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XIX

Es ist ein guter Sommer für Sowirog, und die Leute sagen, daß es auch ein glücklicher Sommer sei. Keine Zeichen geschehen. Kein gehörntes Tier wird aus der Tiefe des Sees gezogen, kein Hagel geht über den Wald. Es grollt in der Welt, immer näher und drohender, und stählerne Vögel brausen über die Roggenfelder dahin. Ihr Schatten fliegt schwarz und in rasender Eile über die geneigten Halme, aber er verschwindet so schnell, wie er gekommen ist, und der blaue Himmel spannt sich wieder still über die reifende Erde. Das Dorf denkt nicht an die Welt, sondern an seine Ernte. Die Felder riechen nach Brot, und wenn Tobias in der Nacht noch einmal vor die Schwelle tritt, ist es ihm, als sehe er Gott auf einem der Ackerraine sitzen, die Hände um die Knie gefaltet, und als käme der Ruf des Wachtelkönigs aus dem Saum des blauen Mantels heraus, der über die göttlichen Füße fällt.

Niemals in seinem Leben ist Tobias so glücklich gewesen wie in diesem Sommer. Er ist in die Herzen seiner Gemeinde eingegangen, und es ist ihm so warm wie in der Kinderzeit, als die Arme der Mutter ihn noch umfingen. Er sieht Sorge in Jons' Augen und in Herrn von Balks Augen, und wenn die Gräfin in seinem kleinen Garten sitzt, sieht er ihr zu, wie sie schweigend auf die Nelken blickt, die er ihr geschnitten hat. Sie sieht aus, als wisse sie nicht, auf was für ein Grab sie den Strauß legen solle.

»Haben Sie keine Angst, Tobias?« fragte sie endlich.

Aber er schüttelte lächelnd den Kopf. »Wovor sollte ich Angst haben, Frau Gräfin? Und was würde ich für ein Pfarrer sein, wenn ich das Wort vergäße: ›Habt nicht Angst in der Welt!‹? Ich bin unverletzlich, Frau Gräfin. Mein Leib ist verletzlich, und Schmerzen würde ich fühlen wie jeder andere. Wahrscheinlich würde ich auch stöhnen unter einer Folter, wie andere stöhnen. Aber die Seele, Frau Gräfin, würde nicht stöhnen. Es gibt etwas, an das keine Menschenhand reicht, keine Schicksalshand, keine Todeshand. An das nur Gottes Hand reicht. Und solange er mich hält, bin ich unverletzlich.«

Sie sah ihn eine Weile an und blickte dann über den See hinaus. »Man könnte natürlich fortgehen«, sagte sie, »solange es Zeit ist, und noch ist es Zeit. Aber wer sollte ein Beispiel geben, wenn nicht wir? Es ist wahr, daß das Schwert schärfer in diesem Lande geherrscht hat, als es nötig war. Und daß es zusammen mit dem Kreuz geherrscht hat. Und das war immer eine schlechte Bruderschaft. Aber nach so vielen Jahrhunderten ist ein Stück Land immer dem zu eigen, dessen Schweiß und dessen Tränen es empfangen hat. Ein gedüngtes Land, Tobias! Nicht mit Worten oder Dokumenten gedüngt, aber mit unserer Seele. Viel Unrecht, viel Gewalt, viel Gedankenlosigkeit. Aber das letzte Wort sprechen immer die Felder und die Särge. Es wird schade sein um dieses Land, Tobias ...«

»Auch die Unschuldigen liegen auf Gottes Tenne, Frau Gräfin«, erwiderte Tobias leise. »Vielleicht müssen sie es tun, damit die Schuldigen sanfter geschlagen werden ...«

»Das könnte sein«, sagte sie und stand auf. »Das war ein gutes Wort, Tobias, und daran will ich mich erinnern.«

Ein guter und ein glücklicher Sommer. Sie leben wie die Kinder, und wie die Kinder feiern sie auch das Erntefest. Unter ihrer Fröhlichkeit erhellen sich auch die sorgenvollen Gesichter. Eine Gemeinde ist immer stärker als der einzelne. Und es kann ja auch vorübergehen. Es können Gespenster der Nacht sein, die am Rande des Waldes stehen, und Jons möchte es immer noch glauben. Nur der Herr von Balk weiß es. Aber er behält es für sich und ist fröhlich mit den Fröhlichen.

Das stille Grab liegt still unter dem trockenen Reisig. Keine Fußspur geht über den weißen Sand, nur der zierliche Tritt eines Strandläufers geht ab und zu am Ufer entlang. Manchmal, wenn sie Zeit hat, sitzt Hanna am Ende der Landzunge, mit nackten Füßen, die Hände um die Knie gefaltet, und blickt über das dunkle, regungslose Wasser. Manchmal muß sie allein sein mit dem tiefen, nicht zu messenden Glück, das ihr das Herz erfüllt. Und nirgends ist es so still wie hier. Es ist, als ob der Friede des Toten den ganzen Boden erfüllte, das Wasser und die Luft. Und sie hat solange mit einem Toten gelebt, daß sie sich nicht fürchtet. Und auch nichts von dem, was kommen könnte, fürchtet sie. »Da will auch ich begraben sein ...« Mehr ist nicht zu wünschen auf dieser schönen Erde.

In diesem Herbst stirbt Korsanke. Er hat keinen leichten Tod, aber Jons sitzt viele Stunden bei ihm, und er lindert seine Schmerzen so, daß Korsanke lächeln kann. Sein ganzes langes Leben geht an ihm vorbei, Schicksale, Vergehen und Verbrechen, und er erzählt, als stände er vor seinem König und hätte seinen Rapport zu erstatten. »Ein schwerer Dienst, Jons«, sagt er leise, »aber meine Uniform ist sauber geblieben, immer sauber, Jons.«

Jons hält seine Hand und nickt ihm zu. »Auch dein Herz, Korsanke«, sagt er, »und das ist mehr als die Uniform.«

Ja, und auf den Jungen mit dem verlorenen Arm hinter dem »Paradies« sollten sie achten. Er werde seinen Verdacht nicht los, und wer Menschenblut vergießt, des Blut solle wieder vergossen werden.

Jons verspricht es. Aber er weiß, daß es durch die Liebe abgewaschen worden ist. Alles Blut kann durch Liebe abgewaschen werden.

»Ein gutes Dorf, Jons Ehrenreich«, flüsterte Korsanke am Ende. »Ein gutes Dorf ... wache nun über ihm, wenn ich nicht mehr da bin ...«

Es war ein großes Begräbnis, und es entging niemandem, daß der junge Landjäger sich mit seinen weißen Handschuhen die Augen trocknete.

»Er war der erste von uns Alten, Jons«, sagte Stilling und blieb noch vor dem Friedhofstor stehen. Er blickte zu der alten, unbeholfenen Inschrift auf und lächelte. »Bedenk', o Mensch, hier kommst auch du!« wiederholte er leise. »Ich habe es immer fortnehmen und ändern wollen, Jons. Es widerstrebte meinem Sprachgefühl. Aber nun soll es doch ruhig dort bleiben. Die Sprache ist nicht das letzte. Und immer, wenn ich es lese, höre ich die Kinder in der Schule. Die Kleinsten, die zum erstenmal einen Satz aus der Bibel lesen. So sprechen sie auch, und es ist wohl die Seele des Dorfes, die darin beschlossen liegt. Eine etwas zurückgebliebene Seele, aber vielleicht ist sie nur in Gott zurückgeblieben ...«

Ein schöner Sommer, ein schöner Herbst. Trotz Krankheit und Gräbern. Wenn Jons über Land fährt, liest er nicht mehr in einem Buch, das er auf den Knien hält. Er sieht vor sich hin, auf den Rücken des Pferdes oder über das sich färbende Land. Er denkt nicht mehr an die Vergangenheit und kaum an die Gegenwart. Er denkt nur an die Zukunft. Er ist noch jung, und Ältere und Weisere leben rings um ihn. Aber es ist ihm, als werde er nun bald an der Reihe sein, der Weiseste zu sein. Oder wenn nicht der Weiseste, so doch der Ruhigste und Entschlossenste, der, auf den die Augen eines Dorfes sich richten, wenn Hagel über den Wald geht oder Feuer über die Dächer, oder Unrecht über den Acker. Er nimmt es auf sich, wie er Arbeit und Einsamkeit auf sich genommen hat. Er fürchtet sich nicht. Sein Leben ist reich, so reich, daß es über die Ränder fließt. Mit Arbeit, mit Hilfe, mit Liebe gefüllt. Einmal werden sie nicht da sein, die Ratenden und Helfenden, weder Stilling noch Herr von Balk. Und auch die nicht, die die Füße tief im Strom der Vergangenheit halten, Piontek oder Kiewitt. Dann wird er allein sein, mit Hanna, mit dem Jeromin-Haus, mit dem Dorf. Und mit seinem Gewissen.

Er richtet sich auf und läßt das Pferd traben. Die Rauchsäule des Meilers steht blau über dem blauen Wald. Und er sieht den Vater dort stehen, die berußte Stange in der Hand, und es ist ihm, als sei das Leben ganz leicht. Nur dort anzuknüpfen, wo eine gute Hand es losgelassen hat. Die Guten sind es, die das Leben fortführen und bewahren. Und auch die Resignation ist nichts anderes, als die vielen dahinfahren zu lassen wie ein Stück Rinde im Strom und sich an die wenigen Guten halten, an drei, an zwei, ja auch nur an einen. Das wahre Leben hat niemals auf etwas anderem geruht als auf diesem Wenigen. Der Fortschritt ruht auf dem Vielen, das Bequeme des Lebens, das Laute, Glänzende, der Ruhm, der Krieg. Aber nicht das Eigentliche, das Wahre, das, um das es sich zu verzehren und zu fallen lohnt.

Ja, ein schöner Herbst. Rittersporn und Malven haben bis über die Fenster geblüht, und Hanna hat davorgestanden und die Länge der Stauden an ihrem schmalen Körper gemessen. Und nun knien die Leute von Sowirog auf den Kartoffelfeldern, Alte, Frauen und Kinder, und der weiße Rauch steigt hoch in die blaue Luft. Die Eichelhäher sammeln ihren Wintervorrat ein, und die Kraniche stehen in ganzen Familien auf den Moorwiesen. Die wilden Birnbäume brennen auf den Ackerrainen wie Fackeln, und aus dem Ahorn am Jeromin-Haus fallen die ersten großen Blätter. Friede ist ausgespannt über Wald und Feld, ein tiefer unzerstörbarer Friede, und jeder Axtschlag aus dem blauen Wald ist mit seinem Echo in ihm eingeschlossen.

Auch der schwarze, glänzende Wagen, der auf der stillen Straße durch den Wald braust, kann den Frieden nicht zerstören. Er drängt ihn etwas zurück, aber er zerstört ihn nicht. Vier Männer in leuchtenden Uniformen sitzen in dem Wagen. Sie haben den ganzen Tag über einen Geburtstag gefeiert und wohl ein bißchen viel getrunken, denn sie singen laut und nicht sehr wohlklingend. Es sind Lieder mit großen Worten. Aber der Wald nimmt auch sie auf. Er trägt sie eine Strecke weit fort, und dann begräbt er sie in seinem großen Schweigen. Er hat mehr begraben als ein paar Kriegslieder.

Die vier Männer kommen aus der Hauptstadt der Provinz, und sie sind nicht ohne Bedeutung in ihrem Kreis. Sie müssen am Abend wieder zurück sein, aber sie müssen langsam fahren, ehe sie die große Chaussee erreichen, weil die Straße voller Sand und Löcher ist. Und da sie langsam fahren, fällt ihnen ein alter, schiefer Wegweiser auf, der seine Arme in den Wald strecken will, aber der so schief ist, daß er gen Himmel zu weisen scheint. Darüber machen sie nun ihre Scherze, und erst als sie den Namen lesen, der mit unbeholfenen Buchstaben auf das graue Holz geschrieben ist, ist es mit dem Scherz zu Ende. »Aha!« sagt der Mann am Steuer und tritt scharf auf den Bremshebel. »Nach Sowirog« steht auf dem Wegweiser, und dann eine unleserliche Zahl.

Es fällt ihnen etwas ein, bei diesem Namen, es fällt ihnen sogar viel ein. Das kleine Dorf ist nicht ganz unbekannt in ihren Kreisen. Und der Mann am Steuer legt den Fuß wieder auf den Gashebel und biegt in den grünen Weg ein. »Wollen mal sehen, was da los ist«, sagt er mit einem merkwürdigen Lächeln, und die anderen sind ganz einverstanden.

Grünheid war nicht auf das Feld gegangen. Es war ihm nicht gut gewesen, und er hatte über sein Herz geklagt, das ihm nun ab und zu Beschwerden machte. So war Micha mit den Frauen und Kindern hinausgefahren, und der alte Schulze saß vor dem Hoftor auf dem warmen Eckstein und achtete auf das Dorf. Wenn alles bei der Kartoffelernte war, mußte jemand ein bißchen aufpassen, daß nicht ein harmloser Wanderer plötzlich über die Zäune stieg oder gar Rauch aus einem der Rohrdächer kroch.

Er saß still da, die Hände um den Stockgriff gefaltet, und blickte wie ein alter Mann die kleinen Gärten entlang, in denen die Astern blühten. Der fröhliche Lärm auf den Feldern kam bis an sein Ohr, aber gedämpft wie ein fernes Kinderspiel, und er dachte an die Zeiten, als Michael noch gelebt hatte, als die Welt anders gewesen war, und wie doch alles auf Erden seinen vergänglichen Weg gehe, Jugend und Lachen, Scherze und Lieder, und wie das Alter gleich einem Reif auf das Menschenhaar falle und nicht viel mehr übrigbleibe als die Herdflamme am Abend und Gottes Wort in dem Heiligen Buch.

Er hörte den Wagen kommen und wendete ihm sein Gesicht zu, noch in seine Gedanken versunken, und als er erkannte, was es für ein Besuch war und aufstehen wollte, um auf den verlassenen Hof zu gehen, war es zu spät.

Der Wagen war schon ein paar Meter an dem Eckstein vorüber, als er mit einem knirschenden Laut der Bremsen hielt. Der Mann neben dem Fahrer beugte sich zurück und fragte, ob er nicht wisse, wie ein Hoheitsträger zu grüßen sei.

Grünheid war aufgestanden, sah den Mann ruhig an, als sei er ein Stück Holz, und ging dann langsam durch das offene Tor auf den Hofplatz zurück. Aber er war gerade bis zu dem Brunnentrog gekommen, aus dem am Morgen und Abend das Vieh getränkt wurde, als die vier schon um ihn standen, mit geröteten, bösen Gesichtern, und derselbe unter ihnen die Frage wiederholte, aber nun drohend und mit kalten Augen, die jede Einzelheit in dem alten Gesicht prüften und zu wägen schienen.

Fremde würden in diesem Dorf nicht so ohne weiteres gegrüßt, erwiderte der Schulze nun kalt, und der Hoheitsträger in Sowirog sei immer noch der liebe Gott.

Das habe man zu hören bekommen, sagte der Mann mit besonderer Betonung. Aber dann habe er doch vielleicht wenigstens den Respekt vor der Uniform? Und nun faßte er Grünheid an seinem Rock und versuchte, ihn hin und her zu schütteln.

Aber er hätte auch versuchen können, den Torpfosten zu schütteln.

Der Schulze war nun weiß geworden in seinem alten Gesicht. Er schlug mit seinem Stock fest über die Finger, die seinen Rock hielten, und sagte langsam, daß er vor Kinderwindeln sein Leben lang Respekt gehabt habe, weil darin die Zukunft seines Dorfes liege, aber daß er die Farbe von Kinderwindeln niemals besonders hoch geachtet habe.

Sie stürzten sich über ihn, und obwohl er immer noch ein starker Mann war, so waren es zu viele für ihn. Die schweren Schnallen der Riemen schlugen in sein Gesicht, das Blut, das in seine Augen floß, blendete ihn, und dann warfen sie ihn über den Brunnentrog und banden seine Arme und Beine darunter zusammen, so daß sein Gesicht ganz nahe über dem feuchten Sande der Tränke lag.

»So«, sagte der Mann, der am Steuer gesessen hatte, »nun wollen wir dir etwas Farbenkunde beibringen ...« Und sie gingen in das Gebüsch, das am Zaune entlanglief, zogen ihre Dolche aus den Lederscheiden und begannen, sich biegsame Stöcke zu schneiden.

Wie ist es mit dem Schicksal, wenn es über einen Menschen oder über ein Dorf geht? Die Leute werden sagen, daß es blind sei wie alles Schicksal oder daß Gott es gesandt habe. Aber es ist wohl doch wie ein Gewebe, in dem die Fäden wirr durcheinander zu laufen scheinen, und erst wenn wir es in den Händen lange hin und her wenden, erkennen wir Sinn und Gang des Weberschiffchens.

Es steht kein Wegweiser umsonst in der Welt, und auch nicht in den dunklen Wäldern um Sowirog. Und es ist ja auch nicht der Wegweiser allein, sondern daß sein Name etwas bedeutet in den Seelen der Menschen, die vorüberkommen, zu Fuß oder in glänzenden Wagen. Und daß diese Bedeutung von den Leuten von Sowirog geschaffen worden ist in vielen Jahren. Nicht nur, daß der Wegweiser auf das Dorf deutet, sondern das Dorf hat auch den Wegweiser mit einer Deutung versehen, und diese Deutung ist von den vier Männern begriffen worden. Ohne diese Deutung wurden sich die Männer und das Dorf nicht umeinander gekümmert haben, mit ihr aber war es das Dorf, das die Männer an sich zog, und sobald vier betrunkene Männer in glänzenden Uniformen in ein verlassenes Dorf kommen, bringen sie immer etwas Schicksal mit sich.

›Vielleicht hätte ich es nicht sagen sollen‹, denkt Grünheid, indes das Blut von seinem Gesicht in den feuchten Sand tropft. ›Ich habe an mich gedacht und nicht an das Dorf. Aber auch ein Dorf hat seine Ehre, und so soll es nun in Gottes Namen zu Ende gehen, und es ist gut, daß sie niemanden verantwortlich machen können als mich ...‹

Alle Fäden hat ein Schicksal in seiner Hand, auch die geringsten, auch die, über die wir zu lächeln pflegen. Es bricht kein festes Wagenrad auf einem Kartoffelacker entzwei, wenn das alte Eichenholz nicht mürbe ist oder unter einer schweren Last von gefüllten Säcken gegen einen Stein stößt.

Und so bindet Micha mit einem leisen Fluch die Leine an die Wagenrunge und geht schnell auf das Dorf zu, wo im Wagenschuppen des Schulzen drei neue Räder stehen und der Hebebaum, mit dem man die Achse aufrichten kann.

Er geht schnell, aber er hat noch Zeit genug, den bläulichen Frieden zu bemerken, der über Dorf und Feldern liegt, den Kranichzug, der den Himmel durchschneidet, die Elster, die schimmernd vor seinen Füßen auffliegt. Bald werden sie wieder pflügen und die Wintersaat in die Erde säen, und ein neues Frühjahr wird kommen, viele Frühjahre, indes die Menschen draußen Lärm machen und Maschlankas Lautsprecher damit erfüllen.

Er hätte beim Anwesen der Witwe Kroll auf die Dorfstraße gehen können, aber es war ein geringer Umweg, und es war eilig, den Wagen aufzurichten, und so stieg er lieber über zwei Zäune und eine Weißdornhecke und kam von der Feldseite her auf den Schulzenhof. Er sah die Räder im offenen Schuppen stehen, als ihm war, als höre er auf dem Hof Gelächter, und obwohl sein Atem schnell ging, gefiel ihm etwas an diesem Gelächter nicht. Er hätte nicht sagen können, was es war, aber es schien ihm nicht zu diesem Hof zu passen und zu den Lauten, die er an ihm gewohnt war. Er hörte noch in Gedanken das leise Dröhnen eines sich nähernden Flugzeuges, und dann war er an der Schuppenecke und sah, was geschehen war.

Er begriff es nicht. Er starrte hinein wie in einen bösen Traum, und sein Gesicht wurde weiß. Er sah nur, daß sein Ziehvater über den Trog geworfen lag wie ein Stück Vieh, das man schlachten wollte, Blut über seinem Gesicht, und daß vier fremde Männer vom Zaun zurückkamen und vier dünne Stöcke lachend in ihren Händen prüften. Niemals in seinem Leben hatte er so etwas gesehen. Er dachte nicht an seinen Vater in diesem Augenblick, aber das Erbe kam wohl über ihn, wie sich Feuer in einen Zugwind stürzt, das Erbe eines lodernden Zornes und einer eisigen Entschlossenheit.

Er lief zu dem offenen Kammerfenster, sprang hinein und kam dann durch die Hintertür in den Viehstall, der sich auf den Tränkplatz öffnete. Noch im Laufen prüfte er das Magazin und spannte die Pistole.

Er öffnete die Tür nur um Handbreite und sah, daß zwei Männer rechts und links des Schulzen standen und auf ein Kommando die Stöcke hoben. Er schoß sofort, ohne Anruf, zuerst auf die beiden und dann schnell hintereinander auf die zwei anderen. Das Flugzeug donnerte gerade über das Scheunendach, und er hörte den Knall der Schüsse nicht. Die Männer brachen zusammen wie Kegel auf einer Diele und lagen so bewegungslos, als wären sie aus Holz.

Er ließ die Pistole sinken und hielt sich mit der linken Hand am Türpfosten. Nun würden sie wohl aufstehen, dachte er, und er würde noch einmal schießen müssen. Aber alles blieb, wie es war, ein gemaltes Bild, in dem sich nichts bewegte, nicht einmal die Blätter in den Büschen am Zaun.

Er griff nach seinem Messer, um die Riemen durchzuschneiden, aber dann sah er hinter dem Zaun einen sich bäumenden Pferdekopf und den weißen Handschuh des Landjägers, der beruhigend auf den braunen Hals klopfte. Das Flugzeug hatte das Pferd scheu gemacht.

Lautlos schloß er die Tür, lief zum Schuppen zurück, nahm das Rad und den Hebebaum und war schon zwischen den Hecken der Felder, als der Landjäger auf den Hof geritten kam. Die Pistole hatte er in der Tasche behalten.

Noch zwei dünne Fäden in dem Gewebe des Schicksals. Lose aneinandergelegt, aber auch sie aus einem zureichenden Grunde in das Ganze hineingeflochten. An der Stallecke sitzt die Witwe Kroll auf einem alten Holzklotz. Sie hat das Tuch über die Augen gezogen, und ihre Hände zittern. Sie hat nicht gewußt, daß Grünheid nicht auf dem Felde ist, und sie hat gedacht, daß ein paar Eier im Stroh des Stalles liegen könnten, die einer alten Frau guttun würden. Sie hat die Männer auf den Hof kommen sehen und alles andere. Sie hat auch die Schüsse gehört, aber sie hat Micha nicht gesehen. »Lieber Gott«, flüsterte sie mit ihrem zahnlosen Munde in das schwarze Tuch, »lieber Gott, was tust du mit uns?«

An dem anderen Faden aber wird der Herr von Balk in das Dorf gezogen. Er hat sich wieder etwas ausgedacht für Grünheid, und so kommt er den schmalen Feldweg zwischen den Hecken auf den Hof zu geritten. Er sieht Micha mit einem hellen Wagenrad über das Feld gehen, den Hebebaum auf der linken Schulter, und er wundert sich, weshalb er nicht die Dorfstraße benützt. Wagenräder pflegt man ja nicht über Hecken zu treiben.

Er reitet gleichzeitig mit dem Landjäger auf den Hof, und da halten sie nun beide und starren auf das Bild zu ihren Füßen. Balk springt zuerst aus dem Sattel und läuft zum Brunnen, wobei er das Messer aus der Tasche zieht. Aber dann richtet er sich noch einmal auf und winkt dem Landjäger. »Kommen Sie einmal her, Brenke«, sagt er, »und überzeugen Sie sich, daß diese Riemen von dritter Hand gebunden sind. Könnte nötig sein, das zu bezeugen.«

Der Landjäger ist weiß im Gesicht, aber er gehorcht, und dann schneiden sie die Riemen durch. Sie müssen den Schulzen zu der Bank vor dem Hause tragen, weil er nicht gehen kann.

»Was ist, Grünheid?« fragt Herr von Balk leise.

»Das Herz, gnädiger Herr, das Herz ...«

Balk geht zum Tor, steckt zwei Finger in den Mund und pfeift zweimal durchdringend. »Zum Doktor!« sagt er zu den Kindern. »Zu Jons! Schnell! Soll sofort herkommen!«

Dann schließt er das Tor.

Und dann stehen sie vor den Leichen und blicken in die gebrochenen Augen, in deren grauen Winkeln schon kleine Fliegen sitzen.

Als der Landjäger vom Schulhaus zurückgekommen war, von wo er die Kreisstadt angerufen hatte, stieg der Herr von Balk wieder in den Sattel. »Selbst den Doktor holen«, sagte er kurz und setzte mit einem langen Sprung über das niedrige Tor. Aber er machte einen kleinen Umweg über das Kartoffelfeld und hielt an dem Wagen, den die Leute gerade mit dem Hebebaum aufrichteten. Sein Gesicht war sehr ernst. »Es ist etwas geschehen, Leute«, sagte er leise. Ich denke mir, daß seit zwei Stunden niemand das Feld verlassen hat.«

Eines der Mädchen öffnet den Mund, aber Balk beugt sich aus dem Sattel herunter und sieht eines der Gesichter nach dem andern an. »Niemand, sage ich, Leute!« wiederholt er. »Es geht um das Dorf!«

»Niemand und nichts, gnädiger Herr!« sagt der alte Daida.

Balk nickte ihnen zu. »Arbeitet weiter, Leute. Ich bin nur gekommen, um euch zu sagen, daß etwas geschehen ist.«

Er traf Jons auf der Dorfstraße, und sie kehrten zusammen zum Hof zurück. Als Jons bei den Toten niederkniete, atmete er ein paarmal die Luft ein, die über ihnen hing, und nahm dann eine Spritze aus seinem kleinen Koffer. »Wir wollen eine Blutprobe nehmen«, sagte er leise zu Balk. »Ich denke, daß sie betrunken waren.«

Dann ging er zum Schulzen, der immer noch schwer atmend auf der Bank lag, und gab ihm eine Kampferspritze.

»Wo ist Johannes?« fragte Balk leise.

Johannes war am Meiler, und er hatte Jons vor einer Stunde zu Kiewitt geholt, der krank war. Sie waren zusammen zurückgegangen.

»Notiere die Zeit, Jons«, sagte Balk. »Es könnte nötig sein.«

Erst als Balk seine zweite Zigarette fortgeworfen hatte, fiel sein Blick auf die verhüllte Gestalt der Witwe Kroll. Er erschrak und wollte fortsehen, aber der Landjäger war seinem Blick gefolgt. »Was ist los?« rief er aufgeregt. »Sie da! Wer sind Sie?«

Die Witwe Kroll ließ das schwarze Tuch von ihrem Gesicht fallen und starrte zuerst auf die Toten. »Ich war dabei«, murmelte sie. »Ich war dabei ...«

Balk führte sie zu der Bank, auf der Grünheid lag, und ließ sie sich neben dessen Füße setzen. Er bat sie, zu erzählen, aber sein Blick fiel drohend wie ein Habichtsblick in ihre Augen.

Aber sie hielt ihn aus und erzählte. Ja, sie habe den Schulzen sprechen wollen und sei von hinten auf den Hof gekommen. Und da seien die Männer mit Grünheid durch das Tor gekommen und hätten ihn beschimpft und am Rock hin und her gerissen.

»Notieren Sie, Brenke!« sagte Balk scharf.

»Weshalb beschimpften sie ihn?« fuhr er fort.

Sie habe etwas gehört wie »polnisches Schwein«, und dann seien sie schon über ihm gewesen und hätten ihn geschlagen und über den Brunnentrog gebunden. Und dann hätten sie sich Stöcke geschnitten und sich rechts und links von ihm aufgestellt. Und dann, ja dann habe es eben geschossen, aus der Stalltür, und danach sei es ihr so gewesen, als habe sie zwei fremde Männer über das Feld laufen sehen. Ihre Augen seien schwach, und sie könne es nicht beschwören, aber es sei ihr doch so.

»Stimmt es, Grünheid?« fragte Balk.

Der Schulze nickte, und seine Augen waren mit einem kindlichen Erstaunen auf das Gesicht der alten Frau gerichtet.

Sie öffneten die Stalltür und fanden die Patronenhülsen. Sie ließen sie unberührt liegen, und nach einer Weile hörten sie die Hupen der Wagen, die aus der Kreisstadt kamen. Es waren viele Wagen und viele Uniformen.

Grünheid und die Witwe Kroll, der Herr von Balk und der Landjäger machten ihre Aussagen. Ja, er habe aufstehen und grüßen sollen, sagte der Schulze und hob den Kopf mit dem getrockneten Blut von dem harten Kissen. Und er kenne kein Gesetz, das einem Mann mit weißem Haar befehle, betrunkene Leute zu grüßen.

Wie er dazu komme, von Betrunkenheit zu sprechen, fragte der Kreisleiter scharf.

Das habe er auf drei Meter riechen können, erwiderte Grünheid ruhig. So alt sei seine Nase noch nicht.

»Was ist mit den Blutproben, Doktor?« fragte Balk und begann sein Einglas zu putzen.

Jons hielt vier schmale Glasröhren zwischen den Fingern und legte sie vorsichtig auf das Fußende der Bank. »Alkoholgehalt, der ausreicht, um einen Mann wegen Steuerung eines Kraftwagens zu bestrafen«, sagte er, ohne die Stimme zu heben. »Und noch etwas mehr.«

Dr. Lustig, der nun Kreisarzt war, starrte ihn aus seinen geröteten Augen böse an. »Wer hat Sie ermächtigt, Blutproben zu entnehmen, Kollege?« fragte er.

»Das Gesetz«, erwiderte Jons ruhig, »und das dürfte auch Ihnen bekannt sein. Aufhellung des Tatbestandes ist Pflicht jedes Arztes.«

Die Dämmerung fiel, und die Wagen kamen von den Feldern zurück. Die Leute von Sowirog standen vor dem geschlossenen Tor, schweigend, auf ihre Kartoffelhacken gestützt.

Grünheid wurde ins Haus getragen, die Witwe Kroll folgte, und in der großen Schulzenstube wurde das Protokoll aufgenommen. Die alte Frau blieb bei ihrer Aussage. Mit den beiden fremden Männern, die über das Feld gelaufen waren, »war es ihr so«. Mehr könne sie nicht sagen, da sich ihr alles vor den Augen gedreht habe. Und als der Kreisleiter sie anschrie und fragte, ob sich vielleicht der Schnaps in ihrem Kopfe gedreht habe, sah sie ihn mit ihren wimperlosen Augen von oben bis unten an und erwiderte, daß es wohl besser gewesen wäre, er würde sich in ihrem Kopf gedreht haben statt in anderer Leute Köpfen.

Dann wurde das Dorf vernommen, jeder einzelne, aber niemand hatte etwas gesehen. Niemand hatte auch nur die Schüsse gehört, da das Flugzeug gerade über das Dorf gekommen war, und das Feld habe niemand verlassen.

»Ein Wunder, gnädiger Herr Staatsanwalt«, sagte Daida bekümmert. »Ein reines Gotteswunder ...«, und klopfte mit dem Deckel an seine Birkendose.

Auch Johannes war vernommen worden. Er stand im Hintergrund, die Hand in der Tasche, und machte seine Aussage. Er war bei Kiewitt gewesen, da er ihn nicht auf dem Felde gesehen habe. Von dort sei er zum Doktor gelaufen und mit ihm zusammen wieder zurückgegangen. Jons hatte nach der Uhr gesehen, und es gab keinen Zweifel an der Aussage. Trotzdem sahen ihn die Leute in den Uniformen prüfend an. Aber der Gogunsohn blickte durch sie hindurch auf die Zimmerwand, an der ein Bild des letzten Kaisers hing. Als niemand mehr fragte, machte er sich lautlos davon.

»Kein Ruhmesblatt für dieses gottverfluchte Nest!« sagte der Kreisleiter zum Schluß und sah Herrn von Balk an.

Dieser klopfte seine Zigarette am Fingernagel aus und zündete sie dann an. »Betrunkene sind nie ein Ruhmesblatt für ein Dorf«, erwiderte er gleichmütig.

Am nächsten Morgen stieg Gotthold mit drei Zivilisten aus einem großen Wagen, ließ sich zum Schulzen und zur Witwe Kroll führen und schlenderte dann durch das Dorf.

Er blieb bei dem ersten Kind stehen, das er traf, und versuchte, mit ihm zu plaudern. Es war ein Enkelkind des alten Daida, das einen kleinen Mast in ein Schiff aus Kiefernrinde setzte. Aber es antwortete nicht, und als Gotthold ihm ein Stück Schokolade reichte, legte es die Hände auf den Rücken und sah auf seine nackten Fußspitzen.

Darauf riefen die Leute von Sowirog ihre Kinder in die Häuser.

Die drei Zivilisten gingen einzeln von Haus zu Haus und fragten, was ihnen gerade einzufallen schien. Sie gingen auch auf die Felder, und einer kam sogar bis zu Piontek, der die Herde noch draußen hatte. Ob er gestern nichts gehört habe, fragte er und sah ihn an, als sei er von den Hottentotten entlaufen.

Er höre eine ganze Menge, erwiderte Piontek.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel den Regenvogel, oder bei Nacht das Käuzchen, und manche Leute behaupten ja, daß er auch das Gras wachsen höre.

Scherze möchte er gefälligst unterlassen, sagte der Mann scharf.

»Scherze?« wiederholte Piontek und sah ihn erstaunt an. In Sowirog scherze man nicht mit fremden Leuten.

Ob er die Schüsse gehört habe?

Nein, er habe keine Schüsse gehört.

Ob er den Wagen gesehen habe?

Klar! Der sei gefahren wie ein betrunkener Scherenschleifer, und die Bäume an der Straße könnten von Glück sagen, daß sie noch ständen.

Ob er zwei Leute über das Feld habe laufen sehen?

Hier liefen manche Leute, sagte Piontek, wenn sie es eilig hätten. Zum Beispiel, wenn ihnen etwas auf die Därme geschlagen habe. Und zwei Leute habe er auch gesehen. Aber es sei weit bis zum Dorf und seine Augen nicht mehr zum besten.

Wo sie hergekommen seien?

Nun, eben aus dem Dorf. Da etwa, wo der Wagen verschwunden sei. Es könnte aber auch woanders gewesen sein.

Der Mensch sah ihn böse an und ging ohne Gruß davon. Piontek beugte sich wieder zu seinem kleinen Feuer und pfiff sich ein Lied dazu. Es war ein getragenes Kirchenlied, und der Mann ging schneller zur Landstraße zurück.

Grünheid lag krank und antwortete nur flüsternd auf alle Fragen.

Um die Mittagszeit kam Gotthold in das Doktorhaus. Er sah böse aus und wartete, bis Hanna aus dem Zimmer gegangen war.

»Ein sauberes Dorf ist das«, sagte er, »und ich kann mich sehen lassen mit meinem Geburtsort!«

»Das können wir alle, Bruder«, erwiderte Jons ruhig. »Wir tragen hier keinen besonderen Makel. Außerdem weißt du ebensogut wie ich, daß es Fremde gewesen sein könnten, die eine Sache mit den Burschen auszutragen hatten. Es gibt keine Pistolenschützen in Sowirog.«

»Man kann nie wissen, was es gibt«, erwiderte Gotthold gedankenvoll. »Das mit dem Gogunsohn ist wohl ohne Zweifel?«

»Ich sah nach der Uhr, weil ich einen Anruf erwartete«, sagte Jons und sah ihm gerade in die Augen. »Das wird dir wohl genügen?«

Ja, das genügte natürlich. Wo er jetzt sei?

Er sei auf dem Moor und schneide Schilf.

Ja, das tue man ja um diese Jahreszeit.

»Verfluchte Schweinerei!« sagte er, als er aufstand.

»Du wirst wohl nicht finden, daß das eine Heldenrolle war, die sie gespielt haben?« fragte Jons an der Tür. »In Südamerika soll so etwas vorkommen, wenn sie gerade eine Revolution machen. Bei uns bindet man nicht einmal Hunde an einen Brunnentrog.«

Gotthold sah ihn finster an. »Revolutionen sind kein Konfirmandenunterricht«, erwiderte er kurz. »Nicht einmal bei uns.«

Sie blieben noch drei Tage da und fuhren dann ab. Es geschah weiter nichts.

Aber in der nächsten Nacht begannen Micha und Johannes einen Gang von der Meilerhütte in den Wald zu graben. Sie rückten das Lager ab, hoben die Dielen auf und trugen den Sand in Säcken bis zu einer großen Grube unter den Kiefern. Sie stützten den unterirdischen Gang mit Kiefernbohlen, die Johannes am Tage zuschnitt. Sie arbeiteten, bis der erste Schnee fiel. Der Gang mündete in einen verfallenen Meiler, weit von der Hütte entfernt. Ein Windbruch war darüber hingegangen, und die Stämme lagen nach innen kreuz und quer über dem verkohlten Holz.

Micha hatte den Plan erfunden, und Johannes hatte schweigend gehorcht. Er war es auch, der einen Mundvorrat unter der Erde anlegte und ein schweres Schwanenhalseisen in dem Gang aufstellte.

Das Dorf ging ernst und still in den Winter. Es war nicht zu erkennen, ob es etwas wußte oder unter der blutigen Tat litt. Aber wenn es von Zweifeln erfüllt war, so verlor es diese Zweifel, als am Martinstage ein Wagen mit denselben Uniformen durch das Dorf kam und vor Czwallinnas Krugstube hielt. Die jungen Leute gingen lachend und lärmend hinein. Im Wagen aber saß mit gebundenen Händen der alte Hirsch, den Bänderkasten noch auf den Knien, und das Blut lief ihm in seinen weißen Bart.

Die Frauen wischten ihm das Blut ab und sprachen ihm leise zu. Die Kinder standen stumm oder weinend um den Wagen. »Überall«, sagte Hirsch, »im ganzen Land ...« Nein, er habe nichts Böses getan. Seine Nase gefalle ihnen nicht. Und einer von den Seinen habe ja jemanden erschossen. In Paris oder sonstwo in der Welt. Aber er habe keinen erschossen, er wisse nicht einmal, was ein »bixtol« sei. »Gott der Gerechte«, flüsterte er leise. »Auf meine alten weißen Tage ...«

Sie nahmen ihm den Kasten ab und reichten ihn von Hand zu Hand. »Kein Bändchen wird verschwinden, Hirsch«, sagten sie »keine Stecknadel ... nur, daß du ihn wiederfindest, wenn du zurückkommst.«

Aber er schüttelte den Kopf. Er werde nicht wiederkommen.

Die jungen Leute kamen heraus und schrien die Frauen an. »Gott der Gerechte behüte euch ... und euer Dorf!« flüsterte Hirsch.

Die Witwe Kroll aber fuhr mit den Fingernägeln zornig über die Hand, die sie am Arm packte, und spie aus. »Otterngezücht!« zischte sie durch ihren zahnlosen Mund. Und sie war so anzusehen, daß sie vor ihr zurückwichen.

Am Abend desselben Tages rief der Herr von Balk den jungen Micha, als dieser vom Holzrücken aus dem Walde kam. Es war ein unbefahrener Weg, und es sah so aus, als habe der Reiter ihn hier erwartet. »Die Raben sammeln sich, Micha«, sagte Balk, indem er neben ihm herritt. »Heute haben sie Hirsch geholt. Auch er hatte Blut im Gesicht.«

Micha sah finster auf die Leine, die er hielt. »Auch andere werden Blut im Gesicht haben«, erwiderte er.

»Wieviel Patronen hast du?« fragte Balk nach einer Weile leise.

Micha zuckte zusammen, aber er versuchte es zu verbergen, indem er sich niederbeugte und die Decke um seine Stiefel legte.

»Dein Vater würde nicht gezuckt haben«, fuhr Balk fort. »Du bist noch jung, Micha. Aber denke daran, daß auch er unterliegen mußte.«

»Er hat das Böse getötet, und er hat recht getan.«

»Das hat er wohl, Micha. Aber nun ist er nicht da, und er würde wie ein Schild über dem Dorf sein. Jeder Wald wird lockerer, Micha, wenn ein Baum stürzt. Klug sein ist heute kein Makel, Micha.«

Er werde vorsichtig sein, sagte Micha nach einer Weile. Und er schlafe jetzt auch in der Meilerhütte. Sie hätten einen unterirdischen Gang gegraben, setzte er hinzu und sah sich um. Niemand werde es erfahren als der Herr von Balk.

Dieser pfiff leise vor sich hin. »Morgen abend werde ich dir zweihundert Patronen bringen«, sagte er dann. »Ich werde dich im Walde erwarten.«

Als sein Weg von der Straße abbog, hielt er noch einmal das Pferd an. »Rühme dich nicht, Micha«, sagte er ernst und beugte sich im Sattel vor. »Zu töten ist immer eine schwere Last. Auch ein Recht kann eine Last sein. Trage es still, als ob du heimlich ausgewählt worden wärest.«

»Ich rühme mich nicht, Herr von Balk«, erwiderte Micha, und es zuckte um seine Lippen. »Aber er ist mir mehr als meine Mutter oder irgendein anderer Mensch.«

»Eben deshalb hat es dich ausgewählt, mein Junge«, sagte Balk gütig und ritt dann auf die weißen Felder hinaus.


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