse und drehte sich um.

Vor der Morgendämmerung aber hörten die Leute von Sowirog einen schweren, langsamen Hufschlag auf der Straße, der vom Friedhof herkam und dem Walde zuging. Und es hörte sich an, als ginge ein schweres und schwerbeladenes Pferd Schritt für Schritt unter seiner Last durch die Nacht.

Dann wachten die Kinder auf, faßten einander bei den Händen und flüsterten: »Kiewitt geht heim ...«

Johannes sorgte nun neben dem Meiler auch für Kiewitts Acker. Aber er schlief mit Micha in der Meilerhütte, und jeden Abend sah er nach dem Schwanenhals, den er in dem unterirdischen Gang aufgestellt hatte.

Wolken über Wolken, die lautlos über den Horizont stiegen und mit fahlen Rändern auf Sowirog und die Erde blickten. Kein Hagel, kein Donner, kein Regen, nur die schweigende Wand, von der Sonne gesäumt. Das Korn wuchs und die Beeren reiften, aber am Sonntag ließen die Männer die Ähren nachdenklich durch die Hände gleiten und blickten von den sandigen Hügeln auf die grauen Dächer hinunter, über denen der Rauch der Schornsteine stand. Schon einmal war es so gewesen, und sie erinnerten sich wohl. Würde es wiederkommen, und wie oft würde es wiederkommen? Weshalb legte Gott das Schicksal in Menschenhand, in weniger Menschen Hände? Weshalb nicht in eine Pfarrerhand oder in eine Doktorhand? Die wußten, was der Tod ist, und noch mehr, was das Leben ist?

Die Glocken riefen den Abend ein, und sie nahmen die Mützen ab und lauschten, bis der letzte Ton verklungen war. Im Osten war der Himmel dunkel über den Wäldern, und dort würden wieder die Feuer brennen. Das wußten sie schon.

»Nun ist es da, Jons«, sagte der Herr von Balk, und auch er sah nach Osten. »Wenn die Zeitungen und die Lautsprecher verkünden, daß die hilflosen Greise und die schwangeren Frauen durch die Wälder irren, dann ist es da. Dann kann es noch ein paar Wochen dauern, aber es ist da. Hast du schon einmal einen dieser Greise irren sehen? Ich nicht. Müssen sich so verirrt haben, daß keines Menschen Auge sie mehr erblickt.«

»Und was wird kommen, Herr von Balk?«

»Das Ende, Jons, das allerletzte Ende. Diesmal werden uns die Augen übergehen, anders als im vorigen Krieg. Diesmal stehen ›sie‹ dahinter, und wer sie sind, das könnten wir ja nun begriffen haben in zwölf Jahren ... Aufrecht wollen wir es bestehen, Jons, aufrecht. Damit die armen Leute sich ein bißchen an uns halten können, nicht wahr? Aufrecht leben und aufrecht sterben, das ist ein großes Schicksal, Jons. Für große und für kleine Leute.«

Das Dorf brachte eine reiche Ernte ein, die reichste, an die es sich seit langer Zeit erinnern konnte. Und als sie an einem Sonnabend um die letzten Garben standen und die Männer die breiten Hüte abnahmen und sie wie sonst in ihrer Heimatsprache das Lied sangen: »Ach, bleib mit deiner Gnade ...«, indes sie die einzelnen Ähren zum Strauß und zur Krone herauszogen, war es Jons und allen anderen, als hätte es noch niemals so feierlich über die Felder geklungen. Und auch dem Herrn von Balk mochte es so klingen, denn er sah lange auf die gelben Ähren nieder, die die Mädchen ihm reichten, als sei diesmal etwas Besonderes daran zu sehen, und als er sie endlich nahm und ›Danke!‹ sagte und den beiden die Wangen streichelte, waren seine Augen auf eine besondere Weise mit dem abendlichen Licht erfüllt, und beide Mädchen sagten später, es sei ihnen wie vor dem Altar gewesen, und eines, Gonschors Enkelkind, sagte sogar, es sei gewesen, als habe der Herr von Balk das Abendmahl empfangen.

Aber sie sagten es später, nachdem ein paar Wochen vergangen waren, und es konnte sein, daß sie nachträglich darauf gekommen waren, weil das Schicksal sie an diese Stunde erinnert hatte. Denn jetzt sagten sie nur, daß er ›wunderlich‹ gewesen sei.

Aber das war er nun im allgemeinen geworden, denn am späten Abend, als sie vor dem Jeromin-Hause saßen, sah er Micha und Johannes einmal fragend an, und als sie kaum merklich ihm statt einer Antwort zunickten, verkündete er, daß er sich nun wieder etwas »ausgedacht« habe. Keine Reise in die Lüneburger Heide oder zum Mond, wie damals, sondern nur eine kleine Fahrt auf die Insel, wo der Ahnherr dieses alten und schönen Hauses im Feuer gen Himmel gefahren sei. Dort möchte er noch einmal mit ihnen, ehe das zweite und letzte »Stahlbad« komme, das Erntefest richtig feiern, und dazu lade er sie alle ein. Wen er nicht einlade, wüßten sie so gut wie er. Und er denke, daß sie nach der Kirche auf ihren Kähnen alle hinüberfahren sollten, alt und jung, und sein eigener Kämmerer werde solange das Dorf bewachen. Und er möchte gern, daß sie alle Kähne mitnähmen, auch die überflüssigen, damit kein ungebetener Gast sich einstelle, denn mit Gästen hätten sie ja nicht immer die besten Erfahrungen gemacht. Und er werde für alles sorgen, Notdurft des Leibes und der Seele, und sie brauchten nichts anderes mitzubringen als ein fröhliches Herz. Denn dieses möchte er auf seine alten Tage gern noch einmal sehen: das fröhliche Herz des Dorfes Sowirog, das noch alles überstanden habe, was das Schicksal ihm zugedacht hatte, und das auch alles Kommende überstehen solle.

Die Leute wunderten sich, aber es war eine fröhliche Verwunderung, und als sie die halbe Nacht hindurch das Knarren von Wagenrädern hörten, leise Zurufe, und den Ton von vielen Rudern, die gegen Kahnwände schlugen, standen sie nicht auf und sahen nicht aus den Fenstern, denn sie wollten sich überraschen lassen und dem Herrn von Balk nicht die Freude verderben.

Der Tag war warm und ohne Wind. Ein paar Birken auf dem Moor begannen sich schon zu färben, die roten Vogelbeeren leuchteten, und der Altweibersommer zog mit langen weißen Fäden über die stillen Felder.

Sie besorgten alles Vieh, weil es in den Ställen blieb, und gingen dann zur Kirche.

Tobias predigte über das dunkle Wort aus dem Evangelisten Lukas: »An demselbigen Tage, wer auf dem Dache ist, und sein Hausrat in dem Hause, der steige nicht hernieder, denselbigen zu holen. Desselbigengleichen, wer auf dem Felde ist, der wende nicht um nach dem, das hinter ihm ist.

Gedenket an des Lots Weib!

Ich sage euch: In derselben Nacht werden zween auf einem Bett liegen; einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.

Zwo werden mahlen miteinander; eine wird angenommen, die andere wird verlassen werden.

Zween werden auf dem Felde sein, einer wird angenommen, der andere wird verlassen werden.«

Er legte es nicht aus, so daß jedes Kind es verstanden hätte. Er sagte nur, daß sie angenommen werden würden, und wie er es sich denke, daß es geschehen werde. Er sprach auch nicht vom kommenden Kriege. Er sprach auch nicht von den »Verlassenen«.

Sie gingen still aus der Kirche, und es war ihnen, als habe ihr Pfarrer sie nicht alles wissen lassen, was er wußte. Aber es war ihnen genug, daß er sie »angenommen« hatte, und da er ein Diener Gottes war, so würde wohl auch Gott sie annehmen, wenn es an der Zeit wäre.

Sie hatten sich vieles erwartet von diesem Tag, aber nun war es doch so, daß Sowirog einen solchen Tag noch nicht erlebt hatte. Die mächtige Hand des mächtigen Herrn von Balk hatte sich so weit geöffnet, daß es wie ein Zauberregen auf sie niederfiel. Nur aus den Märchen der Spinnstuben kannten sie das, was sie hier sahen. Unter den alten Eichen hinter der Hütte waren Schnüre gespannt, an denen bunte Lampen hingen. Ein Tanzboden war aufgeschlagen, Würfel- und Schießbuden, Zelte und eine kleine Kegelbahn. Große Sträuße mit fremdartigen Blumen standen in altertümlichen Krügen, und in einem der Eichenäste hing der silberne Käfig, in dem der Papagei saß, alt und mißmutig nun, aber sein Gefieder glänzte noch immer wie das eines Paradiesvogels.

Am Ufer entlang brannten die Feuer, in denen die Kaffeekessel kochten, und vor einem großen Holztisch, mit Gebäck und Süßigkeiten beladen, stand Maria so still und lächelnd wie an ihrem Herd, als könnte sie nun erst das große Märchen erzählen, zu dem die anderen nur eine Einleitung gewesen waren.

Aber das ungeheuerlichste für sie waren doch die Kälber, die an Spießen über den offenen Feuern hingen. Ganze, ungeteilte Kälber, von denen der Saft zischend in die Flammen tropfte, und einer und der andere von ihnen hatten in der Kinderzeit gehört, daß an Fürsten- und Königshöfen solche Dinge geschehen waren, wenn eine Hochzeit gefeiert worden war. Und von da gingen ihre Augen zu dem feuchten Ufersand, aus dem die Hälse vieler Flaschen herausragten, schlanke Hälse mit bunten Siegeln auf den Korken, und breite irdene, wie sie sie mitunter in der Stadt gesehen hatten und in denen das richtige Feuerwasser verborgen war.

Zuerst standen sie stumm, und viele der Alten falteten die Hände, aber dann, als es nicht verschwand, wie die Bilder einer Laterna magica, sondern dablieb, die Insel, die Eichen, die Zelte und die Kälber, als der Herr von Balk die Arme öffnete und sie heraufkommen hieß vom Ufer, in den Schatten und zum Morgenkaffee, da stießen sie einander verstohlen an, und manche faßten sich bei den Händen, um mehr Mut zu gewinnen, und Piontek war der erste, der mit seiner Ringschleuder tapfer den grünen Hang hinaufstieg. »So werde ich wohl nun bald in die Grube fahren, gnädiger Herr«, sagte er und nahm die Mütze ab, »denn solches kommt nicht umsonst und hat seine Bedeutung. Und vielleicht war es dies, was die Rohrdommeln gemeint haben, als sie dieses Jahr gerufen haben wie noch nie zuvor.«

»Allons enfants!« schrie der Papagei plötzlich und schlug seinen Schnabel in die silbernen Gitterstäbe.

Und da mußten sie alle lachen, und nun war es erst, als ob sie zu Hause wären.

Der Herr von Balk aber, in weißen Hosen und Schuhen und einer blauen Jacke, atmete ein bißchen auf und zündete sich seine erste Zigarette an, denn selbst er hatte nicht genau gewußt, wie es mit den Leuten von Sowirog auf diesem Erntefest gehen würde.

Aber nun ging es »ganz fermost«, wie Piontek sagte.

Sie lagen im warmen Sand oder in dem kurzen, trockenen Moos, das in der Sonne duftete, und aßen und tranken. Sie standen auf und gingen umher, betrachteten die wunderbaren Dinge, würfelten und schossen und kamen zurück, die Preise in den Händen. Oder sie standen wieder eine Weile am Ufer, blickten zu ihrem stillen Dorf hinüber und meinten, daß sie träumten. Aber in der Hauptsache aßen und tranken sie. Die Erntezeit war schwer gewesen, vom Aufgang bis zum Untergang der Sonne, und sie waren an keine Festtafeln gewöhnt. Aber es war doch erstaunlich, was sie essen und trinken konnten, und manchmal sahen sie zum Herrn von Balk hinüber, ob es ihm nicht zuviel sei, was sie hier leisteten. Aber es war ihm nicht zuviel. Er lächelte nur, und manchmal hielt er eines der Kinder zwischen den Knien und fütterte es. Ein verdorbener Magen war ein Unglück, das bald vorüberging. Das wußte er. »Die Freude der Stunde ist eine kurze Freude, Jons«, sagte er. »Aber wissen wir, wie viele Jahre sie daran zurückdenken werden? Laß sie essen, Jons. Wozu haben wir einen großen Arzt im Dorf?«

Er ging von einer Gruppe zur andern, saß ein bißchen bei ihnen und stand wieder auf, und manchmal strich er einer der jungen Frauen über das Haar und sah mit ernstem Gesicht auf das Erröten nieder, das die braunen Wangen langsam färbte. »Ich war euch wohl kein harter Herr, Leute«, sagte er nachdenklich. »Die Heutigen werden es anders mit euch machen. Aber ich hatte doch ein Herz ... auch ein Habicht kann ein Herz haben.«

Dann lag er wieder still und für sich allein unter den Eichen, die Hände unter dem Kopf, und sah zu dem grünen Dach auf, in dem schon die Früchte hingen. »Das ist nun wohl doch das schönste ›Liebesmahl‹, das ich in meinem Leben gefeiert habe«, sagte er zu Jons, der sich zu ihm in das Moos setzte.

»Und weshalb tun Sie das, Herr von Balk?« fragte Jons leise.

»Ach, Jons Ehrenreich, du Grübler aus dem Eulenwinkel, weil wir alle Verurteilte sind. Hast du das noch nicht gemerkt?«

Der Wachtelkönig rief aus den Haferfeldern, die noch nicht geschnitten waren, und er hörte eine Weile zu. »Es klingt, als ob sie das Beil schärfen, Jons«, sagte er. »Und weshalb sollten wir weinen, solange wir fröhlich sein können?«

Auch Jons lauschte dem eintönigen Gesang, der schon dagewesen war, als sie noch in der Kinderzeit in der Kammer geschlafen hatten. Der Gesang der armen und beständigen Erde, der in der Erinnerung mit dem schönen Ton zusammenfloß, mit dem am Morgen die Sensen rings um das Dorf geschärft worden waren. »Und wenn wir nun den Krieg gewinnen, Herr von Balk?« fragte er leise.

»Eben deshalb sage ich ja, daß wir alle Verurteilte sind, Jons. Nur in diesem Falle werden wir zum Tode verurteilt sein. Im anderen Falle können wir noch zu einem kümmerlichen Leben verurteilt werden. In diesem aber ist es der Tod. Der Tod der Herren und der kleinen Leute. Oder wie denkst du, wird die Welt aussehen, wenn die Gottholds und Maschlankas über Städte und Dörfer gesetzt werden? Laß sie essen und trinken, Jons. Sie haben ihr Leben lang gehungert und gedürstet. Nicht nur nach der Gerechtigkeit, wie das schöne Traumbuch sagt. Sondern auch nach diesen Dingen. Hör zu, wie sie die Messer schärfen auf den Feldern, und dann laß uns fröhlich sein, solange wir auf einer Insel sind.«

Aber er war wohl nicht ganz fröhlich, der große Herr von Balk. Nicht in seinem Herzen. Seine Lippen lächelten, und sein Mund scherzte, aber seine grauen Augen, die von Gesicht zu Gesicht gingen, waren verlassene Augen, mit Wissen gefüllt, mit Erkenntnis, mit der traurigen Weisheit des Alters, die begriffen hat, daß wir alle ›von gestern her‹ sind. Daß wir ein Leben in die Schanze schlagen können, Tausende und Millionen tapferer und reiner Leben, aber daß wir nicht viel mehr gewinnen als eine kleine, verlorene, unverzagte Schar derer, die guten Willens und vielleicht auch reinen Herzens sind. Bei allen Völkern und in allen Zonen der Erde. Sie sind nicht diejenigen, die die Geschicke der Menschen und Völker leiten, nicht diejenigen, die die großen Worte durch die Lautsprecher schicken. Aber daß sie da sind, hinter der Tür, an der ein Arztschild hängt, oder in einem kleinen Pfarrerhaus, in einer Dachstube oder an irgendeinem Herd der kleinen Leute, daß sie da sind und die Worte bewahren, die auf einem galiläischen Berge gesprochen wurden, oder über einer Lotosblume, oder über einem Schierlingsbecher: das ist nicht nur eine wehmütige, sondern eine große Gewißheit.

»Ja, es ist die einzige Gewißheit des Lebens überhaupt, Jons. Die dreißig Morgen, auf denen du Korn wachsen läßt, wenn auch rings um dich Fahnen gehoben und Messer geschliffen werden. Wenn alle Maschlankas der Welt und die gesamte Kanaille der Welt grinsend um deine dreißig Morgen stehn. Und es ist ganz gleich, ob du Weizen drauf baust oder den Traum vom ewigen Frieden oder von der Gerechtigkeit auf dem Acker. Es ist ganz gleich, Jons. Aber wenn du weißt, daß hinter dem Walde ein ebensolcher Acker liegt, und Stilling setzt dort den Fuß auf seinen Spaten, oder Jumbo, und hinter ihnen, weit hinter ihnen sind viele dreißig Morgen, oder auch nur drei, dann ist es genug für dich, Jons, für ein ganzes, langes, schweres, einsames Leben und Sterben. Verstehst du mich?«

Ja, Jons verstand ihn sehr gut.

»Siehst du«, sie werden nun wieder einmal umpflügen, wozu wir tausend oder ein paar tausend Jahre gebraucht haben. Und diesmal werden sie es mit Dampfpflügen umlegen, so gründlich, daß kein Stoppelhalm übrigbleiben wird. Und wir werden wieder von vorne anfangen, so von vorne, als sei die Taube erst gestern aus der Arche ausgeflogen und mit dem Ölblatt wiedergekommen. Aber daß wir anfangen werden, Jons, wir oder die Leute auf den anderen dreißig Morgen, das ist eben das Große an diesem kleinen Leben. Und das ist es, weshalb ich ihnen dieses Fest gebe, Jons. Denn auch sie werden es sein, die wieder anfangen werden, wenn einer von ihnen übrigbleiben wird. Vielleicht werden sie wieder mit einem Holzpflug anfangen und mit einem Haus aus Schilf oder Rasen. Vielleicht werden sie nicht einmal hier anfangen, sondern an der Lüneburger Heide oder am Mondgebirge. Aber sie werden anfangen, Jons. Ohne Rock, ohne Schuhe, ohne Kirche, ohne Pfarrer. Nur mit ihren nackten Händen und mit ihren kleinen, armen Herzen. ›Einer wird angenommen, der andere wird verlassen weiden ...‹ Ja, Jons, es ist doch etwas Großes um die kleinen Leute auf dieser Welt ...«

Die Kälber waren gegessen, die Flaschen waren geöffnet worden. Sie sahen Maschlanka in seiner leuchtenden Uniform drüben ans Ufer kommen, die Hand über die Augen legen und zu ihnen herüberstarren. Sie taten, als sei er eine Ameise, die drüben über den Sand lief. Sie sahen ihn am Ufer entlanggehen und nach einem Kahn suchen, aber es war keiner da. Sie hatten sie alle mitgenommen. Schließlich legte er die Hände an den Mund und rief, und die Leute von Sowirog hörten andächtig zu, wie das Echo um den See lief.

Und dann ging er langsam zwischen den Häusern wieder in das Dorf zurück.

Die Sonne senkte sich langsam am blauen Himmel, eine milde leuchtende Sonne, als sei auch sie vom Altweibersommer eingesponnen. Keine Wolke am Horizont, kein Ton in den Feldern als der unermüdliche Ruf des Wachtelkönigs. Die Wälder wurden blau, die Äcker begannen rötlich zu schimmern. Die Frauen fuhren hinüber, um zu füttern und zu melken, und kamen wieder zurück. Johannes nahm die Harmonika seines Vaters auf die Knie, und sie tanzten. Als erster der Herr von Balk mit Maria. »Ich habe kein Glück mit den Jerominfrauen«, sagte er lächelnd und sah ihr in die Augen.

Sie errötete ein bißchen, und er sah die weißen Streifen in ihrem Haar. »Wir haben zu viele Kinder«, erwiderte sie leise. »Es bleibt uns keine Zeit zum Glück.«

Die bunten Lampen wurden angezündet unter dem dunklen Riesendach. Die Feuer brannten immer noch. Der Mond stieg schwer und rot aus den Kiefern auf und legte eine zitternde Brücke über das schwarze Wasser. Ein Reiher schrie im fernen Schilf, und für eine Weile wurden sie ganz still. Die Rohrdächer am andern Ufer tauchten rötlich beglänzt aus den Schatten, die weißen Schornsteine, der Sand der Straße. Und nach einer Weile sahen sie das Pferd langsam vom Walde kommen und an der Friedhofsmauer in den Schatten treten. »Kiewitt kommt ...«, flüsterten die Kinder.

Und dann, in dem großen Schweigen geschah das Wunderbare, daß die Witwe Kroll in ihrem dunklen Umschlagtuch zu Tobias ging, der auf einem Holzstoß inmitten des Kreises saß, vor ihm niederkniete und beichtete. Sie sprach leise, aber jedes ihrer Worte war so deutlich zu hören wie in einem leeren, schweigenden Gewölbe. Sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet und die Augen zu diesen Händen niedergeschlagen. Sie sei böse und hart gewesen, sagte sie, ihr Leben lang. Sie habe ihre Tochter geschlagen und dem Tochtersohn aus der Wirtschaft entwendet, was sie habe entwenden können. Sie habe auch aus den anderen Ställen genommen, was nicht bewacht worden war, immer ein paar Eier oder ein junges Hühnchen. Und sie sei auch zum Schulzen gegangen, damals, weil sie geglaubt habe, daß er auf dem Felde sei und der Stall und Hofraum leer. Sie sei habsüchtig gewesen und zornmütigen Herzens. Sie habe den kleinen Wohlstand der anderen verwünscht und ihre eigene Armut verflucht. Sie sei nicht wert, diesen Feiertag zu begehen und das Abendmahl zu empfangen. Sie bitte jeden um Vergebung, den sie gekränkt habe. Sie gebe alles Ersparte und zu Unrecht Gewonnene ihrer Tochter, und sie bitte, daß davon abgegolten werde, was sie entwendet habe. Und sie bitte den Herrn Pfarrer, ihr zu vergeben um Christi willen.

Keine Träne in ihren wimperlosen Augen. Kein Schluchzen in ihrem zahnlosen Mund. Nur die kniende Gestalt, von dem großen Tuch verhüllt, und die leise, eintönige Stimme, die den ganzen Raum der Insel zu erfüllen scheint.

Herr von Balk zog die Augenbrauen hoch, und die Leute von Sowirog hörten zu, als sei der Geist Gottes über den Wassern erschienen.

Tobias beugte sich zu ihr nieder und legte die Hände auf ihre Schultern. »Zwo werden mahlen miteinander«, sagte er leise. »Eine wird angenommen, die andere wird verlassen werden. Du aber wirst nicht verlassen werden.«

Und er hob sie auf und ging mit ihr von einem zum andern, und vor jedem verneigte sie sich und sagte leise: »Vergib mir um Christi willen!«

Später sagten die Leute von Sowirog, daß dies doch das Schönste vom ganzen Tag gewesen sei, schöner fast noch als die gebratenen Kälber. Es war ihnen, als sei der Herr Jesus auf seiner Wanderung auch über die Insel gekommen, ganz in Gedanken, und habe sie alle wie in Gedanken angesehen, und da sei es nun geschehen.

Nur der alte Daida, der ein Skeptiker war, nahm mit dem kleinen Birkendeckel eine Prise und sagte: »Auch im süßen Schnaps kann das liebe Gottchen wohnen. Nicht nur in einer Kirche ...«

Und dann ließ der Herr von Balk die Raketen unter die Sterne steigen. Auch das hatte er sich ausgedacht. »Weil die Kinder von Sowirog doch noch niemals eine Rakete gesehen haben«, sagte er wie zur Entschuldigung. Und einen größeren Glanz hatte es in Sowirog seit dem letzten Kriege nicht gegeben. Der rote, goldene und grüne Schein ging über die aufwärts gewendeten Gesichter und verwandelte sie, ehe sie wieder ins Dunkle zurückglitten. Die Wipfel der Eichen und das schwarze Wasser leuchteten auf, und wenn die farbigen Kugeln langsam und lautlos sanken, stiegen ihre Spiegelbilder ihnen aus dem Wasser ebenso lautlos entgegen, bis sie beide im selben Augenblick erloschen. Die Augen der Kinder aber waren so, als sähen sie Engel ihre farbigen Flügel über der Insel ausbreiten.

Und dann fuhren die Kähne langsam über das Wasser zurück. Sie durchschnitten die rote Brücke des Mondes und tauchten in die Schatten ein. Die Feuer erloschen, die bunten Laternen brannten nicht mehr. Die Scheibe des Mondes wurde langsam zu Silber, als sie sich aus dem Dunst des Horizontes erhob, und unter ihr war nun nichts mehr zu hören als der leise Gang der fernen Ruder und das Lied des Wachtelkönigs, das bis an die Sterne zu reichen schien.

Der Herr von Balk war mit Jons zurückgeblieben, weil er in der Hütte übernachten wollte. »Wie in alten Zeiten«, sagte er. Sie standen im Ufersand, der sich allmählich mit Tau bedeckte, und sahen zu den beglänzten Hütten des Dorfes hinüber. Die Kähne tauchten gerade in den Uferschatten ein, und die silbernen Kreise der letzten Ruderschläge liefen lautlos über den See.

Herr von Balk legte den Arm um Jons' Schulter und drückte ihn leise an sich. »Es war doch ein schönes Leben, Jons ...«, sagte er. »Ein schönes Leben ... und ich danke dir ...«

Dann stieg er langsam den Hang zur Hütte hinauf, und sein Schatten glitt lang und schmal über das betaute Gras.


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