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IX

Es war mit den letzten Stationen der Prüfung, wie Lawrenz und seine Handbewegung gesagt hatten. Was Jons in Erstaunen setzte und ihn sogar ein bißchen beschämte, war die Erkenntnis, daß die Fakultät ihm nicht nur Wohlwollen zeigte, sondern daß sie ohne Zweifel stolz auf ihn war. Ja, der große Chirurg hatte mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt: »Und das geht nun in die Hinterwelt, wo die Leute vor zehn Jahren noch gebellt haben!«

»Wenn es so wäre, Herr Professor«, hatte Jons gesagt, »könnte ich ihnen doch das Sprechen beibringen.«

Am liebsten aber erinnerte er sich später der Prüfung bei dem Anatomen. Dem Geheimrat war die Prüfung sehr gleichgültig gewesen. Er hatte ein bißchen gefragt und ihn ein bißchen zeichnen lassen, aber er schien kaum auf die Antworten zu hören, und die Zeichnungen sah er flüchtig an und legte sie dann zur Seite.

»Was ist nun wichtiger, Jeromin«, sagte er, »den Keuchhusten in irgendeinem Eulenwinkel zu bekämpfen oder hier eine Generation von Ärzten zu erziehen, die eine alte Wissenschaft oder ein neues Gewissen erwerben könnten?«

»Das erste ist wichtiger, Herr Geheimrat«, erwiderte Jons ohne Zögern. »Keuchhusten kann schrecklich sein, für die Kinder und noch mehr für die Mütter. Wenn ich nicht hingehe, ist niemand da, oder es ist nur der Doktor Lustig da, der Rechnungen schreibt und weder für die Kinder noch für die Mütter lustig ist. Das neue Gewissen aber, Herr Geheimrat, das wird von keiner einzelnen Menschenhand gereicht. Und der Herr von Balk hat mir früh gesagt, daß der Bauer, der Mist auf seine dreißig Morgen fahre, mehr für die Gerechtigkeit tue, als der Prophet Jesaias getan habe.«

»So so ... der Herr von Balk ...«, sagte der Geheimrat und sah aus dem Fenster. »Es scheint dort eine ganze Menge kluger Leute zu geben, in Ihrem Eulenwinkel, auch ohne Universität, und sie haben wohl nicht viel Zutrauen zu unsereinem?«

»Nicht sehr viel«, erwiderte Jons. »Vielleicht liegt es daran, daß sie nicht in Ideen denken.«

Der Geheimrat nahm eine der Zeichnungen wieder vor und betrachtete sie mit abwesendem Blick. »Und wie denken sie denn wohl sonst?« fragte er.

»Ich glaube, daß sie ... daß sie in Menschen und Schicksalen und in Feldern denken.«

»In Feldern zu denken, braucht nicht schlecht zu sein«, sagte der Geheimrat und legte die Zeichnung wieder fort. »Es ist so, als ob man in Brot denkt, und es gibt ja auch ein anderes Brot, ein letztes gewissermaßen, und daran denken sie vielleicht ...«

Das meinte Jons auch. Er hoffte es wenigstens.

»Nun, dann vergessen Sie es nicht, Jeromin«, sagte der Geheimrat und stand auf. »Das letzte Brot wird der Mensch einmal brauchen, und vielleicht wird es bald sein ... es war eine schöne Prüfung, und ich danke Ihnen.«

Er reichte Jons die Hand, nickte dem Protokollführer zu, der ihnen wie ein Taubstummer zugehört hatte, und ging mit seinem schweren Gang aus dem Zimmer. Für Jons sah es aus, als trage er die ganze Bürde der Universität auf seinen breiten Schultern. Dieser Universität, die längst verlernt hatte, Menschen zu bilden, die »in Feldern dachten«.

Als Jons das alte, düstere Gebäude verließ und die schwere Tür hinter ihm zufiel, war es ihm nun doch wie ein Traum. Er blieb auf der Straße stehen, in seinem blauen, sauber gebürsteten Anzug, denn einen Frack besaß er nicht, stopfte langsam seine kurze Pfeife und blickte dabei zu dem Frühlingshimmel auf, der sich hoch und blau über den Häusern spannte. Eine ernste Freude erfüllte sein Herz, ohne besondere Fröhlichkeit, eine einsame Freude gleichsam, eine ohne Widerhall. Die meisten würden sich wohl nun betrinken, wie es dort üblich war, oder zu ihren Mädchen gehen. Und er stand hier, auf der verlassenen Straße, und drückte den Tabak fest, bis ein alter Straßenpflasterer, der auf einer Hausschwelle sein Frühstück aß, ihn fragte, ob er Beton in seiner Pfeife mischen wolle.

Da lächelte Jons, nickte ihm zu und ging langsam zum Strom hinunter und am Wasser entlang, wo das Schilf nun schon grün wurde und die Kiebitze über den Wiesen klagten. Er war nun fünfundzwanzig Jahre alt, viel zu jung für seinen Beruf, aber als er auf einer der Buhnen saß und sich über das still ziehende Wasser beugte, war ihm, als müßte sein Haar grau sein. Die Härte, die Kargheit, die Einsamkeit aller Jahre warfen sich noch in der Erinnerung wie ein Berg über ihn. Hoffnung und Liebe waren an ihn gewendet worden, viel Hoffnung und viel Liebe, aber er war doch getrieben worden, auch von ihnen. Menschen hatten ihn ausgewählt, ein ganzes Dorf, und hatten ihn ausgeschickt, das Wasser des Lebens zu finden. Vom Großvater an, der ihn gesegnet hatte, aber der doch gesagt hatte: »Gehe nun, Enkelkind!« Vom Vater an, der auf seinem Laublager leise gesagt hatte: »Ich fürchtete, du würdest bleiben, Jons ...« bis zu Stilling, der seine goldene Uhr verkaufen wollte, und bis zum Herrn von Balk, der Roggen und Wald für ihn verkauft hatte. Eine lange, schweigende Reihe stiller Männer und Frauen, die in der Ferne gestanden hatten, Jahr für Jahr, und ihm zugesehen, wie man einem zusieht, der eine Last eine Leiter hinaufträgt. Die nichts gesagt hatten, kein Wort der Ungeduld oder der Enttäuschung, aber die gewartet hatten, wie Kinder in einem dunklen Hause auf die Großen warten, die zum Jahrmarkt gegangen sind und versprochen haben, ihnen etwas mitzubringen.

Und nun würde er also zurückkommen vom Jahrmarkt, von dem der Wissenschaft und anderer glänzender Dinge. Er hatte kein Geld vertan, er hatte keine Zeit vertan. Nur ob er ein Stück Leben vertan hatte, wußte er noch nicht. Er hatte nicht »in Brot gedacht«, wie der Geheimrat gesagt hatte. Er hatte in lateinischen und griechischen Namen gedacht, in Bildern und Instrumenten, in Rezepten, Messern und Scheren. Er hatte im Geist des Abendlandes gedacht, und oft war er nicht sicher gewesen, ob es derselbe Geist sei wie der seines Dorfes. Ja, ob es der richtige Geist sei oder nur ein allgemein anerkanntes Trugbild, auf dem eine Weltordnung sich aufbaute, und eines Tages könnte es sein, daß die Weltordnung nicht mehr gelte und eine andere an ihre Stelle rücke, die des Großvaters etwa, oder eine künftige, von der noch niemand wußte.

»Wie ist es nun mit der Wahrheit, Jeromin?« hatte der Leutnant in dem schlammgefüllten Trichter gefragt. Und auch heute, zehn Jahre später, würde Jons die Antworten nicht wissen. Vielleicht wußte das Wunderkind sie, und vielleicht wußten die Toten sie. Vielleicht auch wußte Tobias sie, der seinen Gott gegen das Abendland verteidigte. In dem die vielen Kirchen standen, aber in dem Gott doch wohl nicht ganz zu Hause war. Gott, der lieber bei den Einfachen wohnte statt bei den Klugen, und der im letzten Kriege gezeigt hatte, daß seine Lieblingskinder wohl nicht hier zu Hause waren.

Jons blickte den Strom hinauf, wo über dem anderen Ufer die verrosteten Überbleibsel der Wellbleche lagen. Gras wuchs über sie hin, und die Menschenstimmen waren vergangen, die hier vor Jahren einander begegnet waren. Der Schmerz war nun sanft geworden in der langen Zeit der Arbeit und der Mühsal. Er fraß nicht mehr und zehrte nicht mehr. Er lag still und manchmal vergessen, und nur wenn man die Hand auf ihn legte, war er gehorsam da. Ein schweigsamer Gefährte, der nur antwortete, wenn man ihn fragte.

Ein Dampfer kam langsam den Strom herunter, von einem Schlepper gezogen. Die britische Flagge wehte am Heck, und Jons konnte ohne Mühe die goldenen Buchstaben am Bug lesen: Excelsior. Verse unter diesem Namen fielen ihm ein, die er einmal auf der Schule gelernt hatte, sittliche und ermahnende Verse, und er sagte sie leise vor sich hin. Aber sie erfüllten sich nicht mit einem gegenwärtigen Sinn, sie waren schön und tot, wie Verse auf einem Katafalk.

Es hätte auch der Dampfer mit dem Namen »Margreta« sein können, ein alter Dampfer nun, mit etwas stöhnenden Maschinen und einer ausgebleichten Flagge am Heck. Aber der Name würde immer noch leuchtend gewesen sein, jung und gegenwärtig, nicht sittlich und nicht ermahnend, geringer als der Excelsior-Name, aber mit Glück gefüllt wie der Name einer Göttin.

Er seufzte ein bißchen und stand auf. Er hatte sich das nun angewöhnt, manchmal ein bißchen zu seufzen, wenn er allein war, wie ein alter Mann, der den abgestellten Sack wieder auf den Rücken hebt. Aber er konnte noch lächeln darüber wie über eine Torheit, und solange war es wohl nicht schlimm. Ein Erbteil wie so viele andere, Erbteil eines Geschlechts und eines armen Dorfes, und man trug es still mit sich, ohne viel davon zu wissen.

Ja, nun müßte er es doch wohl ein bißchen feiern, dachte er, als er langsam in die Stadt zurückkehrte. Aber wie sollte er es feiern? Er war das Feiern nicht gewohnt. Er war nur Arbeit gewohnt, ohne Feiertage, und das mußte er nun also auch lernen. Zuerst würde er schlafen, einen tiefen, seligen Schlaf, den Schlaf eines Mannes, der seinen Dachstuhl errichtet und mit Rohr gedeckt hat. Und dann würde er mit Fräulein Holstein Kaffee trinken und abends bei Lawrenz sitzen. Und in kein Lehrbuch sehen und kein Kollegheft öffnen.

Und morgen würde er für ein paar Tage nach Sowirog fahren und am Ackerrain sitzen und zusehen, wie sie ihre sandigen Felder pflügten. Und dann würde er während der Semesterferien auf Reisen gehen. Lawrenz hatte es befohlen, und er würde gehorchen. Zu Gina würde er fahren und zu dem Stabsarzt, der den grünlichen Knopf aus seinem Körper geholt hatte, und wahrscheinlich zu Tobias, der in einer Industriestadt Pfarrer war. Und nach seiner Rückkehr würde er bei den großen Spezialisten hospitieren oder vielleicht Assistenzarzt sein. Und im nächsten Frühjahr würde am Jeromin-Hause das Messingschild angeschraubt sein: »Dr. Jons Ehrenreich Jeromin, Arzt und Geburtshelfer.« Die Leute in Sowirog würden davor stehenbleiben, auch wenn sie gar nicht krank waren. Besonders aber die Kinder. Und in den Nächten würden die Toten davor stehen und mit ihren leeren Augen auf das matte Metall blicken. Auch sie hatten ihren Anteil daran, und nicht den geringsten.

Er lächelte nun doch, als er die Treppen hinaufstieg, und fast hätte er Fräulein Holstein einen Kuß gegeben. Aber er wußte nicht, wie es ausgehen würde bei ihr, und so ließ er es.

Am Nachmittag saß sie in der Sofaecke, und er bewirtete sie. »Noch ein Jahr, Herr Jons«, sagte sie, »und was dann?«

»Dann zieht ein richtiger Student ein, Fräulein Holstein, einer mit einer bunten Mütze, der die Hacken zusammenschlägt und mit dem Sie keine Sorgen haben. Früher haben Sie nicht geglaubt, daß die Mark jemals fest werden würde, und nun glauben Sie nicht, daß ein ordentlicher Mensch hier einziehen wird. Ein bißchen muß man schon an das Leben glauben, Fräulein Holstein.«

»Meinen Sie, Herr Jons?« fragte sie verzagt. »Aber Sie werden nicht mehr da sein ... nur die Schwestern und die Bande ...«

Dann zog sie aus der tiefen Tasche ihres schwarzen Kleides ein Lederkästchen heraus und reichte es Jons. »Für Ihre Schwester, Herr Jons«, sagte sie errötend. »Nicht für die Gräfin. Für die andere, die noch immer wartet. Ich denke, daß sie so gut ist wie Sie, und das hat meiner Großmutter gehört.«

Eine altmodische goldene Brosche lag auf dem Samtgrunde des Kästchens, matt vom Alter, aber schön in der Form, und er freute sich sehr.

Fräulein Holstein war schon aufgestanden, hatte die Kuchenkrümel von ihrem Kleid gestrichen und stellte leise das Geschirr zusammen. »Sie würden es mir doch fortnehmen ... wenn ich sterbe«, sagte sie ohne Bitterkeit.

Auf dem Wege zu Lawrenz saß er noch eine halbe Stunde unter der Glaskugel des Schusters. Das von der Kellerluft grau gewordene Gesicht mit den leuchtenden Augen war dem kleinen Fenster zugewendet, hinter dem man nur die Beine der Vorübergehenden sah. »Das ist die Bourgeoisie, Herr Doktor«, sagte er verächtlich. »Sie lustwandelt noch. Nur Beine und ein Stück Magen. Aber sie wird aufhören zu lustwandeln. Drei Millionen Arbeitslose, und in ein paar Jahren werden es sechs sein! Und unter den sechs werden fünf Millionen Revolutionäre sein ...«

»Und dann?« fragte Jons lächelnd.

»Dann wird die neue Zeit gekommen sein, Herr Doktor!«

»Ach, Moraffke«, sagte Jons, »mein Doktor sagt, die neue Zeit ist eine alte Zeit, und wenn ich mir die Fackelzüge ansehe, weiß ich nicht, ob Sie fünf Millionen bekommen werden. Sie sollten ein Roggenfeld haben, Moraffke, dann würden Sie nicht an die neue Zeit denken, sondern nur an die Jahreszeit.«

»Und die Junker werden es mir schenken, das Roggenfeld, was? Enteignung, Herr Doktor, Enteignung! Derselbe Schnitt, als wenn Sie ein Geschwür aufschneiden!«

»Wir schneiden nicht gern, Moraffke«, sagte Jons und stand auf. »Wir heilen lieber ohne Messer.«

»Das ist es, Jons«, sagte Lawrenz, lehnte sich zurück und sah den Wolken seiner Zigarre nach. »Daß sie das Heil von Weltanschauungen erwarten. Es ist so, als wenn Sie einen Wald durch Gläser betrachten, einmal rote, einmal blaue, und so weiter. Ja, selbst wenn Sie ihn nur durch Ihre Augen betrachten, wissen Sie noch nicht, ob er grün ist. Sie wissen nur, daß er auf der Retina mit dem erscheint, was wir ›Grün‹ nennen. Sie würden wahrscheinlich ebenso glücklich sein, wenn er Ihnen blau erschiene. Und was haben wir schon gewonnen, wenn wir wissen, daß er grün oder blau ist? Ist das sein Geheimnis? Er hat ganz andere Geheimnisse, Jons. Um Weltanschauungen einander totschlagen, ist das Schlimmste, was es auf dieser Erde gibt. Helfen und heilen, Jons, das Rechte tun und nicht hassen.«

»Aber Ihr Volk, Herr Doktor, hat es nie gehaßt?«

»Es hat mehr gehaßt als andere, Jons, tiefer, glühender und erbarmungsloser. Lesen Sie den Fluch, mit dem es Spinoza ausgestoßen hat! Aber es hat sich damit auch den tiefsten Haß erworben, den es auf dieser Erde gibt. Wir haben zu überwinden, Jons, das Gestrige, das Dunkle. Unsere Väter, unsere Nationen, unsere Rassen. Gott hat uns nicht an die ersten Gesetze angeschmiedet. Er hat uns nur an die letzten angeschmiedet, die in der Ferne liegen.«

»Fürchten Sie sich manchmal, Herr Doktor?«

»Ich fürchte mich immer, Jons. Aber nur aus der Furcht gibt es Tapferkeit. Aus nichts gibt es keine Tapferkeit. Ohne Furcht gibt es nicht einmal Helden. Ich fürchte mich, weil ich unter Menschen lebe, Jons.«

»Ich gehe nicht so zurück, wie ich gedacht hatte, Herr Doktor«, sagte Jons nach einer Weile. »Ich bin nicht so sicher, wie ich es mir vorgestellt hatte.«

»Worin wollen Sie sicher sein?«

»Nicht im Beruf, Herr Doktor. Dort gibt es keine Sicherheit, nur Zutrauen und guten Willen. Ich wollte im ganzen sicher sein.«

»Im ganzen, Jons«, sagte Lawrenz leise, »sind nur die Gläubigen sicher. Sie können sich fürchten, aber sie sind sicher. Ihr Vater war es, Ihr Großvater. Die Enkel sind es nicht mehr. Ich kann nicht sagen, woran es liegt. Es liegt nicht am Geist allein. Ich kann nur glauben, daß Gott dahinter steht. Auch hinter dem Unglauben. Er will etwas damit, und es ist wie ein Gewitter hinter dem Horizont.«

»Aber es wird ein schweres Gewitter, Herr Doktor?«

»Das schwerste, das je über die Erde ging. Ich kann es nicht beweisen, Jons, aber ich fühle es. Auch von den Tieren sagt man es, daß sie ein Erdbeben voraus wissen. Es gibt Zeichen, und es kommt nur auf ihre Deutung an. Vielleicht deute ich sie falsch. Vielleicht wird Kiewitt sie richtig deuten. Manchmal sucht Gott sich ein geringes Gefäß ...«

Sie besprachen es so, daß Jons auch nach seiner Reise jeden Abend für eine oder zwei Stunden in die Klinik kommen sollte. »Die Kranken werden Sie entbehren«, sagte der Doktor, »und Sie sollen auch in der Übung bleiben. Gott hat auch Nasen und Ohren geschaffen, aber in der Hauptsache hat er doch Menschen geschaffen, Jons.«

Jons sah sich noch einmal um in dem stillen Raum, bevor er ging. »Es wird mir schwer werden, ohne dies zu sein, Herr Doktor«, sagte er. »Sie wissen wohl nicht, wieviel ich hier empfangen habe?«

Lawrenz lächelte auf seine schöne schwermütige Weise und legte seine Hand behutsam auf Jons' Arm. »Ich würde es wissen«, erwiderte er, »wenn Sie wüßten, wieviel ich hier empfangen habe.«

Am Bahnhof war Stilling mit einem kleinen Korbwagen und einem kleinen Pferd. Er trug seinen Hohenzollernmantel, aber sein weißes Haar war unbedeckt. Er umarmte Jons auf dem Bahnsteig und wollte etwas sagen, aber es gelang ihm nicht, und er bewegte nur die Hand, die die Peitsche hielt. Kein Fuhrmann in Sowirog ließ die Peitsche im Wagen oder Schlitten, wenn er ausstieg. Peitschen zu stehlen, galt nicht für ehrenrührig.

»Der Herr von Balk wollte dich holen, Jons«, sagte Stilling im Wagen. »Vierspännig, wie man den Kaiser holt. Aber ich habe gebeten, es nicht zu tun. Ich dachte, es würde dir nicht recht sein. Die großen Herren wissen nicht immer, wie es den armen Leuten recht ist. Und vierspännig soll man ja in der Stadt zu Grabe fahren, nicht?«

»Meistens«, erwiderte Jons, »und soweit ist es ja mit uns noch nicht.«

Es war ein stiller Tag mit weißen Wolken, unter denen die Lerchen hingen. Die Felder waren grün, und die Bussarde kreisten über den Saaten. Es war der alte Weg, ausgefahren wie früher, und die Leute von Sowirog waren ihn in Fröhlichkeit, in Trunkenheit und Trauer gefahren. Korn und Särge waren über seinen Sand dahingezogen, und auch Jons hatte hier hinter zwei Särgen gesessen. Ein alter Mann mit einer Landsturmmütze war ihn gegangen und viele Junge mit Blumen an der Mütze. Er war ein Schicksalsweg für Sowirog, und Jons blickte mit stillen Augen auf die Löwenzahnwiesen, hinter denen die blauen Wälder standen. »Es ist mir feierlich ums Herz, Herr Stilling«, sagte er leise.

Stilling ließ die Leine noch lockerer und nickte. »Und mir, Jons Ehrenreich, ist es, als könnte ich nun in Frieden in die Grube fahren. Ich habe nicht bis zum Ende bestanden, sie fiel zu rasch. Aber einen guten Teil habe ich bestanden. Zum Schluß wollten sie mich noch einsperren, aber es war meine eigene Dummheit, Korsanke hatte mich gewarnt.«

Und er zog die Leine an, bis das kleine Pferd bereitwillig hielt, nahm die Uhr aus der Tasche und drückte auf die Feder. »Treu und Redlichkeit, Jons«, sagte er, als die Töne verklungen waren. »Mehr braucht es nicht für unsereinen. Und wenn es für dich mehr braucht, der du von den hohen Schulen kommst, so laß dies doch immer auf dem Grunde liegen, wie das kleine Pferd bei Jakob auf dem Grunde des Tornisters lag. Und wenn ich sterbe, so sollst du die Uhr haben. Ich habe es aufgeschrieben und auch Elisa gesagt. Sie hat nicht widersprochen, und ich glaube, daß es so ziemlich das erstemal in ihrem Leben war.«

Er lächelte ganz leise und hob wieder die Peitsche.

Der Wald nahm sie auf, und die Böschungen waren noch blau von den Sternen der Leberblümchen. Die Drosseln sangen wie berauscht, und die Spechte hämmerten in den trockenen Wipfeln. »Alle waren gut zu mir, Herr Stilling«, sagte Jons und legte seine Hand auf die alten Hände, »aber niemand hat soviel getan wie Sie. Ich will Ihnen Ehre machen.«

Der Lehrer nickte. »Die Mutter hat es gewußt, Jons Ehrenreich, als sie dich so nannte. Und der Vater. Wir wollen die nicht vergessen, die hundertmal mehr getan haben als ich.«

»Ich hatte Angst, Herr Stilling«, sagte Jons nach einer Weile. »Ich war nicht sicher. Nicht des Berufes wegen, aber im anderen. Im ganzen. Ich war nicht sicher im ganzen. Die Zeit ist trächtig, Herr Stilling. Sie laufen zu Sterndeutern und Wahrsagern. Sie lassen das Pendel schwingen und lesen im Nostradamus. Sie sind wie Verstörte, alle, auch die Studenten. Lawrenz sagt, daß es wie ein Gewitter hinter dem Horizont stehe.«

»Auch Kiewitt sagt es«, erwiderte Stilling. »Ich fühle es nicht. Ich bin zu alt, und ich habe die Bibel. Und wer die Bibel hat, hat nicht Angst.«

»So sagt es auch Lawrenz.«

»Ich fühle, Jons, daß eine neue Zeit da ist. Im Schulhaus tritt sie schon an. Die Kinder folgten ihr noch nicht, denn sie haben ihre Mütter und ihre Lämmer und ihre Beeren. Und manchmal haben sie auch mich. Aber der neue Lehrer tritt an. Er lächelt über das Alte, und damit hat es immer angefangen. Hier sagen sie noch ›Herr Vater‹ und ›Frau Mutter‹. Wenn sie damit aufhören, wird es auch hier anfangen ... Du wirst nicht nur ein Doktor zu sein haben, Jons.«

Nein, das wolle er auch nicht. Und nun habe er auch keine Angst mehr, seit er in diesem Wagen sitze. Nur die Gläubigen seien sicher, habe Lawrenz gesagt. Er habe den Gott seiner Väter, und Herr Stilling habe die Bibel. So reich sei er, Jons, wohl nicht. Aber er habe ein ganzes Dorf mit allen Lebenden und allen Toten, und noch einiges dazu. Er wisse, daß er auf einem Grunde stehe und daß viele auf ihn blicken würden. Und wer den armen Mann enttäusche, sei keine alte goldene Uhr wert. Er sei immer enttäuscht worden, von Königen und Präsidenten, aber das vermute er sich nicht, daß er von einem des eigenen Blutes enttäuscht werde.

An den ersten Schonungen standen Kinder, die Birkenzweige geschnitten hatten. »Wir wollen sie fahren lassen, Herr Stilling«, bat Jons. »Ich möchte gern zu Fuß ankommen.«

»Manchmal denke ich«, sagte er nach einer Weile und deutete auf den Wald, »daß es ganz gleich ist, wem dies gehört. Ob dem Staat, oder dem Herrn von Balk, oder den Leuten von Sowirog. Ich kann nicht denken, wie der Schuster Moraffke denkt. Nur daß es da ist, ist wichtig. Nicht der Wirtschaft wegen, sondern der Augen und der Seele wegen. Können Sie sich ein Land ohne Wald denken, Herr Stilling? Wir würden alle anders sein, wenn dieser Wald nicht wäre.«

Er blieb stehen und blickte in die sonnigen Räume hinter den grauen Stämmen. Der Seidelbast blühte, und Zitronenfalter schwankten über dem hohen Gras. Es ging kein Wind, aber die Wipfel sangen ganz leise und unaufhörlich. »Ich bin zu Hause, Herr Stilling«, sagte er. »Ich bin ganz und gar zu Hause.«

Sie hatten das Dorf mit den Fahnen vom Abstimmungstag geschmückt und junge Birken vor die Türen gestellt. Sie waren im Feiertagskleid, und sie schüttelten ihm alle die Hand. Er war einer der Ihren, aus bescheidenem Blut, und nun sahen sie den Kranz in seinem Haar. Für sie war es ein Kranz, aus Lorbeer oder gar aus Gold. Keiner von ihnen hatte je einen Kranz getragen, außer dem schmalen Myrtenkranz zur Hochzeit. Er aber hatte sich aufgehoben aus ihren gebeugten Reihen und war groß geworden. Und größer als alles war, daß er zu ihnen zurückkehrte. Er hätte reich und berühmt werden können, davon waren sie überzeugt, aber er kehrte zurück. Bei ihnen gab es weder Reichtum noch Ruhm, und wer groß war und zurückkehrte, konnte es nur aus Liebe tun. Das fühlten sie, und deshalb empfingen sie ihn, wie sie nur den König empfangen haben würden.

Herr von Balk hatte die Einladungen ausgehen lassen. Wenn es schon mit der vierspännigen Einholung nichts geworden war, so sollte es doch ein Fest sein. Niemand wußte, wie lange diese Erde noch stehen würde, und niemand wußte, wie lange er selbst noch Feste würde feiern können.

Sie hatten die Tische unter dem Ahorn aufgestellt, der in Blüten stand, und die Tischtücher mit Blumen und Zweigen belegt. Der See lag blau und flimmernd in der Sonne, und die Kiebitze warfen sich über den Schilfwäldern durch die blaue Luft. Maria küßte ihn mit Tränen in den Augen, und er ging einmal durch das Haus, die Kinder an den Händen, bis in seine Kammer hinauf. Der kleine Tisch stand noch vor dem schmalen Fenster, und es war, wie es vor hundert Jahren gewesen war. Das Mädchen aus dem »Paradies« hatte gerade einen Krug mit Gräsern und Birkenzweigen auf den Tisch gestellt und wollte leise aus der Tür. Aber die Kinder hielten sie fest, und Jons streichelte ihre erblaßte Wange. »Ich danke dir, Hanna«, sagte er, »und ich möchte gern, daß auch du heute froh bist.«

Ihre scheuen Augen füllten sich mit Tränen, aber sie nickte gehorsam und glitt wie ein Schatten in ihre Kammer.

Es waren alle gekommen, außer dem Krugwirt. Sogar der neue Lehrer war da, mit der roten Perücke. »Ich freue mich«, sagte er feierlich, »daß auch aus diesem Dorfe ein Geistesheros aufgestanden ist! Ein unerschrockener Forscher, der mithelfen wird, die Ketten zu zerbrechen.«

»Nicht soviel Pedal, Maschlanka!« sagte Balk gutmütig. »Wir haben nur Kuhketten hier, und die brauchen wir.«

Die Männer grinsten, und Jons gab ihm etwas verlegen die Hand. Er konnte nicht unterlassen, Stilling anzusehen, und dieser nickte ihm nachdenklich zu.

»Maschlanka«, sagte Jons leise zu Maria, als sie saßen, »Maschlanka heißt doch ›Buttermilch‹ ... oder habe ich es schon vergessen?«

Nein, es hieß wirklich so. »Merkwürdige Namen haben wir doch hier«, sagte er, aber er verschwieg, daß er ›Gollimbeck‹ für einen schöneren Namen hielt. Gollimbeck hieß das ›Täubchen‹.

Auch Kiewitt war gekommen, in seinem langschößigen Rock mit den Silberknöpfen, der ihm bis über die Knie reichte. Er saß feierlich auf seinem Platz, die Hände über dem Stock gefaltet, und ließ seine hellen, durchsichtigen Augen nicht von dem Gesicht des Heimgekehrten. »Er hat sie eingerenkt, Jons«, sagte er, als dieser seinen Blick erwiderte. »Eingerenkt, wie ich es dir gesagt habe!« Und das war das einzige, was er an diesem Nachmittag sprach.

Auch Piontek war gekommen, mit seinen silbernen Ohrringen und seinem Rindenhorn, denn er sollte »das Echo wecken« am Abend, wie Barbara es nannte, und Barbara hatte es gewünscht. »Er hört es so gern, Piontek«, hatte sie zutraulich gesagt.

Alle waren da, und Jons glaubte, daß keiner fehle. Erdmuthe saß neben dem Schulzen Grünheid und Micha auf der anderen Seite. Jedermann wußte, daß sie zusammengehörten.

Sogar die Witwe Kroll war gekommen und blickte mißbilligend auf ihre Schwiegertochter, die ein seidenes Halstuch trug, und die Witwe Kroll wußte nicht, wie es hergekommen war in die »junge Wirtschaft«. Aber sie würde es herausbekommen, das wußte sie.

Christean saß Jons zur Linken, und von allen hatte er wohl das leuchtendste Gesicht. Er konnte nicht sprechen vor Glück, aber seine schönen Hände bewegten sich auf dem weißen Tischtuch, als zeichneten sie Linien, deren Sinn nur ihm bekannt war. Nur einmal beugte er sich zu Jons und flüsterte mit dem stillen Lächeln in seinem alten Gesicht: »Wir beide wissen es, Bruder, wie schwer es am Anfang war, nicht?«

Jons nickte und legte seine Hand auf die Christeans. Aber wie schwer es nachher war, weiß auch er nicht, dachte er.

Er sah die Reihe der frohen und feierlichen Gesichter entlang, und jetzt erst sah er zum ersten Mal, wie alt das Dorf geworden war. Ganz in der Stille war es gealtert, hinter dem Pflug und im kleinen Tagwerk. Alle, die an seinem Leben geformt hatten. Und die, mit denen er zu Stillings Füßen gesessen hatte, trugen schon die Spuren in ihren jungen Gesichtern. Er rechnete schnell nach, daß Micha und Barbara nun schon zwölf Jahre alt sein müßten, und er sah den grauen Streifen in Marias Haar, wenn auch keinen Streifen des Alters, so doch einen des Kummers. Ja, die Jahre waren ihm wie in einem Bergwerk vergangen, und er hatte nicht gewußt, daß er bald an ein paar Totenbetten stehen würde. Die Zeit lief, ob sie alt oder neu war, sie lief unerbittlich und unbemerkt, und es war ihm an diesen Tischen, als lege sie still und ohne Aufheben die Zügel seines Geschlechtes in seine Hände. Er sah zu Stilling hinüber und zu Balk. Das Gesicht des Lehrers war alt und still, ein Abendgesicht unter dem schlichten weißen Haar. Auch das des Herrn von Balk war alt geworden in diesen Jahren, und das wilde und einsame Leben hatte es tief gefurcht. Das Gesicht eines Raubvogels, aus dem die furchtlosen Augen immer noch leuchteten, aber es war ein einsamer Raubvogel, um den die Vögel schwiegen, und einsam würde auch sein Ende sein.

Ja, er würde wohl mehr hier sein müssen als ein Arzt für Kranke und Sterbende. Kein »Geistesheros«, wie der Mann mit Namen ›Buttermilch‹ gesagt hatte. Keiner, der Ketten zerbrach. Aber einer, der still die Zügel nahm, wenn sie aus den alten Händen glitten. Einer, der ein Erbe antrat, und es war groß, so klein auch das Dorf war. Einer, der zu sorgen hatte, weil sie auf ihn blickten. Und weil sie alle ihn getragen hatten, unbewußt, aber doch getragen. Ein tapferes Leben, so hatte Lawrenz gesagt, und er legte die Arme um seine beiden Geschwister, fast ohne es zu wissen, und fast ohne es zu wissen, sagte er leise: »Keiner soll verlorengehen ... keiner ...«

Sie sahen ihn verwundert an, aber mit den gläubigen Augen, mit denen sie immer auf ihn geblickt hatten, seit er aufgebrochen war, Eisen unter den Absätzen, und mit dem hellen Haar, das unter einer irdenen Schüssel geschnitten worden war für die große Welt.

Stilling hielt eine Rede, und Balk hielt eine Rede. Die des alten Lehrers war aus dem Buch der Bücher entnommen und aus einem stillen und weisen Leben. Sie sprach von der Demut und von dem Dank eines armen östlichen Dorfes, und in ihr erschien Jons wie ein junger König, der einem alternden Volke vorausschritt auf dem Wege eines mühseligen, aber getrösteten Daseins. Die des Herrn von Balk war aus dem Buch des Lebens entnommen und aus vielen einsamen und furchtlosen Jahren. Sie sprach von der Tapferkeit und der Würde der stillen Leute, wie Jakob einer gewesen war, und in ihr erschien Jons wie der Hüter eines Erbes, das man draußen verlachte, aber von dem die Erde immer noch lebte: der Hüter der kleinen Herde und der niedrigen Rohrdächer. Einer, der auf den hohen Schulen nicht Hochmut gelernt hatte, sondern das Wesen jedes Edelmannes: den Schild über die armen Leute zu halten.

Beides waren schöne Reden, und über beide weinten die Frauen von Sowirog. Maria blickte über die feierlich Lauschenden hinweg nach dem Moor, wo die Landstraße nach Osten führte, aber ihre Hand lag still in der ihres Bruders. Erdmuthe hatte den Kopf so tief gesenkt, daß man ihre Augen nicht sah, und vielleicht sah sie am Moorrand den alten Lehrer sitzen und zu dem Knaben Michael sprechen, daß er hinausgehen sollte in die Welt, um zu werden, wie Jons geworden war. Und sie sah vielleicht, wie der Knabe Michael den Kopf schüttelte, weil ihm bestimmt sei, in diesem Dorfe zu leben und zu sterben.

Alle sahen still vor sich hin, Christean und das Mädchen aus dem »Paradies«, Kiewitt und Piontek und alle anderen, und wahrscheinlich standen alle vergangenen Jahre vor ihnen auf, Krieg und Frieden, der tote Pfarrer und die toten Kinder, und daß es nun besser mit ihnen gehen würde, weil einer von ihnen den Schild über sie halten würde, über Krankheit und Hagelschlag, über neue Lehrer und Landräte, und über alles, was Gott oder die Großen über sie verhängen würden.

Und dann mußte Piontek »das Echo wecken«, wie Barbara sagte, bis es rund um den See und das Moor und die Wälder lief, und dann mußten sie aufstehen, weil es Zeit war, die Kühe zu melken und das Tagewerk zu beschließen.

Herr von Balk saß in seinem Wagen mit den hohen Rädern, in seinem Mantel, der ihm bis auf die Fersen reichte, und beugte sich zu Jons herab. »Wir müssen immer leben«, sagte er, »als ob wir den richtigen Schlüssel in der Hand hätten. Wir wissen nicht, ob er schließen wird, aber wahrscheinlich sind wir nur zum Probieren da, Jons.«

Und er lächelte ihm zu, ein bißchen spöttisch und ein bißchen traurig, hob die Peitsche und verschwand in einer Staubwolke.

Jons ging noch eine Weile unter dem Abendrot hin. Er stahl sich heimlich aus dem Haus, stand eine Weile vor der verlassenen Meilerhütte, am Seeufer und bei dem »toten Pfarrer« auf dem Kirchenhügel. Und zuletzt, als es schon dämmerte und die Bekassinen vom Moor riefen, ging er zu dem kleinen Friedhof, dessen Mauer noch etwas verfallener war als früher, und stand vor dem aus Latten gezimmerten Tor. Darüber war mit ungeschickten Buchstaben eine Inschrift angebracht, von der es hieß, daß Gogun sie verfaßt hatte und über die die wenigen Fremden, die durch das Dorf kamen, sich lustig zu machen pflegten. Aber für Jons war sie ein Sinnbild des Dorfes, seiner Armut, seiner Unbeholfenheit und seiner Frömmigkeit.

»Hier ist der Ort der stillen Ruh.
Bedenk, o Mensch: hier kommst auch du.«

Er stand vor dem Grab der Mutter und der beiden Brüder, und es schien ihm zum erstenmal ganz in der Ordnung, daß die beiden hier nicht schliefen, die das Geschlecht durch so viele Jahrzehnte getragen hatten. Daß der Großvater von der Insel gen Himmel gefahren war, »im Feuer wie Elias«, und daß der Vater in den großen, fremden, östlichen Wäldern zu Staub wurde. Der Tod hatte keine Grenzen. Der Tod bettete überall.

Dann ging er langsam über die dunkel gewordene Straße ins Haus.

In diesen wenigen Tagen geschah nicht viel, außer daß Jons gleichsam wieder Besitz ergriff von einer Welt, die ihm wie in die Dämmerung entglitten war. Er besprach mit Maria, daß er eine der großen Stuben und seine Kammer für sich einrichten würde und daß die Kranken vorläufig in der Küche warten müßten. »Du wirst ihnen dann solange Märchen erzählen, Schwester«, sagte er lächelnd. Sie nickte zu allem, aber es schien ihm, als nehme sie es nicht ganz ernst. »Wenn du es anders meinst, so mußt du es erzählen«, sagte er schließlich.

Aber sie schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Wir werden sehen, Jons«, sagte sie. »Es wird schon alles werden, wie du es willst.«

Am letzten Abend aber, noch vor der Dunkelheit, winkte Christean ihm heimlich von der Tür seiner kleinen Werkstatt auf den Hof, zog umständlich und verlegen den großen Schlüssel aus der Tasche und sagte, an Jons vorbeiblickend: »Ich muß dir etwas zeigen, Bruder, woran ich dieses Jahr gearbeitet habe ... und wenn es dir nicht recht ist, mußt du es sagen.«

Er schloß wieder die Tür hinter ihnen, ging zu dem niedrigen, schweren Arbeitstisch und zog langsam das dunkle Tuch fort, das dort über etwas gebreitet war. Seine Hände zitterten, und er mußte zweimal zufassen, ehe er das Werk enthüllt hatte. Dann drehte er Jons den Rücken und sah zum Fenster hinaus.

Jons blieb unbeweglich stehen, und Christean hörte seinen tiefen Atemzug. Was Jons sah, war eine bäuerliche Pieta, aber mit einem umgekehrten Wesen gleichsam. Ein Mann saß mit vorgeneigten Schultern, hielt eine Frau zwischen seinen Knien und beugte sein Gesicht zu ihrer Stirn, die an seiner Brust lag. Die Frau war erschöpft, mit hilflosen Händen, die sie nebeneinander im Schoß hielt, aber um den Gram ihrer Lippen war etwas wie ein ungläubiges Lächeln gebreitet. Der Mann hielt mit seinen schweren Händen ihre Schultern, sein Gesicht war so tief geneigt, als lausche er auf den Herzschlag einer Sterbenden. Sein Körper war müde, aber in der Gebärde der Hände, der Beugung des Hauptes, der schirmenden Haltung der Schultern war ein so gewisser und so unsäglicher Trost, daß er wie eine Mutter erschien und die Frau wie ein Kind, das sich an ihre Brust schmiegte.

Der Mann war Jakob, und die Frau war Marthe.

Die Ähnlichkeit war so bestürzend, daß Jons der Herzschlag stockte. Aber über das Irdische und Vergangene ihrer Form war etwas Höheres gebreitet, was sie aus dem Bereich der Elternschaft hinaushob. Es waren nicht mehr diese beiden, die einander geliebt und Schmerzen zugefügt hatten, nicht mehr Mann und Frau, nicht mehr die Eltern dieser beiden Söhne. Es war der Mann aller armen Dörfer dieses Landes und aller Länder, der Gebeugte, der Entsagende, der Enterbte, und es war die Mutter aller dieser Dörfer, die von Träumen der Jugend Entkleidete, die Verirrte und im Herzen Erstarrte. Aber der Mann war derjenige, der den schmalen Sieg gewonnen hatte, über Einsamkeit und Enttäuschung, der »in Gott ruhte« und aus dieser Ruhe heraus die Ruhelosen halten konnte. Ein müder Sieger, aber einer, der dieses Sieges gewiß war. Und so groß war der Friede seines schweren, bäuerlichen Gesichts, daß er auch Christus hätte an seiner Brust halten können statt einer Frau, die eine Königin hatte werden wollen und nur eine Ährenleserin geworden war.

Jons ging leise auf Christean zu und strich ihm mit ungeschickter Hand die Tränen von den Wangen. »Weißt du, Bruder, was du getan hast?« sagte er. »Du hast den Vers verwandelt, mit dem sie gestorben ist. ›Wandte sein Roß ... und ritt davon ...‹ Er wendet es nicht mehr. Er reitet nicht mehr davon ...«

»Ich will es auf das Grab stellen, Jons«, sagte Christean nach einer Weile. »Dazu habe ich es gemacht. Wir werden ein kleines Gewölbe aus Steinen darüber aufrichten, daß der Regen es nicht trifft, niemand noch hat es gesehen.«

»Wir sind alle Stümper gegen dich, Christean«, sagte Jons, als sie zusammen den Raum verließen. »Alle Wunderkinder und alle Wunderdoktoren. Wahrscheinlich liegt es daran, daß du die Liebe hast und nichts als die Liebe. Und bis du sie gewonnen hast, bist du wohl den schwersten Weg von uns allen gegangen. Aber daß niemand es gemerkt hat, das ist das Große an dir.«


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