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XVII

Die Jahre gehen über das Dorf Sowirog, und manchmal scheint es, als hätten sie es ganz und gar vergessen. Sie geben nur, was sie überall auf der Erde geben: den Wechsel der Jahreszeiten, ein paar Falten mehr in die alten Gesichter, ein paar Furchen mehr in ein neues Ackerstück, und das alte, ausgewogene Maß von Geburt und Tod. Die jungen Leute kommen auf Urlaub oder werden als Reservisten entlassen, und das bißchen Prahlerei, das sie hier und da mitbringen, verschwindet schnell vor dem stillen Gesicht des Dorfes.

Jons merkt es am frühesten, wie das Gesicht des Dorfes in diesen Jahren gewachsen ist. Aus dem duldenden, gebeugten, gehorsamen Gesicht ist unmerklich ein anderes geworden. Kein Heldengesicht, kein Empörergesicht, aber ein waches, aufmerksames und still in sich geschlossenes Gesicht.

Zuerst meint er, daß dies alles Tobias zukomme, seiner stillen Hand, die in alle Häuser hineinreicht, seinem stillen Herzen, das wie ein warmes Feuer in der Öde der Zeit brennt. Seinen Predigten, in denen kein Wort der Klage oder der Anklage steht, so daß Korsankes Nachfolger nichts zu notieren hat. Sondern in denen nur die Gewißheit eines Kindes ist, das seinem Vater vertraut. In denen alle Zeiten und Zeitalter wie flüchtige Augenblicke erscheinen vor der Ewigkeit des Alten und Neuen Bundes. In denen jedes Leben »von gestern her« erscheint und »wie ein Schatten über der Erde«. Er fragt nicht, er grübelt nicht. Er ruht in Gott, und seine Ruhe geht von Herz zu Herzen, wie Kreise auf einem Wasser immer weiterlaufen, bis an das fernste Ufer.

Aber Tobias will das nicht gelten lassen, daß ihm das zukomme. »Siehst du, Jons«, sagt er, »das, woran die Menschen sich aufrichten, ist niemals eine Lehre gewesen oder eine Idee oder eine Weltanschauung. Es ist immer nur das Lehen gewesen, das, was vom Morgen bis zum Abend da ist, allen Augen sichtbar als ein kleines Beispiel. Nicht die Bergpredigt, sondern daß er einkehrte beim Hauptmann von Kapernaum, oder daß er sich über die Sünderin neigte, oder daß er auf dem hohen Berge stand und die Schätze der Welt eben nicht haben wollte. Und deshalb ist es auch so töricht, was sie in den Prüfungen alles wissen wollen. Daß es das Wissen ist, was sie wissen wollen, und nicht das Leben. Schon beim Glauben können sie nichts mehr wissen. Ich kann in einer Prüfung sagen, daß ich glaube, und kann doch ein Verächter Gottes sein. Aber ich kann nicht ein Jahr in einem Dorfe leben wie in diesem, ohne daß die Menschen fühlen, ob ich bei Gott bin oder ferne von Gott ... Es ist wie damals am Toten Mann, Jons. Ihr lächeltet ein bißchen, und manche schalten auch, aber ihr fühltet doch, daß ich nicht ferne war von Gott, und das half euch doch vielleicht ein bißchen. Und nun sind wir ja nicht nur am Toten Mann. Nun sind wir an einem Berge, für den es noch gar keinen Namen gibt.«

Und er meinte, daß das meiste die vor ihm getan hätten, Stilling etwa, oder auch der tote Pfarrer, oder eben die Jahrhunderte, die sie hier still, fleißig und demütig gelebt hätten. »Es liegt eine große Macht in diesen kleinen Dörfern, Jons«, sagte er. »Eben daß nicht jeder Tag etwas Neues bringt, sondern daß er nur bringt, was er schon vor hundert Jahren gebracht hat. Wie sollen die Leute in der Stadt ihren Gott mitnehmen, wenn sie jedes Jahr in eine neue Wohnung ziehen? Sie haben so viel mitzuschleppen, daß sie ihn eben vergessen, wie man eine Kiste vergißt. Er bleibt liegen, im Keller oder auf dem Boden, und dann ist er nicht mehr da. Jede Wohnung hat ihren neuen Gott. Es ist fast so, als sei er in die Miete eingeschlossen. Nein, Jons, ein Volk, das seine kleinen Dörfer vergißt, hat das Wasser des Lebens verloren.«

Die Gräfin kam oft zu seinen Predigten, nicht nur, weil es ihre Kirche war. »Ich komme Sie überhören, Tobias«, sagte sie, aber es war nur ein Scherz, und nach dem Gottesdienst stand sie immer noch eine Weile auf dem Kirchenhügel und hörte zu, wie die Glocken langsam ausschwangen in der stillen Luft. »So einfach könnte alles sein, Tobias«, sagte sie dann und blickte in Gedanken über den See und die Wälder. »So einfach, und sie machen es jeden Tag verwickelter, nicht wahr?«

»Sie können nicht anders, Frau Gräfin.«

Sie nickte. »Das ist es, Tobias. Aber einmal wird die Hand kommen, die alles ganz einfach machen wird. So einfach, wie es nach der Sintflut war ...«

Und auch Frau von Bohnen kam manchmal in die Kirche, das Mädchen an der Hand, das Jons aus dem Tode in das Licht gehoben hatte. Ihr Mann war nun ein mächtiger Mann geworden in der neuen Zeit, ein Herr über Tausende von Uniformen, und sie sah ihm mit sorgenvollen Augen zu. »Damals hat er die Schultern gezuckt über Sie, Doktor«, sagte sie zu Jons, »als Ihr Name genannt wurde, und auch heute zuckt er die Schultern über vieles, was geschieht. Manche Männer haben das so an sich. Aber er läßt Ihnen sagen, daß er nicht vergessen hat und daß er seine Hand über Sie und das Dorf halten will.«

»Es müßte eine große Hand sein«, erwiderte Jons und sah ihr in die Augen.

Sie lächelte bekümmert und sah zu den Glocken auf, deren letzte vereinzelte Schläge über das Dorf gingen. »Das ist es ja, was sie glauben«, sagte sie, »jeder von ihnen, daß eine Menschenhand groß genug für ein ganzes Dorf ist ...«

Und eines Tages fuhr ein großer glänzender Wagen vor dem Jeromin-Hause vor, und ein schöner, etwas behäbiger Mann in einer schwarzen Uniform stieg heraus und klopfte lächelnd an die Fensterscheiben, da die Tür geschlossen war. Es war Gotthold, fröhlich und etwas herablassend, und während er die Reitpeitsche über seine glänzenden Stiefel spielen ließ, erzählte er, daß es ihn nun doch wieder in die Heimat gezogen habe, zwar in die Hauptstadt, aber eben doch in die Heimat, und wenn sie Wünsche hätten im Jeromin-Hause, so sollten sie es ihm ruhig sagen. Und er war ein bißchen erstaunt und enttäuscht, daß sie keine Wünsche hatten, nicht einmal Christean, dem er zu einer Ausstellung in der Hauptstadt verhelfen wollte.

Nein, auch Christean wollte nicht. »Vielleicht gehst du nachher ein Weilchen auf den Friedhof, Bruder«, sagte er. »Dort ist schon ein Stück meiner Ausstellung. Eines für die Toten.«

Gotthold kam etwas verlegen zurück und stand in der Werkstatt herum. »Ein bißchen entartet, Christean«, sagte er. »Was sie heute so nennen. Ein bißchen primitiv, und das mögen sie nicht sehr. Etwas heldenhafter müßte es schon sein, weißt du, so wie Hermann und Thusnelda etwa, vielleicht mit einem Schwert über den Knien ...«

»Aber es ist schön, Christean«, sagte er nach einer Weile leise ... »So waren sie ... und auch die Mutter, obwohl sie ja eine harte Hand gegen mich hatte ... sehr schön ist es, Christean ...« Und er sah eine Weile aus dem Fenster und vergaß seine Reitpeitsche zu bewegen.

Am meisten aber wunderte er sich über Jons und die stille Sicherheit, mit der er sich in dem kleinen Hause bewegte. »Nur daß du es hier so aushältst, Bruder«, sagte er am Abend. »Diese Kätnerweiber und ihre Gören ... ist ja ganz schön, und auch sie gehören ja zur Volksgemeinschaft. Aber möchtest du nicht eine große Klinik haben, eine Musterklinik mit einem Dutzend Assistenten? Wir beide könnten den Namen Jeromin schon wieder zum Glänzen bringen, Jons, und ich könnte dir eine Masse dabei helfen.«

Aber Jons wollte nichts zum Glänzen bringen. Er rauchte seine Pfeife und sah den Bruder nachdenklich an. So viele Erinnerungen kamen wieder, das ganze Leben stand wieder auf. Dieser also hatte bei Czwallinna angefangen und trug nun gestickte Eichenblätter auf der Uniform. Und zwei waren erschlagen worden, und eine stand am Herd und blickte mit stillen Augen auf einen Mann, der ein Kind geworden war. Und eine saß in einem fremden Land, ein Phönix, der sich aus der Asche des alten Hauses aufgehoben hatte. Und einer schnitzte Tiere und Tote, und er selbst hatte einen Mann im Sande begraben, den diese gejagt hatten wie ein Wild.

»Er glänzt schon«, sagte er leise. »Solange sie hier an den Vater denken, glänzt er schon genug.«

Gotthold lächelte ein bißchen, aber so, daß Jons es nicht sah, und stand dann auf. ›Er knistert in allen Falten‹, dachte Jons.

»Nun gut, Bruder«, sagte Gotthold gutmütig. »Auch der dunkelste Winkel braucht sein Licht. Aber wenn du etwas brauchst, komme zu mir. Ich will schon meine Hand über dich halten.«

›Der zweite also‹, dachte Jons lächelnd. »Ich werde bald so viele Hände über mir haben«, sagte er, »daß ich ganz im Schatten leben werde.« Und er erzählte vom Herrn von Bohnen.

»Bohnen?« fragte Gotthold. »Bohnen? Das ist der von der braunen Fakultät. Erinnere mich. Ein ordentlicher Bursche. Aber wir sind mächtiger, Jons, hörst du? Komme nur zu mir, wenn etwas ist. Wir haben nicht umsonst vor demselben Torffeuer gesessen.«

Ja, die Jahre gehen, stille, fleißige Jahre, und draußen wächst das Reich. Maschlankas Lautsprecher hat wieder zu tun, und Reden und Märsche donnern aus dem Äther über das kleine Dorf hin. Nur die Äcker wachsen nicht. Die bleiben dieselben kleinen Streifen, hügelauf und hügelab. Auch das groß gewordene Reich nimmt Steuern und Söhne, und was es wiedergibt, scheint den Leuten von Sowirog nichts Rechtes zu sein. Bunte und laute Dinge, und man kann sie nicht in der Kirche aufhängen wie einen Erntekranz oder auf den Herd setzen. Und da sie wenig bekommen, so geben sie auch wenig. Sie sind widerspenstig, mit einer zähen, schweigenden Beharrlichkeit, über die Maschlanka heimlich die Hände ringt. Es gibt Wahlen und Volksabstimmungen, aber das Dorf Sowirog wählt nicht und stimmt nicht ab. »Wir haben schon gewählt, Herr Lehrer«, sagt der alte Daida treuherzig und öffnet seine Schnupftabaksdose aus Birkenrinde. »Wir haben das liebe Gottchen gewählt, und das braucht sich nicht jedes Jahr wiederwählen zu lassen. Das hat an einem Mal genug.«

Und das Dorf zahlt auch keine Beiträge. Es hat kein Geld. Es zahlt Steuern, und das ist genug für die kleinen Lederbeutel, die man mit einer Schnur zubinden kann. »Und freiwillig, Herr Lehrer«, sagt Daida, »ist doch eben freiwillig, nicht wahr? So haben wir es beim Herrn Stilling gelernt, und so wird es ja wohl geblieben sein.«

Maschlanka bekommt einen Rüffel nach dem anderen, und wenn er nicht seine rote Perücke hätte, würde er längst grau geworden sein.

Ja, der Staat ... was ist der Staat für solche kleinen Dörfer? Ist er etwas wie ›der Wald‹? Aber der Wald besteht aus Bäumen, die man sehen und fühlen kann. Sie blühen und geben Schatten, und wenn sie alt sind, geben sie Herzwärme, Behagen und Frieden. Ist er etwas wie ›das Wetter‹? Aber auch das Wetter besteht aus Sonne und Regen, Hagel und Schnee, und alles zusammen ist erst das Wetter. Besteht er aus allen Landräten zusammen, allen Regierungspräsidenten und so weiter? Aber auch das ist es nicht, denn Korsankes Nachfolger gehört dazu und Maschlanka und die jungen Burschen auf Motorrädern, die ab und zu ein Huhn überfahren und dann aus der Staubwolke mit der Hand winken, als wünschten sie noch Glück zu dem unverhofften Braten.

Nein, er muß etwas anderes sein. Etwas Unsichtbares, wie das Gewissen etwa, das man nicht sieht, aber das da ist, immer da, und gerade, wenn man es am wenigsten erwartet. Und am besten ist, man denkt nicht daran. Man läßt ihn die Länder und die großen Städte regieren, und dann könnte es sein, daß er die kleinen Dörfer vergißt. Sie brauchen ihn nicht, sie sind sich selbst genug, und wenn es an etwas fehlt, ist Jons da oder der Pfarrer oder der Herr von Balk.

Und lange Zeit sieht es auch so aus, als vergäße er sie. Er hat andere Sorgen und Pläne, große Sorgen und große Pläne, die über die Weltkugel laufen, und auf ihr ist Sowirog nur ein winziger Punkt, so winzig, daß er eigentlich nur gedacht und nicht bezeichnet werden kann.

Aber es sieht nur so aus. Er hat nichts vergessen. Er hat nur die Augen geschlossen, aber zwischen den Wimpern sieht er alles, was geschieht. Er ist wie ein ordentlicher Hausvater, der auch das letzte Korn aus dem Scheffelmaß schüttet, wenn es nötig ist, der sogar die Spreu zusammenfegt, wenn er eine saubere Tenne braucht.

Und wenn ein junger Bursche aus solch einem Dorf eines Tages in die Kreisstadt kommt, um ein neues Netz für den Fischfang zu kaufen, so ist es nicht so, daß er nach Belieben durch die steinernen Straßen gehen und tun und lassen darf, was er will. Ein geheimnisvolles Auge ist über der Stadt aufgeschlagen und wacht über seinen Schritten. Ein unsichtbares, das jedem seiner Schritte folgt, eben das Auge des Staates. Wie eine Kreuzspinne, die verborgen im Netz sitzt, aber auch ihre unsichtbaren Augen beginnen zu glühen, sobald ein leises Beben durch die Fäden läuft, und auch sie folgen jeder Bewegung des Fremden, der auf ihre Straßen getreten ist.

Johannes hatte im Doktorhause gesagt, daß er ein Netz kaufen müsse für den Herrn von Balk, aber daß er um die Mittagszeit wieder da sein werde, um das Pferd zu versorgen. »Laß dir Zeit, Johannes«, hatte Jons gesagt. »So viel weiß ich auch noch, daß ich Hafer einschütten und einen Eimer Wasser dazustellen kann.«

Doch Johannes hatte den Kopf geschüttelt. »Was soll ich dort?« hatte er gefragt.

Aber nun war es Abend geworden, und er war immer noch nicht da. Jons kam von einer Fahrt zurück, sah nach der Uhr und schüttelte den Kopf. Sie saßen an dem runden Tisch unter der Lampe. Jons las, und das Mädchen strickte, aber sie waren beide unruhig und lauschten auf den leisen Wind, der die Eichenblätter bewegte.

Als es dunkel geworden war, ging Jons zum Gogunhaus, aber auch dort war er nicht. Die Witwe Gogun starrte in die kleine Petroleumlampe. »Wenn er auch zu trinken anfängt, Jons ...«, sagte sie müde. Aber Jons lachte sie aus. »Ja, Mutter Gogun«, sagte er, »wir beide trinken jeden Abend eine Flasche Rum, jeder eine, und nun wird er wohl meinen mitgetrunken haben.«

Aber sie seufzte nur und leuchtete ihm dann über die Schwelle.

Kurz vor Mitternacht rief Jons bei dem Polizeibüro an, in dem Lehrer Stilling mit der goldenen Uhr gesessen hatte. Es kam eine zögernde Antwort. Ja, es sei eine Art von Prügelei gewesen am Vormittag, bei einem Umzug. Es hieße, daß er im Krankenhaus liege. Mehr könnten sie nicht sagen.

Das Krankenhaus antwortete noch zögernder. Schlimm sei es nicht, so das übliche bei einer Prügelei. Aber er werde bewacht. Dann ging die Stimme der Nachtschwester fort und kam nicht wieder.

Aber am Morgen kam ein Anruf aus der Stadt. Eine bekannte Stimme, aber sie nannte ihren Namen nicht. Sie gab hastig und leise einen Augenzeugenbericht. »Weil Sie es sind, Herr Doktor«, sagte sie. »Und weil es jemand aus Ihrem Dorfe ist.« Dann verschwand auch sie, und nur das große Schweigen blieb in der Hörmuschel, von einem leisen Summen unterbrochen. Ein langes und drohendes Schweigen.

Jons bat Herrn von Balk, ihn zur Bahn zu fahren, er müsse in die Hauptstadt. Balk kam selbst und ließ sich im Wagen alles erzählen. »Ja, Jons«, sagte er, »so ist das nun ... Du sollst keinen in die Stadt lassen. Jede Stadt ist heute eine Falle, eine Schlagfalle, und unsere Leute werden immer die Schnur übersehen. Sie denken immer noch, daß sie vom Himmel hängt und daß der liebe Gott sie in den Händen hält. Aber der hat heute andere Sorgen als um den Eulenwinkel.«

»Nein, laß die Bahn sein, Jons«, sagte er, als das Kopfsteinpflaster begann. »Sie ist zu umständlich, und auch wir können uns ja in eiligen Fällen des sogenannten Fortschritts bedienen. Der Sägewerksmann hat einen großen Wagen, und er hat genug an mir verdient.«

Später erwies sich, daß der Augenzeugenbericht die Wahrheit gesagt hatte, daß er nichts hinzugesetzt und nichts verschwiegen hatte.

Danach war es so, daß Johannes das Netz schon unter dem Arm trug, als er aus einem kleinen Tabakladen heraustrat und nach der Sonne sah, um abzuschätzen, ob er noch vor der Mittagszeit wieder in Sowirog sein würde. Der Laden war ein Eckladen, und so kam der Zug mit der Fahne, der Musik, den Uniformen so schnell über ihn, daß er nicht mehr ausweichen konnte. Er sah also ruhig über den Glanz und Schimmer hin, nur daß seine Augenbrauen sich etwas zusammenzogen, als würde er geblendet. Er sah zwar, daß Erwachsene und Kinder den Arm hoben, aber es ging ihn wohl nichts an. Er stand dicht am Bordsteig, und ein paar Zurufe aus den Reihen der Marschierenden galten wohl nicht ihm.

Erst als der Fahnenträger stehenblieb und ein paar Worte zurückrief und der ganze Zug stockte, war es ihm unbehaglich, und er sah sich schnell um, wie ein Tier auf einer Lichtung sich umsieht. Aber es war schon zu spät. Drei oder vier der Burschen mit den seltsamen Mützen kamen schnell auf ihn zu, und ehe er noch die Hand heben konnte, hatte der vorderste ihm schon die Mütze vom Kopf geschlagen und etwas gebrüllt, was er nicht verstand. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, und sein Faustschlag unter das Kinn des Angreifers warf diesen wie einen Pfahl in den Rinnstein.

Er wollte sein Messer aus der hinteren Hosentasche ziehen, aber dazu war es zu spät. Er sah Schnallen durch die Luft blitzen, die auf seinen bloßen Kopf niedersausten. Er hörte viele Stimmen aus einer weiten Ferne, dumpf und brausend, als wenn er auf den sandigen Grund des Sees tauchte, und dann wurde es ihm schwarz und rot vor den Augen, und er verlor die Besinnung.

Jons wurde schweigend und nicht ohne Mißtrauen in Gottholds Zimmer geführt, einen großen Raum mit einer »großartigen« Einrichtung. Aber er sah sich nicht um. Er ging auf den riesigen Schreibtisch zu, stützte sich mit beiden Händen auf die Platte und sagte: »Du mußt nun helfen, Bruder, früher, als ich gedacht habe.«

Gotthold wies auf einen der schweren Ledersessel und blätterte in einem Aktenstück. Sein Gesicht war von betonter Ernsthaftigkeit. »Wir wissen es natürlich schon«, begann er nach einer Pause, die Jons unangemessen lang erschien. »Ja, und es ist eine sehr unangenehme Geschichte. Wissen denn eure Kätnerlümmel noch immer nicht, was sich gehört? Was denkt solch ein Bursche sich, die Uniform anzugreifen? Weißt du, was das bedeutet?«

Nein, Jons wußte es nicht, und er machte auch gar kein Hehl daraus. »Wenn er sich gewehrt hat«, erwiderte er finster, »so hat er sich gegen einen Burschen gewehrt, der ihm die Mütze vom Kopf geschlagen hat. Mir ist nicht bekannt, daß er eine Uniform in den Rinnstein befördert hat, sondern einen Mann, und mit dem Mann ist die Uniform eben mitgegangen, wie das ja wohl im allgemeinen üblich ist. Oder sollte er sie ihm vorher ausziehen?«

Gotthold trommelte mit einem langen Bleistift auf der Schreibtischplatte und zog die Augenbrauen zusammen. »Du mußt die Späße besser unterlassen«, sagte er. »Die Leute vertragen keinen Spaß in solchen Sachen. Natürlich ist das sozusagen symbolisch gemeint: ›die Uniform angreifen‹. Es ist soviel, als ob du die Fahne herunterreißt.«

»Höre nun zu«, sagte Jons jetzt ganz ruhig. »Dieser Sohn von Michael Gogun, den du sehr wohl kennst, ist ein schwermütiges Kind seit des Vaters schrecklichem Tod und lebt seit Jahren auf der Insel, wo er für Balk Fische fängt. Er sieht wochenlang keinen Menschen, und wahrscheinlich weiß er gar nicht, was eine Fahne ist. Aus Sowirog weiß er es jedenfalls nicht. Er hat also gar nichts begriffen, als daß ein Wildfremder sich auf ihn stürzte und ihm die Mütze vom Kopf schlug, und das ist weder auf der Insel noch in Sowirog Mode. Das wirst du den Leuten doch wohl begreiflich machen können, und ich will ja auch gar nichts anderes, als daß er sofort vor Gericht gestellt wird.«

Gotthold machte sich Notizen und überlas sie dann. »Natürlich kann es so erklärt werden, Jons«, sagte er gutmütig. Aber dann hob er den Blick, und nun waren seine Augen nicht mehr gutmütig. »Wir wissen schon etwas Bescheid über euch, Bruder«, sagte er scharf, »und es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß es so zu erklären ist. Laßt es euch ein bißchen zur Warnung dienen, hörst du? Euch allen, inklusive Balk und Tobias und wie sie alle heißen. Wir haben Geduld und sind nicht kleinlich, aber es gibt Dinge, die wir nicht dulden. Einfach nicht dulden, verstehst du?« Und er klopfte mit dem Bleistift drohend auf den Tisch.

»Ich verstehe nicht ganz, was du meinst«, sagte Jons. »Ich sehe nichts, was nicht geduldet werden dürfte, und ich sehe so ziemlich alles im Dorf. Oder sollte es daran liegen, daß wir der Theorie gehorchen und die Praxis vielleicht nicht ganz verstehen?«

Gotthold machte eine abweisende Handbewegung und blickte wieder in seine Notizen. »Das mit dem Gericht schlag dir aus dem Sinn«, sagte er. »Für solche Fälle will man kein Gericht, das entscheiden wir selbst. Aber ich will zusehen, daß es milde abgeht, das verspreche ich dir. Schließlich ist es unser Dorf, wenn auch nicht gerade ein hervorragendes. Aber unter einem halben Jahr wird es nicht abgehen, Jons. Ohne mich würden es wahrscheinlich drei bis fünf Jahre werden.«

»Was für ein halbes Jahr?« fragte Jons. »Wenn ihr ihn nicht vor Gericht stellt, was soll es denn für ein halbes Jahr sein?«

Gotthold zuckte die Achseln. »Tue nicht so, als ob du auf dem Monde lebtest, Bruder«, sagte er schroff.

»Und was wird mit den anderen?« fragte Jons.

»Mit den anderen?« wiederholte Gotthold und zog die Augenbrauen wieder hoch. »Was soll mit ihnen werden? Sie haben ihre Pflicht getan.«

An der Tür drehte sich Jons noch einmal um. »Weißt du, wie schön es ist, Bruder«, sagte er langsam, »daß der Vater tot ist? Und daß ich hier stehen kann, statt seiner?«

»Es gibt kein sentimentales Zeitalter mehr«, erwiderte Gotthold ruhig. »Es gibt nur noch eines der Tat!«

Langsam ging Jons über Korridore und Treppen hinaus. Es war wohl ein Haus wie andere Häuser auch. Junge Menschen kamen ihm entgegen oder standen auf einem der Vorplätze. Sie streiften Jons mit einem flüchtigen Blick, aber es war nicht derselbe Blick, wie ihn die Leute in Sowirog hatten. Etwas war anders, und es schien Jons, als liege es daran, daß diese jungen Menschen etwas waren, das mit einer Uniform bekleidet war. Eine Uniform wie andere, die der Mensch sich in müßigen Stunden ausdenkt, aber sie war über Wesen gestreift, die aus Holz oder Stein sein konnten. Künstliche Wesen, die ein Erfinder in einer Werkstatt hergestellt hatte, die er mit Lippen und Augen versehen hatte, aber eine eisige, leblose Kühle ging von ihnen aus, wie von Figuren, die ein Zauberer aufzog und wandeln ließ.

Und am unheimlichsten war es ihm, daß Mädchen hier waren, die mit Papieren und Akten die Treppen hinauf- und hinunterliefen, ein Scherzwort auf den bemalten Lippen, ein Lächeln in den Augen. So als könnte auch das Mädchen aus dem »Paradies« hier von einer Tür zur anderen gehen, wie es zu Hause Kranke hereinbrachte und wieder hinausführte.

Es fröstelte ihn, und während der ganzen Heimfahrt sah er gerade vor sich hin, ohne auf die Landschaft zu achten.

Es gelang ihm, eine der ihm bekannten jungen Schwestern aus dem Krankenhaus zu sprechen, und sie wollte Johannes seine Grüße ausrichten und wie er sich verhalten sollte. Sie wollte es versuchen, denn mehr konnte sie nicht versprechen.

Und das war alles, was er tun konnte. Ein Vorhang war herabgeglitten, lautlos und unsichtbar, und hatte die Welt in zwei Hälften getrennt, in eine der »Sentimentalität« und in eine der »Tat«. Und in dieser stand der große Schreibtisch, hinter dem sein Bruder saß, den Bleistift in der Hand, und Recht sprach über die Leute von Sowirog. Derselbe Bruder, den die Mutter geboren und getränkt hatte, und der Glasscherben auf den Steig gestreut hatte, den Jons barfuß zu den Booten hinuntergehen mußte. »Absalom, Absalom ...«, hatte der Großvater gesagt, aber auch der Großvater war in der anderen Welt zu Hause gewesen, in der der »Sentimentalitäten«.

Der Herr von Balk hörte finster zu. »Der Mann im Sande hat von sich aus ganz recht getan«, sagte er endlich. »Aber wir müssen es wohl zu Ende gehen, Jons. Es gibt immer Menschen, die es zu Ende gehen müssen.«

Die Witwe Gogun erfuhr nur, daß sie Johannes ein halbes Jahr einsperren würden, und sie nahm es gehorsam hin. Der Kranichräuber war oft genug »auf Reisen« gegangen, und manchmal hatte es etwas länger als ein halbes Jahr gedauert. Es galt nicht als Schande in Sowirog. Sie spielten ab und zu mit dem »Staat«, und manchmal gewann der Staat. Nicht immer, aber es war eben ein Lotteriespiel, und man mußte gute Miene dazu machen.

Das Dorf aber erfuhr die Wahrheit doch. Vielleicht durch Maschlanka, vielleicht auf anderen Wegen. Und das Dorf nahm es diesmal nicht als Lotteriespiel. Es wurde ein stiller Sommer für die Leute in Sowirog, und Maschlanka vermied es nach Möglichkeit, sich auf der Straße zu zeigen. Die Leute sahen ihn nicht und hörten seine Stimme nicht, und manchmal taten sie, als könnten sie durch ihn hindurchgehen wie durch einen Nebel. Er war gekränkt, denn er war doch unschuldig, und Recht war eben Recht, ob es nun ein altes oder neues Recht war.

Frau von Bohnen konnte Jons nur ausrichten, daß ihr Mann »seine Hand« über Johannes gehalten habe. Man habe ihm versprochen, daß es bei einem halben Jahr bleiben werde, und er hoffe, daß man das Versprechen halten werde. »Früher brauchten wir nicht zu hoffen, Doktor«, sagte sie mit bitterem Lächeln. »Früher wußten wir. Aber wir sind ja auch älter geworden inzwischen ...«

Es war ein stiller Sommer mit einer stillen Ernte. Selbst Pionteks Rindenhorn schwieg, und niemand »weckte das Echo«. Öfter als sonst hoben die Leute von Sowirog den Kopf bei ihrer Feldarbeit und lauschten, aber es war nicht mehr zu hören als sonst. Es grollte hinter dem Horizont, und manchmal kam das Gewitter herauf, manchmal zog es vorbei. Der See lag still und dunkel, und die Fische hatten eine gute Zeit. Niemand legte die Netze aus, niemand zündete ein Feuer auf der Insel an. Nur die Glocken läuteten wie immer, und der junge Pfarrer saß oft auf der Eichenschwelle der Kirche, wenn das Gebälk über ihm zitterte, die Hände um die Knie gefaltet, und blickte über das Dorf hin. Es war ihnen ein Trost, ihn dort sitzen zu sehen, und es war ihnen, als habe der liebe Gott jemanden geschickt, der über ihnen wachen sollte. Einen Engel etwa, dessen Flügel man nicht sah, aber wenn es Zeit wäre, würden sie sich entfalten und silbern über den grauen Rohrdächern schweben. Und solange es so blieb, war das Leben immer noch gut. Wermut war in seinem Becher, aber es war niemals anders gewesen.

Als die Kartoffelfeuer brannten, begann Jons, bis zur Mitternacht unter seiner Lampe aufzubleiben. Er las, was er gerade aus den Bücherreihen herausgezogen hatte, Verse oder chinesische Weisheiten, aber nicht alles ging durch seine Augen bis in sein Herz. Er lauschte auf den leisen Wind in den Eichenkronen, und wenn es ganz still war, glaubte er manchmal den Pfiff einer fernen Lokomotive zu hören. Es war natürlich Unsinn, weil man ihn nicht über zwei Meilen hören konnte, aber er ließ es dabei und begleitete den unsichtbaren Wanderer durch Felder und Wälder dem Dorfe zu. Jeden Schritt, jedes Atemholen und jedes kurze Verweilen auf den vielen Hügeln, über denen die Sterne standen. Er war den Weg oft genug gegangen, und er wußte, wie schön es war, immer tiefer in das große Schweigen hineinzugehen. Die Luft wurde anders, der Boden unter den Füßen wurde anders, das Herz begann ruhiger zu schlagen, und einmal kam dann der Augenblick, in dem man zum erstenmal den Geruch des noch fernen Dorfes spürte, etwas Rauch, der noch in der Luft hängengeblieben war, etwas von der Wärme der Rohrdächer, von dem Duft der kleinen Gärten hinter den morschen Zäunen. Dann hielt der Wanderer den Fuß an und schloß die Augen, um es besser in sich aufnehmen zu können. Und dann ging er schneller in den Schatten zwischen den Kiefernstämmen hinein.

Viele Nächte, lange Nächte. Aber einmal war doch das leise, ganz leise Pochen am Fensterladen, so leise, als habe ein Nachtfalter in seinem Flug das warme Holz gestreift. Der Herzschlag setzte einen Augenblick aus, und dann strömte das Blut zurück und brauste in den Ohren wie in einer Meermuschel. Leise und schnell ging Jons zur Tür, um das Mädchen nicht zu wecken, aber das Mädchen war noch lange nicht eingeschlafen. Es schlief niemals, ehe es nicht den leisen Schritt die Treppe hinauf vernahm, das leise Knarren der siebenten Stufe, das leise Schließen der anderen Kammertür.

Und dann stand Johannes im Dunklen, bewegungslos, und nicht einmal sein Atem war zu hören. Nur sein Gesicht schimmerte blaß aus dem Schatten der Eichen. Ein Gespenst, das um seine irdische Wohnung irrte, um den Rauch des Herdes noch einmal zu atmen.

»Komm herein, Johannes«, flüsterte Jons und nahm ihn bei der Hand.

Sie hatten Wort gehalten, fast auf den Tag.

Da saß er nun in dem Sessel vor dem verglühenden Feuer und schwieg. Derselbe junge Mensch, der ausgegangen war, um ein Netz zu kaufen, und doch ein anderer Mensch. Nicht daß sein Haar abgeschoren war und Narben auf seinen Händen waren. Daß sein Gesicht hager war und seine Lippen schmal. Wahrscheinlich lag es in den Augen. Nicht nur, daß sie umherirrten, von den Büchern zu den Instrumenten und wieder zurück. Daß sie Jons' Augen vermieden und in die erlöschende Flamme blickten, wenn er »Ja« oder »Nein« sagte. Sondern in diesen Augen war etwas Neues und Fremdes. Sie waren mit einem neuen Inhalt gefüllt. Nicht mehr mit den Bildern des Sees und des Moores, des Dorfes und Waldes. Nicht mehr mit der alten Schwermut, die weit hinter Dorf und Moor zurückreichte, weiter noch als zu der Stunde, in der er das Haselhuhn zwischen den grünen Pflanzen hatte liegen sehen. Sondern eben mit etwas anderem. Mit dem Widerschein einer anderen Welt, eines anderen Sternes, einer eisigen Kraterlandschaft etwa, wie sie auf dem Monde lag. Mit dem Widerschein von Tagen und Nächten, in denen keine Sonne und keine Sterne geschienen hatten, außer etwa der Sonne der Toten, wenn man sie so nennen wollte. Blinde Augen, oder ertrunkene Augen, oder starre und gebrochene. Immer noch beweglich, ja, vielleicht beweglicher als früher, aber nicht von innen bewegt, sondern so, als bewege eine fremde, kalte Hand ein totes Auge.

»Iß und trink, Johannes«, sagte Jons heiser und goß den Kognak in ein großes Glas. »Du brauchst nichts zu sagen, gar nichts.«

»Ja«, erwiderte Johannes.

Er aß und trank, und Jons ging leise auf und ab auf dem großen farbigen Teppich, die Hände auf dem Rücken, die Augen auf die verschlungenen Muster gerichtet. Rote Streifen, rote Kelche, rote Ranken, die wie Dornenäste waren. »Die Welt der Tat«, und sie würden es zu Ende gehen. Balk und er würden es zu Ende gehen, und dieser wahrscheinlich auch, wenn er es nicht schon zu Ende gegangen war. Der Reisighaufen zwischen den Schilfwänden, und darunter das weiße Gesicht, das in Gott ruhte ... und oben das Mädchen aus dem »Paradies«, das im Schlaf die Hand auf dem Herzen hielt. Und Sterne über allen kleinen Dörfern des Vaterlandes und Mütter unter den Rohr- oder Schieferdächern, die lauschten, wie das Laub fiel oder die Tropfen fielen ... und ein Bibelvers oder ein Kinderlied, die vor ihnen im Dunklen erschienen, in einer leuchtenden Schrift, einer unbeholfenen, schwerfälligen Kinderschrift ... »Droben stehet die Kapelle ...«, oder »Ich will bei euch bleiben bis an der Welt Ende ...«. Oder »Am Anfang war das Wort ...«. Nein, »Am Anfang war die Tat ...«. So hieß es wahrscheinlich.

Ja, Johannes wollte gern rauchen. Seine Hände zitterten, als er die Zigarette hielt, und er trank den Rauch in sich hinein wie die Flüssigkeit aus dem großen Glase. Und dann wurde er ruhiger. Sein Körper entspannte sich und fiel in dem großen Sessel zusammen. Er lauschte nicht mehr hinaus, und seine Augen gingen nicht mehr an den Wänden umher. Er war wie ein armes Tier in seiner dunklen Höhle.

Nein, er wollte nicht wieder auf die Insel zurück. Er wollte ins Moor gehen, wo seine Hütte lag, wenigstens den Winter über. Er würde alles hintragen, was er brauchte. Einen kleinen Ofen und Holz und Decken und Essen. Und im Dunklen würde er kommen, um das Pferd zu versorgen. Nur wenn das Eis kam und noch nicht trug, müßte Jons Geduld haben. »Wenn du es nicht erlaubst, werde ich ins Wasser gehen«, sagte er zum Schluß.

Jons erlaubte alles. »Aber wenn das Moor nun zufriert ...«, sagte er nach einer Weile.

»Es friert nicht zu«, erwiderte Johannes. »Da sind Stellen um die Hütte, die nie zufrieren. Und ich habe ja auch das Messer ...«

Jons brachte Kissen und Decken und zog ihn aus. Johannes war so müde, daß er ihm die Arme hochheben mußte, als er das Hemd über seinen Kopf streifte.

Und dann sah Jons seinen Rücken. Das Hemd fiel aus seiner Hand, aber er bückte sich schnell, um es wieder aufzuheben. »Ich bin ein Arzt und so ungeschickt ...«, sagte er.

Johannes merkte gar nicht, daß die Stimme wieder heiser war. Es schien, als merke er von allem nichts. Er schloß die Augen und bewegte nur die Finger seiner rechten Hand wie zu einem Gutenachtgruß. Als das Licht erlosch, atmete er schon ruhig wie im Schlaf.

Bevor Jons die Treppe hinaufstieg, blieb er noch eine Weile im Dunklen stehen, die Stirn an das kühle Holz des Geländers gelehnt, mit geschlossenen Augen. Sanfte Funken und sanfte Lichtkreise erschienen im Dunklen und dazwischen das schwarze Nachtbild der Lampe. Und dann das Bild der tiefen Narben, kaum verheilt, mit rötlichen Rändern. Und rings herum die weiße Haut, weiß und glatt wie die eines Kindes.

Langsam, wie ein ganz alter Mann, stieg er die Treppe hinauf. Er lauschte an der Kammertür auf Hannas Atem, aber sein Herz schlug so schwer, daß er ihn nicht hören konnte.

In seiner eigenen Kammer lag die Bibel des Vaters auf dem Tisch. Das Fenster war geöffnet, und er sah die Sterne über dem See. Die Bibel war aufgeschlagen, und die großen Buchstaben standen in geraden Reihen untereinander, wie Kolonnen, die in eine Schlacht zogen.

Er hob die Hand, um eine Seite umzuschlagen, aber er ließ sie wieder sinken. Er starrte auf die großen grauen Blätter, aber er konnte nichts erkennen, nicht einmal die Überschrift mit den großen, roten Initialen. Vielleicht war es der Prophet Jesaias, vielleicht ein anderer. Er erinnerte sich nicht mehr, an welcher Stelle er sie geöffnet hatte.


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