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I

Der Landjäger Korsanke ritt auf seiner hochbeinigen Fuchsstute durch das Dorf. Er saß gerade wie immer im Sattel, und wenn der leise, kaum fühlbare Schmerz unter dem Koppelschloß sich meldete, der ihm seit Monaten Unbehagen machte, richtete er sich noch gerader auf, zog die Augenbrauen ein wenig zusammen und blickte noch strenger als sonst über die spielenden Ohren des Pferdes hinweg auf die Dorfstraße, auf der die Hühner im Sande scharrten und an deren Rändern die Fliederbüsche nun wieder zu blühen begannen.

Korsankes Haar war nun ganz grau geworden, und wenn er nach rechts blickte, konnte er hinter den niedrigen Hütten den Kirchhof sehen, die alte Mauer aus Feldsteinen, die Holunder- und Fliederbüsche, und dazwischen die Gräber. Und am Ende der Gräber die langen Reihen der kleinen Hügel, unter denen die Kinder schliefen, um deren Tod der Pfarrer Agricola ein Abtrünniger geworden war. Auch Korsankes Sohn schlief dort, so viele Jahre schon, und einen Augenblick lang zog er die Zügel an, starrte hinüber nach dem Ort des Friedens und sah das schmerzverzogene Kindergesicht, das nach Atem rang, und die Gestalt des Pfarrers, der in einem Winkel auf den Knien lag und die Arme zu Gott erhob.

Ja, viel war geschehen, lieber Gott, und den Strom der Zeit hinuntergeschwommen. Vor dem Kriege und während des Krieges und nachher. Dienstritte in Sonnenschein und Regen, tagaus und tagein. Holzdiebstahl und Schlingensteller, Trunkenheit und Prügelei. Tote hatten auf dem Moos gelegen, mit blinden Augen, die nach dem Recht riefen, und feierliche Worte waren über sie gesprochen worden. Die alte Frau in der »Armen Sünde« hatte ihre Beichte in seine Hand diktiert, und am Meiler hatte Jakob gesessen und sich am Sinn der Welt die Seele zergrübelt. Und der Kaiser saß nun nicht auf dem Thron, sondern in einem Schloß in Holland, und Korsanke hatte einen neuen Eid geschworen, einen Eid auf die Republik, aber er wußte nicht, was eine Republik war. Die Großen bestimmten den Weg des Vaterlandes, und der kleine Mann gehorchte. Auch Korsanke gehorchte. Auch in der Republik brauchte man Brot, und Brot gab es für einen alten Beamten nur, wenn man den Eid nachsprach. »So wahr mir Gott helfe ...«

Korsanke erwachte aus seinen Gedanken und ließ dem Pferd die Zügel frei. Der leise Schmerz war wieder da, aber er wollte nicht zum Arzt gehen. Er wollte warten, bis Jons Ehrenreich Jeromin wiederkam, dem sie im Kriege die Hüfte verrenkt hatten und der ein großer Doktor werden würde, ein Wunderdoktor, auf den sein Dorf wartete. Vor ihm würde er den Uniformrock ausziehen und sich nicht schämen, denn Jons hatte er auf den Knien gehalten, und er war einer von den ihrigen. Einer aus dem Jeromin-Hause, aus dem so viel Wunderliches und Erschreckendes und Tröstendes ausgegangen war.

Wieder wollten seine Gedanken in die Vergangenheit zurückgehen, aber nun schüttelte Korsanke den Kopf, richtete sich im Sattel auf und ritt die Dorfstraße weiter, wobei er hier und da zwei Finger an den Helmrand legte und ein paar Worte über Wetter und Saatenstand sprach.

Die Fenster im Schulhaus standen offen, und er konnte die weißblonden und dunklen Köpfe sehen, wie sie sich nach dem gleichmäßigen Gang der Pferdehufe wendeten, und die helle, etwas knarrende Stimme des neuen Lehrers hören, der ein »Roter« war, wie die Kätner sagten. Aber Korsanke hatte seinen Eid geschworen, und es hatte ihm gleich zu sein, ob hinter dem Schulpult ein Roter saß oder ein Schwarzer oder ein sonstwie Gefärbter. Der Eid löschte die Farben aus.

Aber als Korsanke auf der Höhe war, wo der wilde Birnbaum stand und von wo man Dorf und See und Wald und Moor überblicken konnte, seufzte er doch ein bißchen auf, zog noch einmal die Zügel an und nahm den Helm ab, der ihm die Stirne drückte. Er war ein einfacher Mann und einfacher Leute Kind, aber dies konnte er doch fühlen, daß die Erde schön war, über die er ritt. Und daß es seine Heimaterde war. Ein verbranntes Dorf, aber die neuen Rohrdächer waren schon wieder grau, der Flieder blühte an den Zäunen, und auf dem Kirchenhügel stand die dunkle Fichte, die sie den »toten Pfarrer« nannten. Wo die Nonne die Wälder zerfressen hatte, leuchtete das junge Grün, der Fischadler kreiste über dem unbewegten See, und über dem Moor lag das blühende Wollgras wie ein schimmerndes Seidentuch. Friede, soweit seine Augen reichten, Friede nach einem blutigen Krieg, und Friede, solange es denen gefiel, die dem kleinen Mann den Eid abnahmen.

Was für ein seltsamer Tag, an dem seine Gedanken weit fort waren von der Haussuchung, die er im Nachbardorf abzuhalten hatte, und die wirren Wege gingen, die in Vergangenheit und Zukunft führten. Nur in der Krankheit gab es so etwas, im Fieber, aber Korsanke war nie krank gewesen, und Fieber war keine Krankheit, solange man im Sattel sitzen konnte.

Nun kam durch die offenen Schulfenster der Geigenstrich des neuen Lehrers, ein klarer, sauberer Strich, und dann ein paar Doppelgriffe, die sich wunderlich verschlangen und lösten. Die Luft war so still, daß jedes Schwingen der Töne zu hören war.

Wieder nahm Korsanke den Helm ab, weil die Stirn ihn schmerzte und weil er meinte, so besser hören zu können. Fast wie am Sonntag war es ihm zumute. Die Glocken waren mit der Kirche im Feuer vergangen, aber auch eine Geige war schön, wenn sie sich über ein stilles Dorf erhob, und daheim in seiner alten Kiste aus der Soldatenzeit, ganz tief auf dem Grunde, lag die kleine Kindergeige, die er seinem Sohn geschenkt hatte, ehe der Kindertod über das Dorf gekommen war. Er hatte sie nicht mehr gespielt, er hatte nur ein paarmal mit seinen blassen Fingern an den Saiten gezupft, und nachher hatte Korsanke sie in das Dunkle gelegt, und selbst seine Frau wußte nicht, wo sie geblieben war.

Es sei wohl auch nichts für arme Leute, dachte Korsanke noch wie zur Entschuldigung, aber dann hörte er, wie der Geigenbogen auf das Pult klopfte und dann, wie die Kinder zweistimmig in die neue Melodie einfielen. Eine leichtfertige, aufdringliche und, wie es Korsanke schien, unfromme Melodie. Eine Jahrmarktsmelodie, wie sie unter glitzernden Karussells ertönte, und Korsanke beugte sich im Sattel vor, um die Worte des Liedes zu verstehen.

»Im Jahre Sechsundsechzig,
zu Luxemburg am Rhein,
da ward ein Kind geboren
mit Namen Humpelbein.
Zum Hia ... hia ... humpel ...
zum Hia ... humpelbein!«

Korsanke, ohne zu wissen, was er tat, setzte seinen Helm wieder auf, und eine tiefe Falte erschien zwischen seinen grauen Augen.

Die Geige fügte eine fröhliche Kadenz an das letzte Wort, und dann erklangen die Kinderstimmen von neuem.

»Das Kind wollte Schauspieler werden,
die Mutter sagte: ›Nein!
Erst mußt du beten lernen,
verfluchtes Humpelbein!‹
Zum Hia ... hia ... humpel ...
zum Hia ... humpelbein!«

Korsanke saß nun ganz gerade im Sattel, die Zügel angezogen, und lauschte. Aber es kam nichts mehr. Die Geige schwieg, der Gesang schwieg, und nur die Lerchen standen jubelnd über den jungen Saatfeldern.

Da ritt Korsanke langsam weiter, den Blick auf die Ohren des Pferdes gerichtet. So war es also nicht nur der neue Eid und nicht nur die Republik. Es war mehr, und auch seinem einfachen Verstande ging es auf. Auch bei Stilling hatten die Kinder gesungen, und auch dann hatte Korsanke das Pferd angehalten. »Wie schön leuchtet uns der Morgenstern ...«, und das hatte er besonders gern gehört. Und auch bei Martin Gollimbeck hatten sie gesungen, der nun verschollen war in den Steppen Rußlands, und es waren fröhliche Lieder gewesen, wie ein einfaches Herz sie gedichtet hatte.

Dies aber war anders, und so hatten die Kinder von Sowirog noch nie gesungen. Eine neue Zeit, dachte Korsanke, und vielleicht wäre es gut, in Pension zu gehen, ehe sie auch von den Kanzeln solche Lieder sängen ... verfluchtes Humpelbein ... und wie viele humpelten über die Straßen des Reiches, denen er begegnete, mit und ohne Krücken, und mit finsteren Augen auf ihn und das Pferd blickend ...

Erst am Rand des Moores zog er so scharf die Zügel an, daß die alte Fuchsstute sich bäumte. Er hob den Kopf und die rechte Faust, wie ein Mann, dem in allem Grübeln ein großer, leuchtender Gedanke kommt, wendete das Pferd und jagte im Galopp bis zu Daidas Hütte zurück, die die erste am Dorfende war. Dort hing, wie er wußte, eine große Landkarte aus dem Weltkrieg neben dem Küchenfenster, mit Nägeln an das Holz der Wand geschlagen und noch lange nach dem Kriege in Ehren gehalten.

Er achtete nicht auf den erschreckten Ruf der Frau, die einen Herdring fallen ließ, trat dicht an die Karte und fuhr mit dem Zeigefinger über die dunkel gewordenen Flecken der Länder links des Rheines, bis er den Namen gefunden hatte. Er atmete tief auf, sah die blasse Frau mit seinen durchdringenden Augen an und sagte: »Hab' ich doch gewußt! Liegt ja gar nicht am Rhein!«

»Was ist denn, Herr Wachtmeisterchen?« erwiderte die Frau. »Er war ja nie bei der Nacht im Walde, so wahr mir Gott helfe!«

Erst nach einer Weile konnte Korsanke lächeln. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und nickte ihr begütigend zu. »Es ist nicht von wegen deinem Mann«, sagte er, »und du brauchst nicht zu schwören. Es ist nur, weil nicht einmal die Geographie in diesem verfluchten Liede stimmt, und das hätte er wenigstens wissen können, dieser neue Heilbringer!«

Und darnach stieg er wieder in den Sattel und trabte aus dem Dorfe heraus, und er achtete nicht mehr auf die Kinderstimmen, die wieder zweistimmig aus den Fenstern des Schulhauses herausdrangen.

Korsanke ritt um den See herum, immer in scharfem Trabe, und auch den leisen Schmerz fühlte er nicht mehr. Erst als der Weißbuchenwald ihn beschattete, den die Leute »das Paradies« nannten, und in dem vor Jahren Friedrich Jeromin erschossen gelegen hatte, zog er wieder die Zügel an und nahm den Helm an der Stelle ab, wo die alte Frau aus der »Armen Sünde« den Toten bewacht hatte. So vieles trug er in seinem Gedächtnis, und nichts war verlorengegangen, weder Menschenbilder, noch Worte, noch Lieder. Nicht einmal der braune Laubhaufen, der zwischen zwei Baumstümpfen lag, und das Sonnenlicht vergoldete die verdorrten Blätter. Ein gutes Gedächtnis war ein Segen für seinen Beruf, aber Vergeßlichkeit war besser für das menschliche Herz.

Und nun ritt er nach dem Dorfe, in dem das Mädchen zu Hause war, das dem Toten die »letzte Freude« geschenkt hatte, wie Jakob am Sarge gesagt hatte, und er hatte nie den Verdacht verloren, daß ihr Bruder um das Verbrechen gewußt hatte. Gegen dieses Haus war wieder eine Anzeige bei ihm eingelaufen, einer der zerknitterten Zettel, die er so wohl kannte und auf dem mit schwarzen Buchstaben geschrieben stand, daß Rehdecken und Gehörne auf dem Boden des Hauses versteckt seien.

Er seufzte beim Weiterreiten, und es verlangte ihn nach ein paar stillen Jahren des Friedens. Nach der Arbeit an den Bienenstöcken, an dem duftenden Nelkenbeet, nach einer stillen Abendstunde bei dem alten Lehrer Stilling, der mit seiner zitternden Hand die Weltkugel leise bewegte, die vor seinen Büchern stand und vor der er so eindringliche Worte der Weisheit zu sprechen verstand. Er war es müde, nach Rehdecken und Drahtschlingen zu suchen, nach Kornsäcken und Fahnenflüchtigen. Er wußte, was Not war, Not des Leibes und der Herzen, und wer das Böse aufhellte, ein ganzes Leben lang, nahm leicht Schaden an seiner Seele, und wenn auch nur an der Freudigkeit, die Gott in jede Seele gelegt hatte.

Er ritt langsam in das kleine Gehöft ein, band das Pferd an den verfallenen Zaun und trat in die Küche. Die Frau stand am Herd und nickte ihm nur spöttisch zu. Unter dem niedrigen Fenster aber saß der Sohn, den er in dem schweren Verdacht hatte, und sein rechter Rockärmel hing ihm lose und leer herab. Korsanke hatte das nicht gewußt. Nicht daß er aus dem Kriege zurückgekehrt war und daß es so geschehen war. Die Sprache verging ihm für einen Augenblick, und er starrte wortlos auf den leeren Ärmel, und hinter dem faltigen leblosen Stoff erblickte er wieder den braunen Laubhaufen aus dem »Paradiese« und die Augen des Toten, über denen die Frau aus der »Armen Sünde« die runzligen Hände gebreitet hielt.

»Damit ist es nun nichts mehr«, sagte er endlich. »Außer wenn du mit der linken Hand allein schießen kannst ...«

Der Angeredete verzog keine Miene, und es war so still wie in der Kirche, bis die Frau einen Herdring klirrend auf die Platte warf.

Da erwachte Korsanke, nahm die kurze Leiter, die an der Wand lehnte, und stieg langsam zur Bodenluke hinauf. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe unter dem Gerümpel umher, rückte hier eine zerfallene Kiste zur Seite und hob dort ein vermorschtes Brett aus dem Fußboden. Dann zuckte er nur die Schultern und stieg wieder hinunter. Er wußte, wie es bei solchen Haussuchungen ging.

»Seid vorsichtig!« sagte er unten. »Manchmal wartet Gott auf den zweiten Arm ...«

Und dann stieg er langsam in den Sattel und ritt die Dorfstraße weiter, ohne nach rechts oder links zu blicken. Es war ihm, als ob er aus einem Gerichtssaal käme.

Er ritt nicht denselben Weg zurück. Er ritt um den ganzen See herum, langsam und in Gedanken verloren, und nur wenn die Haubentaucher am Schilfrand lärmten, hob er den Blick und ließ ihn über die weite Wasserfläche gleiten. So viele Menschen und Schicksale, so viele, so viele. Da war die Insel, auf der der arme Pfarrer gelebt hatte und auf der der Großvater Jeromin im Feuer gen Himmel gefahren war, wie Elias. Und seine Enkel und Urenkel gingen wieder über dieselbe Erde ... Solch ein Dorf, klein und arm und von Leid geschlagen, wie lag es doch tief in der Ewigkeit geborgen. Menschen vergingen und Häuser vergingen, Wälder starben und Glocken zerschmolzen im Feuer. Aber das Dorf blieb stehen, der Urgrund der Menschengemeinde. Ein Hirte trieb die Herden aus und brachte sie am Abend wieder ein. Ein Mann mit dem Sälaken schritt über das sandige Feld, der Balken des Ziehbrunnens hob und senkte sich. Rauch stieg auf über grauen Dächern, und der Wind nahm ihn und trieb ihn fort. Geschlecht auf Geschlecht, Jahrhundert auf Jahrhundert.

Und hier ritt er die sandige Straße entlang, ein kleiner Mensch in einer bunten Uniform, und dachte, daß er die Ordnung aufrechterhalte, das Recht, das Gesetz. Wieviel Torheit unter einem blitzenden Helm! Unter allen blitzenden Helmen der Weltgeschichte!

Er kam von der andern Seite ins Dorf zurück, und vorher lenkte er von der Straße ab und ritt den schmalen Steig zum verlassenen Meiler. Es gab wohl Tage, an denen man immer rückwärts ritt, so regelmäßig auch das Pferd einen Huf vor den anderen setzte.

Die Lichtung lag so still, wie sie vor tausend Jahren gelegen sein mochte. Moos wuchs in grünen Flecken auf dem erloschenen Meiler, und die berußte Stange lehnte noch daran, mit der Jakob die Glut geprüft hatte.

Korsanke zog die Zügel an und sah auf die Schwelle der Hütte, auf der Michael gestorben war. Nun saß Frau Marthe da, in ihrem schwarzen Kleid, die Hände um die Knie gefaltet, und blickte durch ihn hindurch in die sonnigen Gründe.

Es fröstelte ihn wie in einem Totenland, aber er ritt doch näher, hob die Hand an den Helm und fragte nach ihrer Gesundheit.

Sie wendete langsam die Augen nach ihm, diese erloschenen und von Gram leergetrunkenen Augen, vor denen das Dorf sich fürchtete, aber sie antwortete nicht. Er wußte auch nicht, ob sie ihn erkannte, ja, ob sie ihn auch nur sah. Oder ob er nur ein formloser Nebel vor einem weiten Lande war, und niemand wußte, was sie auf diesem Lande sah.

Das Herz tat ihm weh, als er so in ihre Augen niederblickte, die wie Augen einer Blinden waren. Wie schwer konnte Gottes Hand sein, auch in einem kleinen Leben ...

Er nickte ihr zu wie einem Kinde, ritt langsam über den stillen Platz bis zu der Höhe, wo die Wacholder standen und man auf Kiewitts Mooracker sehen konnte, und sah das weiße Pferd unter den Zwergbirken weiden. Das Pferd, von dem sie scherzend sagten, daß schon der heilige Johannes auf der Insel Patmos es gesehen hätte, aber dem sie nicht gern allein in der Dämmerung begegneten, weil es plötzlich den Kopf aufwerfen und mit seinen großen Augen in eine unermeßliche Ferne blicken konnte, indes der Wind in seine fahle Mähne fuhr und sie bewegte wie eine Herde von Schlangen.

Kiewitt war nicht zu sehen, und Korsanke war es nicht leid.

Er holte doch tief Atem, als er den Raum unter den letzten Kiefern verließ und das Dorf nun wieder vor ihm lag. Ein weißlicher Wolkenschleier hatte sich vor die Sonne geschoben, und es sah nach einem frühen Gewitter aus. Davon komme das alles, dachte Korsanke, dieses merkwürdige Reiten und der leise Schmerz unter dem Koppelschloß, diese Begegnungen mit der Gegenwart, aber die Gegenwart war eigentlich Vergangenheit, und in die Vergangenheit reichten die Toten hinein. An solchem Tage sollte man bei den Blumen sitzen und die Haussuchungen lassen. Haussuchung war wie Heimsuchung, und Heimsuchung war ein Wort aus der Bibel, ein großes und schweres Wort, und fast immer ging Gott dabei auf die Suche.

Unter ihm lag das Jeromin-Haus, und der alte Ahorn stand noch immer über dem Seeufer. Es sah schon wieder aus wie ein altes Haus, und von ferne konnte niemand erkennen, daß das Feuer des Krieges auch über diese Hofstätte gegangen war. Häuser wollten nicht jung bleiben wie Menschen, und erst zu einem alten Dach kamen die Eulen und die Unterirdischen. Sowirog hieß das Dorf, und das war der Eulenwinkel. Gute Namen hatten die Alten gewählt, und es würde gut sein, wenn es so auf dem Totenschein stünde: »Gestorben in Sowirog.« Als ob es eine gute Heimat wäre für die Toten.

Aber nun schüttelte Korsanke mißbilligend den Kopf und ritt nun wirklich den schmalen Weg zum Jeromin-Hause hinunter. Es war ihm, als grollte es leise hinter den Kiefern, und über die dunkle Fläche des Sees fiel ein fahler Glanz. Aber es war zu früh im Jahr, und er hatte sich wohl getäuscht. Es war gerade der richtige Tag, um Dinge zu sehen und zu hören, die nicht da waren.

Er hielt am Gartenzaun, zwischen zwei Fliederbüschen, und sah den beiden Kindern zu, die eine kleine, dunkle Spitzmaus beerdigten. Dem kleinen Jons, der Michaels Sohn war, und der kleinen Barbara, die Maria geboren hatte. Der eine Vater hatte erschossen auf der Schwelle der Meilerhütte gelegen, während er geboren wurde, und der andere war in den östlichen Ebenen verschollen, und noch immer saß die Mutter Abend für Abend am Rande des Moores, wo der Weg nach Osten in den Hochwald führte, und wartete, daß eine graue Gestalt zwischen den Stämmen auftauchte, ein Erblindeter vielleicht, oder einer auf zwei Krücken, oder nur einer, den Gott eben geschlagen hatte, wie den anderen ein Gendarm erschlagen hatte, einer aus Korsankes Reihen, der mit einem blitzenden Helm auf Haussuchung ging.

Er hielt ganz still und sah den Kindern zu. Das eine war schweigsam und mit einem tödlichen Ernst in dem jungen Gesicht, gerade so wie Michael gewesen war, ob er nun hinter dem Pfluge herging und den Acker des Schulzen umbrach, oder ob er auf der Schwelle lag, die Kugel in der Brust, und nach rückwärts lauschte, ob ihm ein Sohn geboren würde, ehe der dunkle Vorhang ihm über die furchtlosen Augen fiel.

Das andere war, wie seine Mutter als Kind gewesen war, wenn sie in der Jeromin-Küche die Abendsuppe kochte und die Verse des Märchens über ihre wartenden Geschwister sprach:

»Mantje, Mantje, Timpete,
Buttje, Buttje in de See ...«

Das weißblonde Haar fiel ihr in die Stirn, und manchmal strich sie es mit dem Rücken der Hand zurück, so wie ihre Mutter es getan hatte. »Zuerst Blumen«, sagte sie zärtlich, »daß die Erde es nicht drückt ...«

Jons reichte ihr gehorsam die kleinen Gänseblumen, die wie Sterne im Grase lagen, aber es war seinem Gesicht anzusehen, daß er das nicht billigte und für verkehrt hielt. »Erde ist Erde«, sagte er schließlich. »So hat auch mein Vater gesagt.«

Sie sah ihn verwundert von der Seite an und fuhr fort, das kleine Grab mit Blumen zu füllen. »Väter sagen manchmal so was«, erwiderte sie weise.

Aber dann nahm sie doch von der schwarzen Gartenerde, die er ihr reichte, und streute sie behutsam in die schmale Höhlung. »Es wird gesät verweslich«, sagte sie mit ihrer hohen Kinderstimme, »und wird auferstehen unverweslich ...«

Jons hörte mit unbewegtem Gesicht zu, aber er sah nicht auf ihre Hände, die den kleinen Hügel mit Moos bedeckten, sondern zuerst über den See hin, der wie dunkles Metall vor den Wäldern lag, und dann mit unruhigen Augen den Gartenzaun entlang, über dem der Flieder blühte. Und bei dem ersten leisen Klirren der Kinnkette an Korsankes Pferd sprang er auf wie ein junges Tier aus dem Lager, warf einen langen stillen Blick auf den Reiter und ging dann dem Hause zu, die Hände auf dem Rücken, wie ein Mann, der in Gedanken versinkt.

Barbara aber kletterte mit einem Jubelruf über den Zaun und ließ sich von Korsanke auf den Sattel vor sich heben, aber noch bevor sie das Haus hinter sich gelassen hatten, wandte sie den Kopf zurück und ließ ihre Augen über alle Büsche gleiten. »Immer geht er fort, wenn jemand kommt«, sagte sie. »Und es tut ihm doch niemand was zuleide ...«

Noch nicht, dachte Korsanke. Noch nicht ... Und er streichelte in Gedanken das helle Kinderhaar an seiner Brust. »Halte dich nur immer zu ihm«, sagte er. »Das wird ihm gut tun für alle Zeit.«

Er nahm das Mädchen bis zu seinem Hause mit, gab ihm ein Glas Honig für die Mutter und sah ihm dann nach, wie es die Dorfstraße entlanglief, und es sah aus, als tanze sie.

»Stilling war da«, sagte seine Frau. »Er hat Sorgen, weil die Mark fällt, und Jons soll doch davon studieren.«

Korsanke nickte und schob den Teller zurück. Es schmeckte ihm nicht, obwohl er hungrig war. »Sie wird noch weiter fallen«, sagte er. »Auch die Republik kann nicht alles halten, was fällt. Laß mich nun ein bißchen schlafen, ich will nachher zu ihm gehen.«

In der verdunkelten Kammer horchte er eine Weile auf den leisen Schmerz, der sich verschärft hatte, aber dann schoben sich die Dinge des Vormittags davor, Menschen, Worte und Bäume, und im beginnenden Schlaf war es ihm, als hätte er sein ganzes Leben durchschritten an diesem Tage, weit in die Vergangenheit zurück und weit in die Zukunft hinein. Als hätte Gott ihn leise heimgesucht, während er zu einer Haussuchung unterwegs gewesen sei. Und das letzte beunruhigende Gesicht war die Gestalt des kleinen Jons, wie er von ihm fortging, die Hände auf dem schmalen Kinderrücken, und das altkluge Kinderwort: »Erde ist Erde!«, das nun seinen ersten Traum zu erfüllen begann, sich immer wiederholend, mit einer eintönigen Qual, die wie die Qual eines Fiebers war.

Am Abend stieg er langsam den Hang zum »Zwergenhäuschen« hinauf, wo Stilling nun mit seiner Schwester lebte. Die Sonne beglänzte die Weltkugel, die vor den Büchern stand, und es war der Große oder Stille Ozean, der Korsanke seine blaue Unendlichkeit zuwendete.

Aber der alte Lehrer saß nicht vor der Weltkugel, sondern er stand vor seinem schmalen Lesepult, das mit Papieren bedeckt war, und hatte den weißen Kopf in seine Hände gestützt. »Sie fällt, Korsanke«, sagte er und nickte dem Gast zu. »Sie fällt, und mit ihr wird auch Jons Ehrenreich fallen, denn wovon soll er nun seine Kolleggelder bezahlen? Bin ich ein ungetreuer Hausvater gewesen, Korsanke?«

Seine blauen Augen, die im Alter nun ganz hell geworden waren, gingen bekümmert über die Bücherreihen hin, als gehe ihm nun die Erkenntnis auf, daß er diese Weisheit aller Zeitalter mißverstanden habe, weil sie ihn nicht vor dem Irrtum bewahrt hatte, daß das Geld etwas Bleibendes und Unveränderliches sei.

Aber Korsanke machte nur eine begütigende Bewegung mit seiner rechten Hand und fuhr fort, den Stillen Ozean zu betrachten, über den die feinen Linien des Gradnetzes liefen. »Mache dir keine Sorgen, Stilling«, sagte er. »Oder meinst du, daß Elisa vor einer Inflation die Waffen strecken wird? Ich habe noch nichts gesehen, wovor sie ihre Waffen gestreckt hätte. Und sie können nicht alle Studenten entlassen, die nicht ihre Taschen mit Gold gefüllt haben.«

»Ach, sie können alles, Korsanke«, erwiderte Stilling und legte seine mit Zahlen bedeckten Papiere übereinander. »Sie können Kriegsanleihen mit einem Strich zunichte machen und morgen eine neue Kriegsanleihe auflegen. Der Staat hat kein Gewissen, weißt du. Alle anonymen Mächte, hinter denen nicht ein einzelner Mensch steht, haben kein Gewissen. Schon wo zwei oder drei sich zusammentun, gibt es eine Firma oder einen Verein, aber kein Gewissen. Nur der einzelne hat es, du oder ich ... morgen will ich zum Herrn von Balk gehen, der denkt immer für sich allein, nicht wie die Zeitungen denken, wo es auch kein Gewissen gibt. Er hat Kühe und Felder, und Kühe haben keine Inflation.«

Korsanke nickte, aber seine Gedanken waren weit fort. »Meinst du, Stilling«, sagte er nach einer Weile und deutete auf den Stillen Ozean, »daß sie dort auch so leben? Die kleinen Dörfer, meine ich. Daß die Toten in den Tag hineinreichen, bis an die Türschwelle sozusagen, und daß das meiste nichtig und eitel ist?«

Stilling sah ihn prüfend von der Seite an und schob ihm dann den Tabakkasten zu. »Laß es gut sein, Korsanke«, sagte er freundlich. »Grüble nicht auf deine alten Tage. Sorge ein bißchen für die Gerechtigkeit, und das andere wollen wir dem Herrgott überlassen.«

»Ja, ja«, erwiderte Korsanke und stopfte sich langsam seine kurze Pfeife. »Aber siehst du, heute bin ich um den See geritten, und es war so ein seltsamer Tag. Es war so, weißt du, als wäre die Erde aufgetan, und ich konnte alles sehen, was verborgen war. Menschen, weißt du, und Lebensläufe, und Heimsuchungen ... ja besonders Heimsuchungen ...«

Und er sagte langsam das Lied auf, das die Kinder am Morgen in der Schule gesungen hatten. »Das singen sie nun, Stilling«, sagte er bekümmert. »Erst mußt du beten lernen, verfluchtes Humpelbein ...«

Der Lehrer lächelte hinter seinen Rauchwolken. »Laß es gut sein, Korsanke«, sagte er noch einmal. »Sie denken immer, daß sie wie Gott sind und ein kleines Dorf nur wie die ›Finsternis‹ in der Schöpfungsgeschichte, aus der sie eine neue Welt erschaffen könnten. Aber die kleinen Dörfer, weißt du, sind immer stärker als diese neuen kleinen Propheten. Denn ein Dorf besteht nicht nur aus Kindern, denen man Lieder beibringen kann. Ein Dorf besteht aus Alten und Jungen, aus Toten und noch nicht Geborenen, aus Sand und Wasser und Wald, aus Vergangenheit und Zukunft. Ein Dorf ist nämlich in die Ewigkeit eingebettet, wie ein Kind in seine Mutter, und solch ein Lied, Korsanke, macht der Ewigkeit nichts aus. Es ist nur wie ein einziger Wimperschlag in einem ganzen langen Menschenleben.«

»Ja, ja«, sagte Korsanke. »Aber siehst du, dann war da der Mann mit dem leeren Rockärmel ... und dann war die Jerominfrau vor dem Meiler ... und Kiewitts Pferd ... und zuletzt war der kleine Jons, wie er sich umdrehte und von mir fortging wie von einem Mörder, und ich war es doch nicht, der Michael erschossen hat ... ich will dir sagen, wie es war, Stilling: es war, als hätte Gott mich bei der Hand genommen heute früh, um mir zu zeigen, daß wir keine Haussuchungen halten sollen. Es ist nicht unser Haus, Stilling, es ist sein Haus!«

»Du mußt ein bißchen ausspannen, Korsanke«, sagte Stilling und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es kommen mal so Zeiten, siehst du, in denen die Uniform von uns abfällt, und sie braucht gar nicht bunt und glänzend zu sein wie deine. Das Angemaßte fällt ab, verstehst du? Das kleine Menschliche. Und wenn wir dann nackt sind, ist es uns plötzlich, als rühre Gottes Finger uns zum ersten Male an. Aber er hat uns immer angerührt, wir haben es nur nicht gemerkt durch die Uniform hindurch.«

»Und was will er? Weshalb rührt er uns an?«

»Vielleicht will er nur, daß wir die Augen aufmachen, Korsanke, so wie wir einen Schlafenden leise mit dem Finger berühren. Er will, daß wir seine Füße sehen, wie sie durch Zeit und Ewigkeit gehen. Nicht die neuen Lehren oder die neuen Lieder, nicht die leeren Rockärmel oder die leeren Augen. Sondern eben nur sein Füße, die vor uns hergehen wie eine goldene Spur.«

»Ja, vielleicht hast du recht«, sagte Korsanke nach einer langen Weile und drehte die Weltkugel langsam um ihre Achse. »Und vielleicht tut es deshalb auch wieder ein bißchen weh ...«

Stilling sah ihn bekümmert an. »Weshalb gehst du nicht zum Arzt, Korsanke? Es kann eine Kleinigkeit sein. Nach diesen Hungerjahren müssen solche Dinge kommen, und du würdest dann doch beruhigt sein.«

Der Gendarm schüttelte den Kopf und stand auf. »Ich warte, Stilling«, sagte er. »Ich warte auf Jons Ehrenreich. Ich denke mir immer, daß er wie ein Heiland zu uns kommen wird. Und siehst du, ich bin nun einmal ein bißchen komisch darin: ich könnte mich nicht ausziehen vor den Leuten in der Stadt. Zwölf Jahre bin ich Soldat gewesen, und da habe ich es ja oft genug tun müssen. Aber nun widersteht es mir. Es ist mir, als könnte ich das nur hier tun, in Sowirog, vor einem, der der Unsrige ist ... Hab nun schönen Dank, Stilling. Es ist mir doch leichter ums Herz. Und auf den Humpelbeinsänger will ich ein bißchen achtgeben, damit er nicht zu schnell wächst.«

»Das tu nur«, sagte Stilling gutmütig und begleitete ihn bis zur Tür. »Aber der liebe Gott wird schon dafür sorgen, daß er nicht zu schnell wächst. Er hat einen guten Zollstock, der liebe Gott.«

Dann sah er ihm noch eine Weile nach, wie er den Steig langsam hinunterging, ein bißchen gebeugt in den Schultern, wie niemand es bisher an ihm gekannt hatte. Und dann kehrte er an sein Pult zurück und schloß die Papiere in die Schublade.

»Aber qualmen muß er noch wie ein armer Mann, der Brot backt«, sagte Elisa und öffnete die Fenster. »Auch wenn Gott ihn schon gezeichnet hat.«

»Wen zeichnet er nicht, Schwester?« erwiderte Stilling. »Wir sind von Kindesbeinen an gezeichnet, nur daß wir es nicht sehen. Und das Rauchen gönne ihm schon. Für manchen ist Rauchen so gut wie ein Gebet.«

»Manchmal redest du wie ein Nebukadnezar«, sagte Elisa zornig. »Und manche Männer bekommen nur aus Versehen weiße Haare.«

Nach dem Abendessen setzte Stilling sich auf den kleinen Balkon unter dem Dach, der wie ein Vogelbauer aussah. Es gab nicht viel mehr Platz als für den alten grünen Ohrenbackenstuhl, aber von hier aus lagen Dorf und Wald und See fast wie auf einer Landkarte ausgebreitet, und für einen alten Mann, der sein Leben hier zugebracht hatte, war es schön, hier zu sitzen und zuzusehen und zuzuhören, wie der Friede des Abends über die Erde kam. Es gab keinen Giebel, von dem er nicht wußte, was er bedeckte, und keinen Ton im Dorfe, von dem er nicht wußte, wohin er gehörte und was er bedeutete. Das Abendrot stand groß und feierlich über Wasser und Wald, und die Welt sah aus wie aus Glas gesponnen. Ein durchsichtiges und zerbrechliches Sein, und die Kette der Kraniche über dem Moor erschien wie ein feiner Sprung im Glase, der sich mit einem leisen Tönen weiterfraß nach dem Horizont.

Eine schrille, scheltende Stimme drang von einem der Hofräume bis an das Zwergenhaus, und Stilling wußte, daß es die alte Frau Kroll war, die ihr Altenteil verteidigte. Das böse Herz des Dorfes, und weder Krieg noch Hungersnot würden sie dämpfen. Ein zweistimmiges Lied vom Seeufer, langgezogen und traurig, und eine helle Kinderstimme ging wie eine Vogelschwinge darüber hin. »Es dunkelt schon auf der Heide«, sangen sie. »Nach Hause wollen wir gehn.« Das waren die Frauen aus dem Jeromin-Haus, und die Kinderstimme gehörte der kleinen Barbara. Das Mädchen aus dem Nachbardorf, um das Friedrich gestorben war, sang nicht mehr. Es saß wohl still dabei, wie es unter Menschen zu tun pflegte, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte nach der Insel hinüber. Es hatte einmal eine Flöte gehört, die einen Zauber über Menschen und Tiere geworfen hatte, und danach sang man nicht mehr. So ein wunderliches Haus ..., dachte der alte Lehrer, und noch ist es nicht zu Ende mit den Wundern ...

Und dann kam jemand über das Moor gegangen und hatte in beiden Händen etwas an der Brust geborgen, einen Vogel oder eine Pflanze. Und das war Goguns Sohn. Der Sohn des Kranichräubers, der im Moor versunken war, den Dolch in der fröhlichen Brust, und die Kosaken hatten nach ihm wie nach einer Zielscheibe geschossen. Das schweigsamste Kind im ganzen Dorf, noch schweigsamer als der kleine Jons, und das Schicksal zog wie eine rostige Kette hinter seinen Füßen her.

Lieber Gott, dachte Stilling, wie öffnest du doch deine Erde vor meinen Augen und bin doch nur ein blinder und alter Mensch vor dir ...

Er sah nach dem hohen Walde hinüber, hinter dessen blauer Wand der verlassene Meiler stand, und am Meiler die verlassene Frau, deren Herz versteinert war. Aber Stilling wußte, daß es ein glühender Stein war, und niemand wußte, wie so etwas schmerzte, nicht einmal er. Und daß die Lichtung vor ihrer Hütte voller Gestalten war, Tote und Lebende, und daß sie lautlos die Hände um sie rang.

Aber von da gingen seine Gedanken zu Ehrenreich in die große Stadt, der über dicken und schweren Büchern sitzen mochte, und in den Büchern war Gottes Ebenbild gemalt, ohne Hüllen, ganz nackt und bloß, und die jungen Augen glitten die roten und blauen Linien entlang, die Adern und Muskeln und Nervenstränge, und in der Mitte war das große Wunder, das ewige Geheimnis, das Menschenherz. Stilling sah ihn dasitzen, das Lampenlicht auf dem hellen Haar, und hinter ihm stand die ernste Wand der Bücher, die dem toten Jumbo gehört hatten. Schweigen war in dem großen Haus, und auch der Buchfink unter seiner Decke hatte den Kopf unter den Flügel gesteckt und schlief. Nur das junge Menschenkind wachte, dessen Gesicht doch nicht mehr jung war, weil es aus einem dunklen Hause kam und durch Krieg und Sterben gegangen war, und durch Dinge, die schwerer waren als Krieg und Sterben. Aber es war hindurchgegangen, weil sein Vater und Großvater hinter ihm gestanden hatten, eine erhobene Tafel in ihren verarbeiteten Händen, und auf der Tafel stand das Gesetz der armen und rechtlichen Leute, die »Gerechtigkeit auf dem Acker«, oder wie man es nun nennen wollte. Und hinter den Vätern stand das Dorf, das kleine und unbekannte Dorf Sowirog, in dem er gegen den Tod kämpfen wollte. Und hinter dem Dorf alle anderen kleinen und unbekannten Dörfer der Erde, die große, die unendliche Gemeinde der Armen und Mißhandelten, und wenn der Lesende einmal die Augen von den Blättern und Bildern hob, mochte er sie wohl alle sehen, die im Schatten standen und warteten, von Korsanke an, mit seinem leisen Schmerz unter dem Koppelschloß, bis zu der geschlagenen Frau vor dem erloschenen Meiler, und das Pendel der alten, wurmstichigen Uhr, die Jumbo bei einem Trödler erworben hatte, mochte mit jedem seiner eiligen und etwas heiseren Schläge ihn daran erinnern, daß es für ihn keine Müdigkeit zu geben habe, keine flache Lust, kein Sichverweilen. Das Salz der Erde wartete, daß er es dämpfe, wie der alte Gastwirt gesagt hatte, und der hatte nicht zu schlafen, um dessen Lager die Tränen fielen.

Stilling hatte die Hände gefaltet und den Kopf an den grünen Rips des Stuhles zurückgelehnt. Der Abendstern stand nun schon leuchtend über dem Kiefernwald, die Dächer waren zu dunklen Flecken geworden, die Stimmen waren verstummt, und ein paar matte Lichter hoben sich verloren aus der fallenden Nacht. Die Fliederbüsche dufteten, und von den Nebeln über dem Moor kam der Geruch der Birken in schweren Wellen über das Dorf. Die Erde atmete, lautlos und wie eine unendliche Zuversicht, und der alte Mann saß dort über Nebel und Dunkelheit, unter dem hellen Schein seines weißen Haares, das stille Gewissen des Dorfes, und sein siebzigster oder fünfundsiebzigster Frühling war ihm so schön wie irgendeiner seiner Kinderzeit. Das Dorf Sowirog, das der Eulenwinkel hieß, was hatte der Herr mit ihm vor, indes die Sterne sich langsam entzündeten und über den Wald stiegen?

Er wußte es nicht, aber er hielt die Hände gefaltet und fühlte die große Geduld, in die sein Herz eingebettet war wie die Sterne in das dunkle Himmelsgewölbe.


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