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XVI

Hanna hatte alles in ein Bündel zusammengepackt, auch ein kaltes Abendessen und eine Flasche mit Kognak. Es war so dunkel, daß sie sich nur Schritt für Schritt vorwärtstasten konnten, aber sie wußten auch beide, daß die Dunkelheit ein Segen war.

Wieder prüfte Jons sorgfältig die Läden und die Tür in der Meilerhütte, hängte noch Tücher über sie und machte dann erst Feuer im Herd. Es roch nach welkem Laub, und Spinngewebe hingen von den berußten Balken herab. Er sah sich um in dem niedrigen, halbdunklen Raum, in dem sein Leben begonnen hatte, das wahre Leben, und er blickte nach dem schweren Tisch hinüber, ob nicht das alte große Buch dort läge, aufgeschlagen von einer toten Hand, mit den großen, altertümlichen Buchstaben, die vom Hagel über dem Wald erzählten.

»Setzen Sie sich hier ans Feuer, Doktor«, sagte er endlich. »Wir wollen etwas essen und trinken, und dann sollen Sie schlafen oder erzählen, wie Sie es wollen.«

Sie aßen schweigend, und dann machte Lawrenz schweigend seinen Rucksack auf und nahm eine Kiste Zigarren und eine bestaubte Flasche heraus. Der leise Spott, der verlorengegangen war, erschien wieder um seine Lippen, als er Jons ansah. »Es gibt doch Dinge, die wir ungern vergessen, Jons«, sagte er. »Selbst wenn es uns auf den Nägeln brennt. Ein gebrechliches Wesen ist doch der Mensch ...«

Er öffnete die Flasche und goß den dunklen Wein in zwei zinnerne Becher, die hinter dem Herde standen. »In memoriam, Jons«, sagte er nachdenklich. »Die grünen Sessel sind zurückgeblieben, weil ich sie nicht auf den Rücken nehmen konnte. Und manches andere auch. Aber die Erinnerung ist da, und ihr wollen wir den sokratischen Becher weihen.«

Die Flamme knisterte, und es wurde schnell warm unter den niedrigen Balken.

»Wenn Sie wollen, Jons, will ich nun erzählen«, sagte Lawrenz und blickte in das Feuer. »Wann hat es begonnen? Vor Jahren, vor Jahrzehnten, wahrscheinlich vor Jahrtausenden. Es hat nur geschlafen, und nun ist es aufgewacht. Es ist entbunden worden, und nun wächst es wie eine Flamme ...«

Seine Stimme war schlicht und eintönig, ohne Anspruch oder Klage. Die Stimme eines Mannes, der von einer Schädelstätte kam oder zu ihr geführt werden sollte. Jons sah nun, daß sein Gesicht graugelb und verfallen war, das Gesicht eines Schwerkranken, aber die Augen waren nun wieder die alten, ruhige, sanfte und von keiner Leidenschaft entstellte Augen. Nicht einmal vom Leid entstellt.

»Ja, es ist schwer zu sagen, Jons, wie so etwas geschieht. Es ist wie mit einem chemisch zubereiteten Papier, und Sie sehen nichts als die gewöhnlichen Schriftzeichen, die der Liebe, sagen wir. Aber wenn Sie das Papier übers Feuer halten, erscheinen die anderen, die bisher unsichtbaren, die des Hasses. Eines glühenden, erbarmungslosen Hasses. Und so war es doch bei uns. Daß die Liebe gepredigt wurde, von Schulen und Kanzeln, die Duldung, die humanitas. Aber sie waren nur die gewöhnliche Schrift, die Tagesmünze. Darunter lag das andere, und nun ist es da. Nicht heimlich mehr, sondern offen. Kein Laster, sondern eine Tugend, ein besonderes Verdienst, eine Auszeichnung. Vor den Alten gepredigt, den Frauen, den Kindern. Ja, auch den Kindern. Vor einem ganzen Volke, vor einem Kulturvolk, Jons.

Bei mir begann es also mit Kleinigkeiten. Mit einem gelben Strich aus Ölfarbe über meinem Praxisschild. Schwester Monika hat es abgekratzt. Noch einmal, immer wieder. Und immer wieder hat sie es abgekratzt mit ihren frommen Händen.

Dann war es an den Patienten zu merken. Einige blieben fort, mitten in der Behandlung, in einer schwierigen Behandlung. Und dann in der Klinik. Ja, auch in der Klinik für arme Leute, wo Sie einen Kaiserschnitt für dreißig Mark machten. Zwei Männer kamen ihre Frauen holen, Arbeiter, Jons, und es war erst acht Tage nach der Operation. Sie sagten nichts Besonderes, nur, daß sie zu Hause gebraucht würden. Auch ich sagte nichts, aber ich sah doch, daß die Frauen sich schämten. Frauen schämen sich ja manchmal für ihre Männer, in allen Kreisen, nicht nur bei den Arbeitern.

Und einmal wurde ich überfallen, nachts, aber es kam Polizei dazu.

Nun, und auch sonst geschahen ein paar Dinge, die aber so in der Methode liegen. Ich ging auch zu unserem Polizeikommissar, dessen Frau ich operiert habe. Er nahm mich in sein Zimmer und sah aus dem Fenster. Auch er schämte sich. ›Gehen Sie fort, Doktor‹, sagte er. ›Noch ist es Zeit. Ich sehe aus den Geheimbefehlen, wohin es treibt. Sie werden immer im Ausland ein großer Arzt sein, und ich werde für Ihren Paß sorgen.‹ Aber wie sollte ich fortgehen, Jons? Sie vertrauten mir doch, die meisten, und gerade die Ärmsten, und sie brauchten mich doch. Und dann war doch das Grab meiner Mutter da. Vielleicht war das das Entscheidende für mich. Wir sind im allgemeinen nicht sentimental, aber wir sind sehr fromm, Jons, das wissen Sie ja. Frömmigkeit kann auch ein Grab umfassen. Gerade ein Grab.

Und davon ist es auch gekommen.

Ihr hattet einen Feiertag, den heiligen Abend vor dem Osterfest, und wie in jedem Jahr ging ich mit ein paar Blumentöpfen zum Grab. In der Dämmerung erst, denn ich hatte eine lange Sprechstunde, und es war für unsereinen auch besser in der Dämmerung. Ich hatte eine kleine Schaufel mit und grub die Töpfe ein. Und noch während ich auf der Erde kniete, hörte ich den Lärm. Man hört sehr weit in solchen Zeiten, Jons.«

Er trank den Wein in kleinen Schlucken und blickte eine Weile in Gedanken verloren auf den Grund des Bechers, der aus der Tiefe silbern hervorschimmerte.

»Es war nichts Besonderes für sie, Jons. Etwas, das sie schon mehrfach getan hatten. Sie zogen zwischen den Gräbern entlang und warfen ein paar Steine um oder rissen die Blumen aus. Vielleicht war es ihnen befohlen worden, und sie waren auch in Uniform. Der alte Aufseher lief hinter ihnen her, und ich sah, daß er die Hände rang. So hell war es noch. Aber sie warfen mit Steinen nach ihm und ließen sich nicht stören. Sie waren auch zu dritt, und vielleicht waren sie etwas betrunken.

Ich verbarg mich hinter dem Stein meiner Mutter. Ja, ich hatte wohl doch ein bißchen Angst, Jons. Ich gehöre wohl nicht zu den Tapfersten. Sie waren schon vorüber, aber da sahen sie doch noch die frischen Blumen und kehrten um. Und als sie die herausrissen und mit den Stiefelabsätzen zertraten, war es mir, als wenn sie das Gesicht meiner Mutter träfen. Wahrscheinlich war es eine dumme Vorstellung, aber sie war eben da. Und da mußte ich mich zur Wehr setzen. War es sehr dumm, Jons?«

Jons schüttelte den Kopf und fuhr fort, in das Feuer zu starren.

Lawrenz hob die Flasche gegen das Licht der Flammen und goß seinen Becher wieder voll.

»Ja, ich hatte ja nichts als meine kleine Schaufel, aber sie war aus Eisen, und an einem Ende hatte sie drei scharfe, kleine Zinken. Damit schlug ich nun zu, und ich muß wohl gut getroffen haben, denn sie taumelten. Sie schlugen zurück mit ihren Riemen, aber sie flohen. Sie waren wohl zu überrascht, und es kamen auch Leute gelaufen.

Aber einer war dabei, den ich kannte. Er war aus unserer Straße, Jons. Aus dem Restaurant, in dem sie am Freitag immer Kartoffelpuffer buken. Besinnst du dich auf das Plakat im Fenster?«

Jons nickte.

»Und das war das schlimmste, Jons. Es dämmerte zwar, aber ich sah doch, daß er mich erkannte. Und auch wenn ich mich geirrt hätte, so würde ja der Stein mit dem Namen dagewesen sein. Ja, ich gab also dem alten Mann Geld, damit er die Blumen erneuern sollte. Daran dachte ich noch, Jons. Und dann fuhr ich schnell in die Stadt zurück. Nicht nach Hause, das hätte schon zu spät sein können. Aber ich fuhr zu einem meiner Patienten, der einen Wagen hat. Ein großer Kaufmann und auch ein großer Mensch. Ich schrieb einen Zettel für Schwester Monika, und sie hat mir die Sachen eingepackt. Sie hat drei Flaschen eingepackt, die Gute, obwohl ich nur eine aufgeschrieben hatte. Dann ordnete ich noch meine Vertretung, so gut es ging, und dann fuhren wir ab. Der Bart und die Brille waren in einer Faschingskiste.«

Er sah nach der Uhr und öffnete die zweite Flasche.

Jons beugte sich vor und legte Holz nach. Es war Birkenholz, und als er es in den Händen hielt, sah er wie eine Vision einen Hügel mit wehenden Bäumen, durch die der Wind ging. Er wußte nicht, weshalb das Bild vor seine Augen trat.

»Carpe diem, Jons«, sagte Lawrenz und hob den Becher. »Es war natürlich, daß ich an Sie dachte. An wen hätte ich sonst denken können? Ein alter Mann denkt immer zuerst an die Jugend. Und ich habe es ja auch so eingerichtet, daß Sie nicht in Gefahr kommen.«

Jons schüttelte den Kopf, als sei es lächerlich, daran zu denken. »Aber was soll werden, Doktor?« fragte er. Sein Gesicht war grau, wie von innerlichen Schmerzen verändert, und es ähnelte nun Michaels Gesicht, wie es einmal hier, von dieser Schwelle aus, in die Büsche des Waldes gestarrt hatte.

Lawrenz winkte nur mit der Hand, die die Zigarre hielt. »Das ist das geringste, Jons«, erwiderte er. »Ich werde einen Paß bekommen, einen großen Paß für die ganze Welt. Der Kommissar wird ihn mir besorgen. Ich brauche nur zwei oder drei Tage hier in der Stille. Sie sind vielleicht klug in diesen Dingen, aber nicht so klug, um es so schnell herauszufinden. Schwester Monika hat Ihre Briefe verbrannt, ich habe es ihr aufgetragen. Nur eines brauche ich, Jons, daß keiner von Ihnen sich hier sehen läßt. Keiner aus dem Jeromin-Haus! Nicht ein einziger! Kiewitt soll jeden Abend zu mir ans Fenster kommen. Er ist ja jetzt mein Nachbar. Durch ihn kann ich Ihnen Nachricht schicken. Ich gehe nicht aus der Hütte. Niemand soll mich sehen. Wenn niemand übrigbleibt, Jons, Sie sollen übrigbleiben.«

»Ich weiß nicht, Jons«, fuhr er nach einer Weile fort, »ob sie dort alles vernichten oder stehlen werden. Es ist ja möglich. Aber der Kaufmann hat mein Testament. Sie sollen meine Bücher haben, Jons. Das andere bleibt besser für die Armen, die Instrumente und das andere. Und auch das Bild sollen Sie haben. Ja, das möchte ich, Jons. Sie waren viel in meinem Leben, Jons Ehrenreich, mehr, als Sie wissen. Und die Mutter, sehen Sie, die Mutter gibt man doch nur in die besten Hände. Das würden Sie selbst auch nicht anders getan haben, nicht wahr?«

Jons sagte nichts. Er preßte nur seine Hände zusammen und fuhr fort in die Flammen zu starren. Das Schrecklichste war die schreckliche Monotonie dieser Stimme, das von aller Gegenwart unendlich weit Entfernte, das schon Fortgegangene und sich immer weiter Entfernende. Das nicht mehr Aufzuhaltende, mit keiner Beschwörung zu Bindende.

»Ja, das sind die Tatsachen, Jons«, sagte Lawrenz nach einer Weile. »Aber die Tatsachen sind manchmal das geringste. Auch das Brot braucht nicht immer das wichtigste zu sein, das Geheimnis ist der Keim, das, was unter der Erde liegt. Ich frage mich immer wieder, wo die Menschheit hintreibt. Nicht, wo ich hintreibe. Wer bin ich, daß ich so fragen sollte? Ist es der Geist, Jons, der sie bis dahin getrieben hat? Die ratio, losgelöst vom magischen Urgrund? Aber weshalb sind wir ihr denn nicht verfallen? Nicht wir beide, nicht Ihr kleines Dorf? Ist es also nicht ein allgemeines Gesetz? Nicht einmal ein abendländisches, sondern nur für die Entwurzelten gültig? Und weshalb sind sie gerade entwurzelt worden? Die beiden Arbeiter zum Beispiel, nicht aber Schwester Monika? Und die anderen Schwestern auch nicht? Wohin treiben wir, Jons?«

Jons wußte es nicht. Er sah sich mit Hanna neben dem kleinen Feuer liegen und hörte den Wiedehopf aus dem Walde rufen. Eine sichere, schöne, friedliche Welt. Der Saft stieg in den Bäumen, die Sonne wärmte Tier und Pflanze, die weißen Wolken kamen still von Osten herauf. Und das Mädchen hatte die Augen aufgeschlagen und leise gesagt: »Ich denke, daß Christus erstanden sein wird, morgen.«

Aber etwas anderes war auferstanden, und sein Schatten fiel lang und schwer über die österliche Erde.

»Sie werden fragen, Jons«, fuhr Lawrenz wieder fort, »weshalb ich nicht doch bleibe. Ich könnte wieder zu meinem Kommissar gehen und ihm alles erzählen. Es könnte ja doch noch ein Recht geben, ein Notwehrrecht wenigstens, auch für uns. Oder ich könnte in eine andere Stadt gehen und noch einmal anfangen. Aber ich kann es nicht, Jons. Ich fürchte mich. Ja, ich fürchte mich. Es ist nicht der Tod, Jons. Nicht einmal die Marterung, oder was sonst sein könnte. Es ist die Schändung, verstehen Sie, Jons? Das Bespienwerden. Daß man Sie nackt durch eine Straße schleppen kann, ein Schild um den Hals gehängt, und rechts und links steht eine johlende Menge. Ein alter Mann hat viel Schamgefühl, Jons, besonders wenn er immer allein gelebt hat. Wir haben nicht nackt gelebt, Jons, wir beide nicht. Wir haben nie darüber gesprochen, aber wir haben viel Würde in uns getragen, verborgene und heimliche Würde. Die Würde der Menschheit war doch eben bei unsereinem zu Hause.

Und das ist das schwerste, Jons. Es ist auch die schwerste Sünde, die sie tun: daß sie den Menschen der Würde entkleiden, ein ganzes Volk, ja, die Menschheit. Daß sie unter ihre Absätze treten, wozu wir Tausende von Jahren gebraucht haben. Es gibt keine Entschuldigung dafür, es gibt wohl auch keine Vergebung dafür.

Und daß es unser Volk ist, Jons, gerade das unsrige. Nicht daß sie mein Alter schänden, sondern daß sie es mit sich selbst tun, und wir müssen zusehen. Ein Kind sieht seinen Vater nicht gern betrunken, Jons. Es ist eine Entheiligung der Natur, schon im Alten Testament. Sie können sich einem Richter beugen, der Recht spricht, aber Sie können sich nicht einer Rotte von Straßenlümmeln beugen, die Sie anspeit. Sie haben nicht das Recht bei sich, sondern nur die Gewalt.

Die Masse, Jons, vielleicht ist die Masse der Kern des Problems. Das, was bei Katastrophen auftritt, bei der Pest, bei Erdbeben, bei Geißlerumzügen, bei Revolutionen. Das Getriebene, von Dämonen Getriebene, das Blut und Qualen sehen will; das Schaum vor dem Munde hat und Peitschen oder Beile in den Fäusten. Und das ist das, worunter wir nicht leben können, Jons. Es ist keine Kreuzigung, und viele von uns sagen ja, daß es die Strafe sei für die Stunde, in der wir gekreuzigt haben, damals auf Golgatha.«

Die Flamme erstarb, und die Birkenscheiter fielen lautlos zusammen. Der erste Vogel rief leise vor dem Fenster, und sie hoben beide den Kopf, um zu lauschen.

»Es ist Zeit, Jons«, sagte Lawrenz und sah nach der Uhr. »Niemand darf Sie sehen, und noch bleibt es dunkel, ehe Sie nach Hause kommen.«

Er stand auf, und Jons sah, daß es ihn Schmerzen kostete. Er starrte in das sterbende Feuer, und seine Gedanken mochten wohl weit fort sein. Der Kneifer schaukelte an der schwarzen Schnur leise hin und her.

»Kiewitt wird am Abend zu Ihnen kommen, Doktor«, sagte Jons. »Schlafen Sie nun, lange, den ganzen Tag. Auch ich habe dort geschlafen, viele Nächte lang. Es wird Ihnen nichts geschehen hier, und ich werde nachdenken, wie es weiter werden soll.«

»Denken Sie nicht, Jons«, erwiderte Lawrenz gütig. »Ich weiß es schon.« Er legte ihm beide Hände auf die Schultern und sah ihn eine Weile an. Es war fast dunkel in dem niedrigen Raum, aber der Rest der Glut beschien noch ihre blassen Gesichter.

»Schöne Jahre, Jons Ehrenreich«, sagte Lawrenz leise. »Schöne Jahre ... ich danke Ihnen.«

Unter den Bäumen war es noch tiefe Nacht, und Jons ging wie ein Schatten quer durch den Wald nach seinem Hause. Über dem See stand schon ein erster roter Schein, aber das Dorf schlief, und Tau tropfte von den Eichenästen in das Gras.

Hanna rief ihm leise zu, und er saß noch eine Weile auf dem Rand ihres Bettes und erzählte. »Gestern war es noch der Garten Eden, Hanna«, sagte er leise.

Sie richtete sich etwas auf und legte die Arme um seinen Hals. »Er ist erstanden, Jons«, flüsterte sie.

»Er ist in Wahrheit erstanden«, erwiderte er und küßte sie. Aber sein Gesicht war so finster, daß sie nicht wußte, wie er es meinte.

Nach dem Gottesdienst ging Hanna zu Kiewitt und kam mit der Botschaft zurück, daß er alles besorgen würde. Am Nachmittag mußte Jons über Land fahren, und als er zurückkam, saß Tobias auf der Bank vor dem Hause. Sie blieben dort beide und sahen über das Dorf hin, wo der Rauch aus den Schornsteinen stieg und von wo die Stimmen der spielenden Kinder bis zu ihnen drangen.

»Weißt du jetzt, Jons«, fragte Tobias nach einer Weile, »daß er etwas vorhat mit uns?«

Jons wußte es sehr gut.

»Wir müssen uns nun wappnen, Jons. Es ist anders als damals in den Schluchten am Toten Mann oder an dem Fluß mit dem sanften Namen, aber es ist viel schlimmer, Jons.«

»Ich denke, daß du sehr vorsichtig sein solltest«, sagte Jons. »Es geht nicht, daß sie dich einmal hier fortholen, mit dem Schein eines Rechtes. Das Dorf braucht dich mehr als jeden anderen.«

Tobias lächelte. »Ich strebe nicht nach einer Märtyrerkrone, Jons. Wenn ich bekennen muß, werde ich bekennen, aber es ist nicht nötig, den Finger hochzuheben wie in der Schule, um zuerst heranzukommen. Es scheint mir, daß einige das tun und daß nicht alle die Prüfung bestehen würden. Das Wort des Paulus von der Obrigkeit war ein gefährliches Wort, und Luther hat es noch gefährlicher gemacht. Wir wollen nun zusehen, daß wir ein bißchen von Christus bewahren in diesem Dorf.«

In der Dämmerung kam Kiewitt in seinem langen Rock und saß eine Weile bei ihnen auf der Bank. »Der Wald ist still«, sagte er nach einem langen Schweigen, »und ein Mann ging vor einer Stunde gegen Abend.«

Jons sah ihn unruhig an, aber er sagte nichts.

Erst als die ersten Sterne aufgezogen waren, schob Kiewitt leise einen Briefumschlag in Jons' Hand und stand dann auf. »Du kannst mich holen, wenn es nötig ist, Jons«, sagte er nur.

Während Jons unter der Lampe den Brief las, stand Tobias vor den Bücherreihen und blätterte hier und dort in einem der Bände, wie er zu tun liebte.

Jons wußte es gleich. Er mußte sich setzen und eine Weile warten, ehe er lesen konnte. Das Herz schlug ihm so schwer, daß die Blätter in seiner Hand zitterten.

»Lieber Jons Ehrenreich«, las er, »es ist nun nicht mehr viel zu sagen. Nicht viel mehr als die ›Tatsachen‹, denn das andere habe ich vor dem Feuer zu sagen versucht. Es ist nicht das allein, daß ich zu alt bin und mich fürchte. Ich weiß nun auch, daß es Krebs ist und daß die Auflösung beginnt. Gott hat es beides ineinandergeschlungen, und mir ist, als gehorche ich nur. Auch Saul stürzte sich ja in sein Schwert, und er war ein großer König. Ich habe einiges Gute getan im Leben, und zuletzt habe ich Dich gehabt. Erlaube mir, daß ich ›Dich‹ sage, denn die menschlichen Grenzen haben schon aufgehört für mich.

Du hast mir mehr bedeutet, als Du jemals wissen wirst. Du allein warst genug, um das andere fast auszulöschen. Fast, sage ich, denn das Ganze kann niemals ausgelöscht werden. Ich sah Dich, als Du Eisen unter den Absätzen trugst, und ich sah Dich, als Du mich heute in die Meilerhütte führtest. Dazwischen hat viel gelegen, Jons, und es war Balsam für mich. Balsam von Gilead.

Ich habe nicht Angst. Glaube es mir, daß ich keine Angst habe. Nicht mehr. Ich bin ruhig und heiter, und ich denke, daß Sokrates so gewesen ist. Ich werde dort hingehen, wo wir im letzten Sommer die Linnäa fanden. Du wirst Dich erinnern. Es steht eine verfallene Rohrhütte dort am Ufer, und ein Reisighaufen liegt auf dem Sand. Neben diesem Reisig wird es sein. Du wirst mit Tobias das Grab graben, und vielleicht wird Kiewitt euch helfen. Es ist eine gute Stelle, weil ihr den überflüssigen Sand ans Wasser tragen könnt, und rechts und links sind große Schilfwände. Tobias soll einen Psalm sprechen, und dann sollt ihr das Reisig darüberlegen. Niemand wird etwas merken, und deshalb sage ich es auch so genau. Wenn es später möglich ist, sollt ihr mich neben meiner Mutter begraben, aber ich glaube nicht, daß es möglich sein wird. Alle Erde hängt ja auch zusammen, und die Toten sind wohl alle beieinander.

Ich weiß nicht, ob Du das Kommende überstehen wirst, weil wir es noch nicht kennen. Versuche es, denn Du mußt für das Dorf dableiben. Diese Dörfer sind vielleicht das einzige, was übrigbleiben wird. Sie werden das Samenkorn bewahren, und das ist alles. Es gehört keine Prophetengabe dazu.

Lebe behütet, Jons. Ich kann niemandem einen letzten Gruß sagen, weil niemand es wissen darf außer euch zwei oder drei. Aber Du weißt, daß mein Herz mit vielen Grüßen erfüllt sein wird, ehe es zu schlagen aufhört. Es war immer so, mein Leben lang. Es war ein törichtes Herz, aber wollten wir beide je etwas anderes haben?

Lebe behütet, Jons Ehrenreich, und versuche in Gott zu ruhen!«

»Was ist es, Jons?« fragte Tobias leise und legte von rückwärts die Hände auf seine Schultern.

Er reichte ihm den Brief.

Als er aufstand, sah er, daß Tobias betete.

»Wir müssen jetzt gehen«, sagte er. »Wir müssen zu Kiewitt gehen, er hat auch Spaten für uns. Niemand darf uns sehen.« Sein Gesicht war grau, aber er weinte nicht.

Er ging in Hannas Kammer und sprach leise und eindringlich zu ihr. Für den Fall, daß jemand käme oder nach ihm verlangte.

Dann gingen sie schweigend und vorsichtig durch den Wald. Der Mond würde erst spät aufgehen. Sie trugen jeder eine Decke über dem Arm.

Kiewitt saß noch auf der Schwelle. »Ein Mann ging gegen Abend ...«, sagte er nur. Dann holte er drei Spaten und ging ihnen voran. Er wußte genau, wo die Stelle war.

Der Wald war wie ein Grab. Die Eulen riefen nah und fern, und manchmal, an den Lichtungen, kam der Duft des Seidelbastes wie eine warme Woge über sie.

Ein schwaches, fahles Licht lag über dem Ufer, von den Sternen her und dem offenen Himmelsgewölbe. Sie sahen ihn gleich, dunkel auf dem hellen Sande. Er hatte den Rucksack unter dem Kopf und die Hände gefaltet. Er lag wie ein Schlafender.

Als sie sich niederbeugten, sahen sie, daß sein Gesicht voller Frieden war. Nur das Lächeln war ausgelöscht.

Jons untersuchte ihn schnell, aber sorgfältig. Die Glieder waren schon kalt.

Kiewitt war der erste, der zu graben anfing, nachdem er seinen langschößigen Rock ausgezogen und behutsam auf den Sand gelegt hatte. Tobias sollte am Ufer stehen und lauschen.

Es gab keine Steine hier, nur lockeren hellen Sand, und nur das leise Rauschen war zu hören, mit dem er von den Spaten glitt. Die Eulen riefen immer noch, und der leiseste Luftzug schickte ein langes, kaum hörbares Flüstern durch die Schilfwälder. Dann richteten die Grabenden sich auf und lauschten, aber es erstarb schon in der Ferne. Jedesmal war es, als ginge ein Mensch leise von ihnen fort.

Als sie tief genug gegraben hatten, hing hinter dem See die abnehmende Scheibe des Mondes in den Kiefernkronen, aber sie warf noch kein Licht auf den schmalen Sandstreifen. Sie wickelten den Toten in die beiden Decken, und Jons ließ ein paar Kiefernäste in das Grab fallen.

Tobias stand zu Häupten des Toten und sprach leise den 126. Psalm: »Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden ...«

Dann ließen sie aus ihren Händen die Erde herunterrieseln und warfen dann den Sand über den Toten. Was übrigblieb, trugen sie in zwei Säcken, die Kiewitt mitgebracht hatte, an das Ufer und schütteten es ins Wasser. Zuletzt schichteten sie den Reisighaufen über das Grab und streuten frischen Sand über die alte Stelle.

Sie gingen auf verschiedenen Wegen zurück, und Kiewitt versprach, am nächsten Tag noch einmal hinzugehen und die letzten Spuren zu beseitigen. In der Meilerhütte wollte Jons noch in dieser Nacht nach dem Rechten sehen.

Aber es war nichts zu sehen. Lawrenz war ohne Spur davongegangen. Nicht einmal von der Asche seiner Zigarren war etwas zu finden, und von den Flaschen waren die Papierschilder abgekratzt. Jons sah nach, ob der Name der Firma in das Glas eingeschmolzen wäre, aber es war glatt und ohne Kennzeichen.

Er machte noch einmal Feuer im Herd und saß eine Weile davor, die Hände zwischen den Knien. Der Totenwurm pochte im alten Holz, und er lauschte ohne Gedanken. Wie hatte Tobias gesagt? »Der Herr hat Großes an uns getan, des sind wir fröhlich ...« Sind wir fröhlich? Hat er Großes an uns getan? Wer sollte es wissen? Wahrscheinlich war er aus dem Leid in das Leidlose gegangen, aber hatte das Gott getan? Hatte Gott die Hand zu diesem Tode geliehen? Zu einer Sünde konnte Gott nicht die Hand leihen, und dies war doch Sünde in den Augen Gottes. Und hatte er nicht die Hand geliehen, so hatte er auch nicht Großes an ihm getan.

Dann blieb also: »Des sind wir fröhlich«, und das erste Wort war falsch. Vielleicht waren die drei anderen Wörter richtig, dann war es immer noch gut. Ein kranker Mann und ein geschändeter Mann, mit Blut unter seinem grauen Haar. Von den Händen derer, die Grabsteine stürzten. Der für die Armen gearbeitet hatte sein Leben lang und den sie nun im Sand begraben hatten, wo die Öde war und kein Tier seine Fährte zog.

Aber ein geretteter Mann, vor der Zeit aus dem Leiden gerettet, und da konnten sie wohl fröhlich sein. Ehe die Herren »von« und ohne »von« die Hunde wieder auf ihn hetzten oder ihn Seife essen ließen. Sand war besser als Seife. Sand kam aus dem Schoß der Natur und nicht aus dem Geist der Menschen. Vielleicht lag er schon hunderttausend Jahre da, als die letzten Gletscher geschmolzen waren. Nur Sonne und Regen waren auf ihn niedergegangen, und Eis und Schnee. Und der Tritt eines Vogels hatte sich auf ihm abgezeichnet oder die Fußspur eines Kindes, das nach Muscheln suchte. Reine Kräfte, reine Dinge. Nichts Entstelltes, nichts aus einem Menschenhirn, keine Weltanschauungen.

›Dann wird unser Mund voll Lachens sein‹, hatte Tobias gesagt. Nein, er wird nur voll Erde sein, und Erde ist besser als Lachen. Auch die lachen, die Grabsteine stürzen. Lachen kommt aus den Menschen, und alles, was aus den Menschen kommt, kann böse sein oder doch böse werden. Götter und Tiere lachen nicht. Gesegnet der Mund, der mit Erde gefüllt ist statt mit Lachen. Ein schweigsamer Mund, und auch das ist gut. Was ist das Wort? Ein Trost, eine Gnade, und im nächsten Augenblick ein Tier der Tiefe. Durch den Lautsprecher geschickt, durch alle Lautsprecher der Welt. Ein Dämon, der durch die Herzen rast und sie mit Gift und Aussatz erfüllt. Alles auf des Messers Schneide: Lachen, Weinen, Worte. Es bedarf keiner Worte zum Heilen, zum Trösten, zum Lieben. Das Mädchen aus dem »Paradies« braucht keine Worte. Es braucht eine Hand, die es streichelt, ein Auge, das sich in das seinige senkt, einen Mund, der sein Haar berührt.

›Versuche, in Gott zu ruhen!‹ Ein Testament mit gelöstem Siegel. Ein großes Testament, größer als das von Königen und Fürsten. Vielleicht brauchten sie dieselben Worte, aber sie bedeuteten etwas anderes. ›Versuche, das Reich zu mehren‹, bedeuteten sie, oder den Schatz, oder die Macht. Unzählige Testamente konnte man aus Worten zusammensetzen. Aber dies war ein gelebtes Testament, schweigend gelebt, und schon die Frau mit dem Stieglitz hatte es weitergegeben.

Aber was war ›In Gott ruhen‹? Ruhte er nun in Gott, den sie in den Sand gesenkt hatten? Oder ruhte er nur im Sande? Ein Sandkorn, das man auf der flachen Hand trug, war ein Sandkorn, für jedermann. Aber was war Gott? War es für jeden das gleiche? Und war nicht vielleicht schon das Sandkorn für ein Kind ein Stück Gold, von einer Fee ausgeschüttet über die geduldige Erde?

Wie sollte er in Gott ruhen, Jons Ehrenreich, der durch die Schulen des Geistes gegangen war? Auf den Wegen, an deren Ende ›sicut Deus‹ stand? ›Wie Gott.‹ Welch ein Abgrund lag zwischen ihm und dem Vater, der den Meiler bewacht und an seinem Tisch den Propheten Jesaias empfangen hatte. Ein Abgrund mit Formeln und Zeichen, mit Lehren und Ideen, mit Bildern und Erkenntnissen. Eben mit Worten gefüllt, und hinter jedem Wort standen die Reihen der Vorstellungen auf, Gespenster, die einander bei der Hand hielten, eines hinter dem andern, bis sie am Horizont des Bewußtseins zu Punkten wurden.

Und doch mußte es etwas Großes sein, denn der Tote hatte es gesagt. Er hatte den sokratischen Becher getrunken, Wein und Schierling, und es war nicht zu überhören, was er sagte. Das wußte Jons nun schon, was groß und klein war auf der Erde, und besonders unter den Menschen. Das Kleine jagten sie nicht, die mit den Lautsprechern. Das fiel ihnen von selbst zu. Aber das Große mußten sie jagen, damit es ausgerottet wurde und keinen Schatten warf. Damit sie allein übrigblieben und um Haaresbreite über das Kleine hinausragten. Auch so konnte man groß erscheinen. Auf einer Spiegelfläche war schon ein Sandkorn groß, und im Schein einer niedrig gehaltenen Kerze konnte es sogar einen Schatten werfen, der bis an den Rand reichte.

So mußte man also warten, um es zu erfahren. Noch ruhte er nicht, außer vielleicht in seinem Dorf und seinem Geschlecht und seiner Liebe. Vielleicht war es schon Gott, vielleicht war es erst eine Stufe. Auch auf einer Stufe konnte man ruhen und Atem schöpfen.

Das Feuer verglomm, und er saß immer noch da, die Hände zwischen den Knien. Die Arme schmerzten ihn von der Arbeit mit dem Spaten, und das Herz war ihm leer. Eine verlassene Kammer, in der der Tote gewohnt hatte, unbemerkt und lautlos, aber nun war es zu merken, seit er fortgegangen war. Die Türen standen auf, das Fenster klapperte im Wind.

Aber das schlimmste war die Bitterkeit im Munde. ›Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein ...‹ Nein, sie lag wie in einer Schale voll Galle. Vielleicht konnten die anderen den Mord rühmen, jeden Mord, der ein vorwurfsvolles Auge schloß. Aber er konnte es nicht. Er war nicht erzogen worden dazu. Er hatte zehn Jahre lang und länger einen Buchfinken bewahrt und behütet. Er hatte Kinder aus einem sterbenden Schoß gehoben und um ihr Leben gekämpft. Er war zu den dreißig Morgen zurückgekehrt, damit das Brot des Lebens auf ihnen wüchse. Das war keine Weltanschauung, das war keine Idee. Es war nichts als ein Gesetz, eines der einfachsten, der ältesten, weder an Völker noch an Religionen gebunden, sondern nur an die Erde, an den Ursinn der Erde. Es war das Heilige, und wer davon abwich, versündigte sich.

Als er aufstand, mußte er sich an der Holzlehne des Stuhles halten, so müde war er. Er bedeckte die letzte Glut mit Asche und sah sich noch einmal um. Keine Spur war zurückgeblieben. Die Spinngewebe hingen ruhig an den Balken, der Totenwurm klopfte. Sie mochten hier suchen, Menschen und Hunde. Es war nichts mehr da, nur Geister waren vielleicht da. ›Zwischen den Büschen ruhen sie, und unter den Disteln sammeln sie sich.‹ Auch das stand irgendwo geschrieben. Alles Große stand im Buch der Bücher geschrieben. Gottes Wort, nicht Menschenwort, und deshalb klang es so groß.

»Gott helfe mir!« flüsterte er, als er über die Schwelle trat. Aber er wußte nicht, was er damit meinte. Seine Lippen waren müde, und sein Mund war ihm wie Asche.

Erst am Abend fiel ihm ein, daß Herr von Balk es erfahren mußte. Nichts durfte ihm verborgen bleiben, denn er war es, der über ihnen wachte. Er lenkte das Pferd von der Landstraße ab und fuhr auf Feldwegen zum Schloß. Er sah die Höhe von weitem, auf der sie zu dritt gestanden hatten und auf der Balk gesagt hatte, daß die Erde schwanke.

Balk hörte zu und sagte nichts. Er nickte nur ein paarmal vor sich hin, und dann sah er Jons mit seinen eisgrauen Augen an. »Ihr habt es recht gemacht«, sagte er, »und auch er hat es recht gemacht. Viele werden wünschen, sie hätten es ebenso gemacht. Aber uns kommt es nicht zu, Jons. Uns nicht. Er hatte seine Kranken, aber wir haben das Dorf. Er hat das vom Samenkorn gesagt, und das hat er richtig gesagt. Und wenn der Wind es verweht ... auch ein verwehtes Samenkorn kann wachsen. Und du, Jons, verbittere dich nicht. Sie warten darauf, daß wir bittere Worte sprechen, und über ein bitteres Wort läßt sich leicht das Beil heben. Bleibe beim Recht, Jons! Und erst wenn sie es dir nehmen und du es nirgends findest als bei der Gewalt, dann gehe zur Gewalt! Recht aus Gewalt ist ein schlechtes Recht, aber Gewalt aus Recht ist eine gute Gewalt.«

Er brachte Jons bis an den Wagen. »Sand ist gut, Jons«, sagte er zum Abschied. »Wenn es hier nichts wird mit Zink und Erbbegräbnis, legt mich in den Sand. Legt mich ruhig zu ihm. Er war ein stiller Mann und wird mich nicht stören. Auch nicht, wenn er aufersteht. Er wird seine Sachen zusammenhalten, ordentlich, wie er war.«

Ein Schimmer des alten Lächelns, aber nur ein Schimmer. Und doch ein Trost für den, der über die dunkelnde Straße nach dem Dorfe fuhr.

Ein paar Tage später kam ein Brief von Schwester Monika, ob Jons nichts von Dr. Lawrenz wisse. Auch daran hatte er also noch gedacht. Nein, schrieb Jons, er wisse nichts. Aber er erinnere sich, daß der Doktor bei seinem letzten Besuch von einer Reise in die Schweiz gesprochen habe, wo er sich einen Monat lang habe erholen wollen. Sie solle sich nicht beunruhigen, er werde sicherlich bald Nachricht geben.

Und wieder nach ein paar Tagen hielt am Morgen ein grauer Wagen vor der Tür, und ein Mann in einem Staubmantel stieg aus, sah sich ein bißchen um und zeigte flüchtig eine Karte mit einem Lichtbild. Ein Mann, der wie ein kleiner Beamter aussah, glattrasiert, mit einer Hornbrille, nicht unhöflich, aber doch von einer unangenehmen Sicherheit, als sei er hier zu Hause und wolle nur nachsehen, ob sein Mieter alles in Ordnung halte.

Er sah sich in dem großen Wohnraum um, blickte einmal schnell über Instrumente und Bücher und fragte dann so nebenbei, ob Jons etwas von Dr. Lawrenz wisse.

Jons nahm aus den Blättern, die auf seinem Schreibtisch lagen, den Brief von Schwester Monika und einen Durchschlag seiner Antwort und reichte ihn dem Mann, worauf er langsam seine kurze Pfeife zu stopfen begann.

Der Mann las die Briefe, ziemlich flüchtig, als hätte er sie schon einmal gelesen, und wollte dann wissen, wie lange Jons den Doktor kenne und welcher Art ihre Beziehungen seien.

»Wußten Sie, daß er Jude ist?« fragte er schließlich, und nun waren die Augen hinter der Hornbrille plötzlich kalt und scharf.

»Selbstverständlich«, erwiderte Jons höflich.

»Und Sie hatten keine Hemmungen, bei ihm zu arbeiten?«

»So wenig wie Ihr Minister Hemmungen hatte, bei einem Juden zu promovieren, das heißt, seine Doktorarbeit zu machen.«

Ein kaum merkliches Zucken der Augenbrauen über der Hornbrille und die Antwort, daß ein Minister wohl andere Zwecke damit verbinden könne als nur eine Doktorarbeit.

»Was auch bei einem gewöhnlichen Arzt und Geburtshelfer der Fall sein könnte«, sagte Jons.

Der Mann sah sich noch einmal um, ließ sich das Haus zeigen und fuhr dann schweigend wieder ab.

»Suchen sie ihn?« fragte Hanna leise.

»Ja, Kind, aber er ist ihnen weit voraus.«


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