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XVIII

Niemand erfuhr es, aber jedermann wußte es. Auch die Witwe Gogun. Als Tobias von der Auferweckung des Lazarus predigte, weinte sie, und die Leute von Sowirog nickten ihr bekümmert zu. Nichts blieb mehr verborgen in dem kleinen Dorf. Es ging nun sie alle an, und einer hatte ja der erste sein müssen. Nur wer der letzte sein würde, wußten sie nicht, nicht einmal wer der nächste sein würde. Langsam kam es nun über sie, wie die Pest früher gekommen war. Oder wie die »Tatern«. Es half nichts, die Türen zu schließen. Es half nicht einmal, die Herzen zu schließen. Die Erde hatte Augen, die Wälder, die Roggenfelder, die Wolken. Der Friede war aus der Welt gegangen, obwohl noch Friede war. Der Mensch war ein Wolf geworden, ein lautloser, friedloser, schleichender Wolf.

Sie lasen nun viel in der Offenbarung, und die großen Worte und Bilder gingen mit einem leisen Schauder in sie ein. Vielleicht trugen sie alle verborgene Sünde, und so war es über sie gekommen. Andern Dörfern ging es gut, aber sie wurden nicht irre an sich. Sie unterlagen keiner Täuschung. Sie brauchten nur in des Pfarrers Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß sie auf dem rechten Wege waren. Oder in das Gesicht ihres großen Doktors, oder in das des Herrn von Balk. Sie waren arme, kleine Leute, und auch sie würden es gern ein bißchen leichter gehabt haben. Aber man konnte nicht gegen das Wort Gottes leben. Andere mochten es können, sie nicht. Und das Wort Gottes war nicht nur in den Gebeten geschrieben, es war in der ganzen Schrift, es durchtränkte sie. Es war ein Lebensatem, und er erfüllte sie.

Tobias auf der Kanzel war es nun oft, als seien diese gefalteten, dumpfen Gesichter reiner geworden in diesen Jahren, wenn er zu ihnen herniederblickte. Er fragte Jons danach, und auch Jons war dieser Meinung. »Sie haben nicht mehr teil«, sagte er, »sie sind auf sich selbst zurückgefallen, auf die letzte Speise, die es für sie gibt.«

»Woran nicht mehr teil?« fragte Tobias.

»An der Welt. Seit das mit Johannes gewesen ist, haben sie nicht mehr teil. Sie haben das ganze Dorf geschlagen, und sie tragen alle die gleiche Wunde. Deshalb ähneln ihre Gesichter nun auch einander, besonders die der Alten. Ist dir das aufgefallen?«

Ja, Tobias stimmte ihm zu. Der Hauch einer Verwandlung war über das Dorf gegangen und wandelte es weiter. Es wurde ein stilles Dorf, viel stiller als früher, aber es schien selbst dem Herrn von Balk, als sei es ein stärkeres Dorf geworden, von einer unsichtbaren Kraft erfüllt, die auf dem Grunde lag und auf ihre Zeit wartete.

Die Witwe Gogun blieb noch auf dem Kirchenhügel stehen, trocknete ihre Tränen und blickte über den See nach dem großen Moor, an dessen Rand die alten einzelnen Eichen standen. Die Sonne flimmerte, und sie mußte die Hand über die Augen halten. »Wie ein Wolf ...«, sagte sie leise. »Wie ein Wolf ...«

Ja, jedermann wußte es, auch der Landjäger, aber er tat, als kümmere es ihn nicht. Er hatte nur einmal zu Anfang vorsichtig bei Jons angefragt, aber Jons hatte nur mit der Hand auf das Moor gedeutet. »Dort«, sagte er. »Holen Sie ihn.«

Aber der Landjäger wollte ihn gar nicht holen. Er war verlegen, und er versuchte, erkennen zu lassen, daß er nicht alles guthieß.

Jons hörte zu, aber er sah aus dem Fenster. »Sie haben einen schweren Beruf«, sagte er endlich, »das weiß ich. Und einmal kommt jeder Beruf an die Stelle, wo es ja oder nein heißt. Tiere treiben ist schlimm, Menschen treiben ist schlimmer. Sehen Sie zu, daß Sie die Zeit nicht versäumen. Gehen Sie zu Korsanke. Sie können viel von ihm lernen.«

Der Landjäger bedankte sich und ging. Aber draußen nahm er noch einmal den Tschako ab und wischte sich die Stirn. In der Stadt würde es einfacher sein, weil sie immer zu vielen waren, mindestens zu zweit. Aber hier war er allein, mutterseelenallein, und die Leute waren komisch hier. Alle, auch der Doktor. Sie sprachen auch komisch, und man wußte nie genau, was sie meinten. Sie hatten einen doppelten Boden. Sie hatten keine Amtssprache, die klar und deutlich war. Sie sprachen wie Wahrsager, und Wahrsager waren immer verdächtig. Es wurde viel vom Krieg gesprochen, und ein Krieg würde gut sein. Er würde gern mitgehen. In Reih und Glied war alles leichter. Es würde sich auch leichter schießen als auf die eigenen Landsleute. Auf die Leute von Sowirog zum Beispiel. Wie sollte man auf Daida schießen, wenn er eine Dummheit machte? Oder gar auf den Doktor? Ja, am Abend wollte er zu Korsanke gehen und mit ihm sprechen. Er war nicht scharf genug, aber er hatte sein ganzes Leben hier zugebracht, und das war schließlich auch etwas.

Aber Korsanke war nicht so, wie er erwartet hatte und wie er ihn kannte. Er war finster und sah ihn an, als komme er von einem Kehrichthaufen. »Sehen Sie ihn sich an, den auf dem Moor«, sagte er. »Am besten, wenn er badet. Das tut er wohl immer noch heimlich. Vielleicht können Sie sich im Schilf verstecken dazu ... Ein Junge aus unserem Dorf, der seinen Vater hat versinken sehen!«

Und er drehte sich um und ging ins Haus. »Des Königs Rock habe ich getragen«, rief er von der Schwelle zurück. »Auch ein Gendarm kann des Königs Rock tragen!«

Der Landjäger hatte nun nichts, wofür er sich bedanken konnte. Er stand noch eine Weile da und blickte auf die Astern des kleinen Gartens, seufzte ein bißchen und ging. ›Ich bin doch kein Mörder‹, dachte er unbehaglich. ›Und Befehl ist doch Befehl.‹ Aber es war ihm schwer, die Dorfstraße entlangzugehen, wo die Leute sich umdrehten, wenn er kam.

Johannes aber lebte »in der Öde«. Wenn die Morgendämmerung sich über dem Moor aufhob, kam er schon vom Doktorhaus zurück, wo er das Pferd geputzt und gefüttert hatte. Die Kronen der alten Eichen hingen noch im Nebel, aber über dem nassen Gras war die Erde schon klar. Der leise Wind der Frühe ging durch Schilf und Binsen und kräuselte die Wasserblänken, die dazwischen lagen. Die niedrigen Birken standen da wie aus durchbrochenem Gold, und jeder Wacholderbusch war mit silbernen Spinnennetzen bedeckt. Und dann fing der große Horizont ganz langsam an zu glühen, ein düsteres Rot, vor dem die Schilfhalme wie schwarze Lanzen standen. Der erste Vogelruf kam aus der Höhe, der des Wanderfalken oder der eines Reihers, der seinen Schlafbaum schon verlassen hatte, und Johannes blieb stehen und sah zu dem grauen, fließenden Gewölbe hinauf, in dem schon blaßblaue Flecken erschienen. Ein schöner Tag würde es werden, mit Vogelscharen, die über seine Hütte dahinzogen, mit blauer Luft, die sich bis in die Ewigkeit dehnte, und mit der wunderbaren Sonne, die seinen Körper beschien.

Er nahm die kleinen weißlichen Äste auf, die den Pfad bezeichneten, und sammelte sie in seiner linken Hand. Er brauchte sie nun nicht mehr. Und wenn er die Hand vor den Augen nicht erkennen könnte, so würde er doch wissen, wohin er den Fuß zu setzen hatte. Er allein und niemand außer ihm. Ein hartes Lächeln ging um seine schmalen Lippen, als er stehenblieb und die trügerische Decke rechts und links betrachtete. Er würde ruhig zusehen, wenn sie dort versänken, einer oder zwei oder drei. Trugen sie nicht den Totenkopf an der Mütze? So sollten sie ihn auch unter den Stiefelsohlen tragen, und er würde still dabeistehen und ihnen zuhören, wie sie um ihr Leben flehten. Er würde nicht lachen, wie sie es getan hatten. Er würde nur zusehen, ernst und aufmerksam. Der Galgen erhob den Menschen, aber das Moor erniedrigte ihn. Es zog ihn sanft und unwiderstehlich in die dunkle Tiefe. Es nahm ihm nicht den Atem wie der geflochtene Strang. Es ließ ihm den Blick auf die schöne Erde frei bis zuletzt. Auf die Schilfwälder, die goldenen Birken, auf den blauen Himmel, durch den der Altweibersommer schimmernd segelte. Auch den Vater hatte es genommen, und der Vater war ein frommer Mann gewesen. Kein Mörder, kein Henker, kein grinsender Menschenquäler, sondern ein frommer, fröhlicher Mann. »Auge um Auge«, dachte Johannes. »Zahn um Zahn ...«

Er war nun nicht mehr zu sehen, weder vom Dorf aus noch von irgendeiner Stelle der Erde. Die Schilfwände verbargen ihn. Nur vom Himmel aus würde er zu sehen sein, von einem dieser brausenden Vögel, die mitunter blitzend über diese Erde dröhnten. Aber dann brauchte man sich nur an den Schilfrand zu legen und die Halme über sich zu beugen. Ein Mann, der hier zu Hause war, war nicht verloren.

Seine Hütte war so in die Sträucher hineingebaut, daß er selbst sie erst sah, wenn er davorstand, und viele Stunden des Tages arbeitete er weiter an ihr, müßig und wie jemand, der unendlich viel Zeit hatte. Zuerst machte er Feuer in dem kleinen Ofen und kochte seine Morgensuppe, oder er wärmte, was Hanna ihm auf die Futterkiste gestellt hatte. Dann saß er auf der niedrigen Schwelle, die Schüssel zwischen den Knien, brach das schwarze Brot hinein und aß. Und dann rauchte er seine Pfeife. Die Sonne schien warm auf seine Stirn, die letzten Kraniche zogen über ihm dahin, und ganz weit in der Ferne war ab und zu ein Menschenlaut zu hören, der Schlag einer Axt, der weithin über die Erde tönte, und manchmal der klirrende Laut des Eimers, der an den Brunnenrand stieß.

Aber er war allein, er war so wunderbar allein. Er hielt die Hände in die Sonne und sah flüchtig über die tiefen Narben hin. Er sah nach rechts und nach links. Niemand war da. Nicht die Hunderte und Tausende, die wie Schemen im Morgennebel gestanden hatten. Nicht die Türme mit den Maschinengewehren, nicht der Galgen, der seinen leeren Arm wie wartend ausgestreckt hatte. Niemand und nichts war da, außer dem Moor, dem stillen, schimmernden, unendlichen Moor mit Gold und Silber, das darüber ausgestreut war. Er schloß die Augen, lehnte den Kopf an das warme Holz des Türpfostens und ließ die Sonne auf die Haut seines Gesichtes scheinen. Das Herz schlug ruhig, der Atem ging leise aus und ein.

Und dann kam an jedem Morgen das leise Zittern, das über den ganzen Körper ging, wie ein Windhauch über ein Wasser. Er wußte, daß es kommen würde, und er ballte die Fäuste, damit es nicht käme. Aber es kam, und er war ohnmächtig wie gegen ein Fieber. Die Bilder kamen, die Schmerzen, die Erniedrigungen. Die Erinnerung kam. Jedes Gesicht, überscharf bis in die letzte Falte hinein, jedes Wort, jeder Arm, jeder Schrei. Die ganze graue und blutige Kette der Stunden, so vieler Stunden, und er lag da, gegen die Tür gelehnt, mit geschlossenen Augen, Schweißtropfen auf der Stirn, und ließ es über sich dahingehen wie Hagel über einen Wald.

Und dann, so plötzlich wie es gekommen war, hörte es auf, war vorbei wie ein Traum, war, als sei es gar nicht gewesen. Er öffnete die Augen, und das Licht der Sonne fiel hinein, das gnadenreiche Licht. Der blaue Himmel hob sich wie ein gewaltiger Dom über das stille Moor, und einer der letzten Adler kreiste ruhevoll über der vergoldeten Öde.

Er stand langsam auf und ging zu seinem Lager aus Laubstreu. Er zog die Decken über sein Gesicht, und nach ein paar Atemzügen war er eingeschlafen. Er fiel wie ein Stein in das Dunkel, wie nach einer schweren Krankheit, und das letzte, was er fühlte, war der kühle Horngriff des Dolches, um den sich seine Hände legten.

Jons war ein guter Arzt, einer des Leibes und auch der Seele. Aber wie sollte er wissen, was in Johannes vorging? Er wußte nichts von den Bildern, die sich in die Haut der Seele gebrannt hatten, er konnte höchstens die Narben erkennen. Der Mund des anderen war versiegelt, und seine Augen sah er nur in der Dämmerung.

Aber als der erste Schnee fiel, gelang es ihm doch, Johannes zu bewegen, daß er in die Meilerhütte zog. »Du kannst deine Spur nicht verbergen, Johannes«, sagte er. »Sie ist von weitem zu sehen, und du kannst sie nicht auslöschen. Der Winter ist der Feind der Wölfe. Und es sucht auch niemand nach dir. Gotthold hat es mir in die Hand versprochen, und du kannst es mir glauben. Es genügt ihnen, wenn sie zerbrochen haben. Mehr wollen sie vorläufig nicht.«

»Keiner wird mich zerbrechen«, erwiderte Johannes ruhig.

Aber er gehorchte doch. Er benützte nicht den Steig vom Jeromin-Haus zur Meilerhütte, sondern er ging jeden Abend und Morgen am See entlang, wo die Waldarbeiter ihren Steig getreten hatten, und an der Stelle, wo die alten Fichten sich heranschoben und niemals Schnee unter den dichten Ästen lag, schlug er sich zur Seite, bis er die Hütte erreichte. Nach den ersten unruhigen Nächten war es ihm wohl dort. Er mochte die niedrigen, berußten Balken und den alten Herd, den Blick auf den verfallenen Meiler und den düsteren Hochwald, und manchmal, in der Dämmerung, wenn er vorsichtig aus dem Schatten trat, war ihm, als sähe er Jakob dort sitzen oder am Meiler stehen, und er wußte nicht, ob es ein Gespenst war oder ein Trugbild seiner ruhelosen Augen.

Niemand sah ihn dort, niemand suchte ihn dort, und ganz langsam ging er in den düsteren Frieden des Waldes ein. Manchmal am Abend stieg Rauch hinter den Lichtungen auf. Das war der Rauch über Kiewitts Schornstein, und er sah ihm von der Schwelle aus ruhig zu, wie er in der kalten Abendluft sich kräuselte und verging. Kiewitt konnte ruhig sein Nachbar sein. Kiewitt hatte mit Menschen nichts mehr zu tun.

Niemand kam, außer mit langen Zwischenräumen Stilling. Er machte jeden Abend seinen Spaziergang, durch das Dorf und aus dem Dorfe hinaus. Er ging zum Moor oder zu den hohen Ackerrainen, und oft ging er in den Wald. Niemand achtete auf seine Spuren, und manchmal kehrte er bei Johannes ein. Er hängte seinen Hohenzollernmantel an den Holzpflock an der Tür und die Pelzmütze dazu. Und dann saß er vor dem Feuer und wärmte seine Hände.

»Du bist doch einer von den Meinigen, Johannes«, sagte er in seiner gütigen Art. »Nicht einer von Maschlankas. Ich habe dir das Lesen beigebracht und einiges andere. Und ich sehe nun, daß du wie ein Wolf lebst, und das bekümmert mich.«

»Wie soll ich leben?« fragte Johannes.

»Mit den Menschen, Johannes. Mit den Menschen. Sie sind alle arme Schächer, siehst du, und die dort wahrscheinlich am ärmsten. Vergib, Johannes, oder meinst du, daß du nicht vergeben kannst?«

»Nein!« sagte Johannes.

Stilling schüttelte bekümmert den Kopf. »Und hast du ganz vergessen«, sagte er leise, daß Christus am Kreuze gesagt hat: ›Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun?‹«

»Diese wissen es sehr gut«, sagte Johannes, »und auch dort gab es Kreuze. Aber ich habe keinen gehört, der gesagt hat: ›Vergib ihnen‹.«

»Aber ist es nur das, Johannes«, fuhr Stilling nach einer Weile fort, noch leiser als bisher, »daß sie dich geschlagen haben?«

Johannes zuckte zusammen, als habe der Dolch, den er ohne Gedanken durch die Hände zog, ihn geschnitten. »Nein«, sagte er schroff, »das ist es nicht. Es ist, daß sie uns in den Schmutz getreten haben, mit den Stiefelabsätzen. Daß sie uns nackt ausgezogen haben und in den Schmutz getreten, wie man eine Maulwurfsgrille in den Schmutz tritt. Und daß sie dazu gelacht haben. Nicht geweint, wie Christus über Jerusalem, sondern gelacht ... Auch der Vater hat mich geschlagen, manchmal, aber er hat nicht gelacht. Manchmal hat er geweint: wenn er getrunken hatte ...«

»Auch diese werden einmal aufhören zu lachen, Johannes«, sagte Stilling.

»Das werden sie wohl«, erwiderte Johannes und prüfte die Schneide des Dolches an seinem Daumennagel.

Nein, er war wie eine Festung, und auch Stilling fand keinen Zugang zu seinem Innern. Auch Tobias nicht. »Gott?« sagte Johannes und sah ihn mit seinen schwermütigen Augen an. »Habe ich so gesündigt, daß er mich in die Erde treten kann?«

»Nicht er hat getreten, Johannes. Er hat ihnen nur Macht gegeben, es statt seiner zu tun.«

Aber Johannes zuckte die Achseln. »Der Vater hat mir nie Macht gegeben«, sagte er, »seine Kälber zu treten, und wenn er mich dabei betroffen hätte, würde er seinen Riemen abgeschnallt haben. Aber er brauchte es nicht. Er hat mich nie betroffen dabei.«

Aber nicht nur Tobias trug an ihm, als sei er selbst schuldig. Nicht nur Stilling und Jons. Das ganze Dorf trug an ihm. Er war ihnen wie ein Stellvertreter, und auch aus ihm tranken sie Tropfen für Tropfen die Kraft, die sie gewannen. Es war noch nicht so lange her, daß sie Leibeigene gewesen waren, ausgepeitscht und zu Tode gepeitscht, wenn es den Herren einfiel. Sie hatten es nicht erlebt, und ihre Väter hatten es nicht mehr erlebt. Aber die Väter hatten es noch von den Großvätern gewußt, und niemals, hatten sie gedacht, würde es wiederkommen. Weder die Tränen noch der dunkle, fressende Haß. Es war versunken, wie Menschenopfer versunken waren, wie die Greuel der Tatern, wie der bethlehemitische Kindermord. In alten Chroniken zu lesen, im Buch der Bücher zu lesen, aber doch versunken.

Nun aber war es wiedergekommen, verborgen, hinter Draht und Mauern. Der Mensch, den man hetzte wie ein Tier. Den man an den Schweif der Pferde band wie früher, den man kreuzigte.

Aber nun wollten sie sich nicht mehr beugen, stumm und ohne Widerstand. Nicht mehr vor einen Pflug gespannt werden, und über ihnen würde lachend die Peitsche geschwungen. Eine Kirche stand auf ihrem Hügel, ein junger Pfarrer reichte ihnen das Abendmahl. Wenn sie im Land nicht wußten, daß Christus der Herr war über Könige und Vögte: sie wußten es. Und nicht noch einmal sollten sie einen von ihnen auf ihre Schädelstätten führen. Christus war für sie alle gestorben. Er hatte nicht befohlen, daß ein Spiel aus seinem Tode gemacht würde.

Nur der Herr von Balk trug nicht an Johannes. Er trug an der Zeit, und in sie war mehr eingeschlossen als der Sohn des Kranichräubers. Auch er fand einmal den Weg in die Meilerhütte, aber er kam nicht, um zu sprechen. Er schloß die Tür ab und sah nach den Fensterläden, und dann zog er eine schwere, bläulich schimmernde Pistole aus dem Mantel und begann, mit klaren Worten den Gebrauch der Waffe zu erklären. »Wenn Gott sich verhüllt«, sagte er mit seinem kühlen Lächeln, »ist es gut, die Magazine zu füllen. Hätten wir es eher getan, würde es besser um uns stehen.«

Johannes nickte und wog die Waffe in seiner Hand. »Sie reicht weiter, als ein Messer reicht«, sagte er nur. »Sie waren uns immer ein gütiger Herr, und ich will es nicht vergessen.«

Balk sah noch ein wenig ins Feuer, ehe er ging. »Die Herren verschwinden von unserer Erde, Johannes«, sagte er, »und die Knechte stehen auf. Seht zu, daß ihr euch zu den Herren haltet. Ihr werdet sie erkennen. Ein Baum ist leicht zu erkennen über dem Moor.«

Im Frühjahr läuteten die Glocken von den Türmen, weil das Reich wieder gewachsen war. Es wuchs wie eine Spinne, die ihr Netz gesponnen hatte und die nur darauf zu warten hatte, daß die Beute in ihre Fäden flog. Sie trank mit glühenden Augen, und dann saß sie wieder im Dunkeln und wartete.

Die Glocken von Sowirog läuteten nicht, aber der Landjäger überhörte es, und er gab Maschlanka den dringenden Rat, es auch zu überhören. Eine neue Volksabstimmung kam, ob das Volk einverstanden sei, daß eine neue Beute in die Fäden gekommen war, eine brüderliche Beute, und deshalb sollten auch die Glocken läuten. Aber in Sowirog ging niemand zur Wahlurne. Der Landjäger ritt in die kleinen Moordörfer, um für Ordnung zu sorgen, und er hatte so viel zu tun, daß er erst um die Abendzeit zurückkam. Am Nachmittag lief Maschlanka von Haus zu Haus, aber die Türen waren verschlossen, und kein Fenster öffnete sich. »Leute«, rief er, »ihr werdet euch ins Unglück bringen!« Aber nur die Hunde bellten auf der verlassenen Straße, und er ging langsam und müde zu seiner leeren Urne zurück.

Nach der Frühlingssaat verreiste Herr von Balk. Er fuhr zu einem Vetter, der große Güter an der Lüneburger Heide hatte, und er gab Jons seine Anschrift, für den Fall, daß etwas geschehen sollte.

»Was soll geschehen, Herr von Balk?« fragte Jons. »Wir wachsen ohne Schwertstreich. In zehn Jahren sind wir bis an den Mond gewachsen.«

»Der Mond ist unbewohnt«, sagte Balk nur, »aber die Erde ist bewohnt. Ein kleiner, aber bedeutsamer Unterschied. Paß auf alle Leute im Dorf auf, die nicht taubstumm sind, Jons! Nur die Taubstummen sind heute halbwegs sicher.«

Aber es war ebenso, als ob die Leute von Sowirog taubstumm wären. Selbst die Kinder in der Schule antworteten nur auf die Fragen, die Maschlanka stellte und die aus der Fibel oder dem Rechenbuch oder der Erdkunde waren. Auf alle anderen schüttelten sie den Kopf. Sie verstanden eben nicht und waren ja auch schwerfälligen Geistes von jeher. Was der Vater zu der neuen Rede gesagt habe, das verstanden sie schon nicht. Sie hörten keine Reden, sie lasen keine Zeitungen. Piontek sollte etwas vom Jüngsten Gericht gesagt haben, nicht wahr? Das wußten sie nicht, aber wahrscheinlich habe er von einem Gericht Pilze gesprochen, sagte der Daida-Enkel. In Pilzgerichten sei Piontek ein Meister, setzte er ernsthaft hinzu.

Nein, die Leute von Sowirog waren wohl taubstumm, aber trotzdem war es ein schönes Frühjahr für sie. Die Äcker waren früh getrocknet, und sie hatten die Saat gut in die Erde gebracht. Regen war gekommen, und wenn sie über die Felder sahen, lag der grüne Schimmer gleichmäßig und dicht über den schmalen Streifen. Die Wintersaat war unbeschädigt durch den Frost gekommen, und sie konnten die Herde schon zu Anfang des Maimonds in den Wald treiben.

Und dann war etwas Besonderes geschehen. Herr von Balk, bevor er auf seine Reise ging, hatte mit Grünheid auf dem Kirchenhügel gestanden und über den See geblickt, dessen Schilfwälder noch braun gewesen waren. »Du kannst den Leuten sagen, Grünheid«, hatte er so nebenbei gemeint, »daß sie in diesem Jahr fischen können, soviel sie wollen. Johannes kann die Netze verteilen, und du wirst zusehen, daß alles in Ordnung und Frieden geschieht.«

Grünheid hatte ihn von der Seite angesehen und gesagt: »Das ist ein großes Geschenk, gnädiger Herr, und die Leute werden sich wundern. Solange die Erde hier steht, war so etwas noch nie da. Jagd und Fischfang waren Ritterrecht und dann Herrenrecht, und sie haben viel gebüßt darum in früherer Zeit.«

»Eben, weil sie gebüßt haben, Grünheid. Sie sollen auch etwas von der ›neuen Zeit‹ haben, und die letzten Herren sollen ein bißchen schenken, bevor es zu spät ist.«

Der Herr von Balk werde wohl hundert Jahre alt werden, sagte der Schulze und sah ihn wieder von der Seite an.

Balk bohrte seine Stockspitze in den lockeren Sand, wo die Ameisenlöwen in der Sonne schon ihre Löcher gegraben hatten. »Sieh dir dies an, Grünheid«, sagte er. »Auch die Käfer, die hier spazierengehen, denken vielleicht, daß sie hundert Käferjahre alt werden. Aber wenn sie an den Rand dieser kleinen Trichter kommen, fängt der Räuber unten an mit Sand zu werfen, und ehe sie sichs versehen, liegen sie unten, und aus ist es mit den hundert Jahren. Mit der barmherzigen Natur ist es so bestellt wie mit der barmherzigen Weltordnung. Schön zu lesen, aber nicht alles Gedruckte ist wahr. Nicht einmal heute, wo doch so viele schöne Sachen gedruckt werden.«

Und er hob mit der Stockspitze einen der grauen Ameisenlöwen aus seiner Höhle und sah ihm nach, wie er eilig und gleich einem ertappten Sünder auf seinen kurzen Füßen über den Sand davonlief. »Alle haben sie kurze Füße«, sagte er gedankenvoll, »aber die Hauptsache sind ja nicht ihre Füße ...«

Die Leute von Sowirog machten sich nicht so viele Gedanken wie der Schulze Grünheid oder der Herr von Balk. Sie nahmen das Geschenk als eine Gottesgabe, und auch deshalb wurde es ein schönes Frühjahr für sie.

Johannes aber begann im Auftrag des Herrn von Balk, den Meiler neu aufzubauen, und an einem stillen Maitag sahen die Leute aus dem Dorf zum erstenmal nach so vielen Jahren die blaue Rauchsäule über dem Walde stehen. Sie richteten sich von ihrer Arbeit auf und blickten lange hinüber, und es war ihnen nicht nur so, als sei die alte Zeit wiedergekommen, in der Jakob dort im stillen gelebt hatte, sondern als knüpfe sich nun die Gegenwart ruhig und trostvoll wieder an das Vergangene. Als sei der alte Wald über allen Lärm der letzten Jahre hochgewachsen und als habe er Maschlanka und seinen Lautsprecher und seine Wahlurnen wortlos und ganz ohne Aufheben begraben. Und Piontek, der, auf seine Ringschleuder gestützt, am Moorrande stand, meinte sogar für sich, daß der alte Gott Jehova wieder seine Rauchsäule über dem Volk in der Wüste aufgerichtet habe.

Das Mädchen Hanna aber grub in der freien Zeit die Gartenerde um und pflanzte nun Stauden, die bis über die Fenster reichen sollten, Rittersporn und Malven, Lupinen und Eisenhut ... »Daß die Welt uns nicht mehr sieht, Jons«, sagte sie und faltete die Hände um den Spatenstiel.

Er strich ihr über das Haar, das ihr in die feuchte Stirn fiel, und nickte ihr zu. »Sie sieht heute alles, Hanna«, sagte er ohne Bitterkeit. »Sie sieht auch durch Blumen hindurch. Aber wir wollen ihr ruhig in die Augen sehen, und wenn es nötig ist, wollen wir uns den Eisenhut aufsetzen, den du gepflanzt hast. Sobald er blühen wird.«

Auch für Martin war es ein fröhliches Frühjahr, heller und furchtloser als sonst. Sie gingen nun jeden Tag die Dorfstraße entlang, er und Barbara, und das Mädchen hielt seine Hand. Sie gingen zum Moor, wo die Straße nach Osten in die Wälder führte, und wenn sie wiederkamen, trug er eine Weidenflöte in der Hand und Barbara einen Kranz von Himmelschlüsseln über dem Arm. Sie sahen wie zwei große Kinder aus, die aus einem Märchenwald kamen, und die Leute sahen ihnen heimlich nach, und manche der Frauen wischte sich mit der Schürze die Augen. Maria aber stand auf der Schwelle und sah ihnen entgegen, ein ernstes Lächeln um den Mund, und manchmal war ihr, als sei es immer so gewesen: daß Kinder auszogen von ihrer Hand und langsam wiederkehrten, und daß es heute nicht anders sei als vor vielen Jahren.

Es war wohl das stillste Leben, das sie in Sowirog führte, aber es war nicht das glückloseste. Man mußte nur nicht meinen, daß das Glück immer unter Blumen und Kerzen daherkomme.

Der Herr von Balk kam zurück, ohne daß im Dorfe etwas »geschehen« war. Er kam sehr ernst zurück, und die Leute wußten nicht, ob es ihm bei seinem Vetter nicht gefallen hatte oder ob er zu lange in der Hauptstadt des Reiches gewesen war, wo die großen Herren überlegten, ob das Reich nun bis an den Mond wachsen sollte oder noch darüber hinaus.

Und am merkwürdigsten war ihnen, als Grünheid mit seinem wiedergefundenen Schulzenstab von Tür zu Tür ging, in der Dämmerung, und sie aufforderte, am nächsten Abend in seine große Scheune zu kommen, wo der Herr von Balk etwas mit ihnen zu bereden habe. Und alle sollten kommen, die über fünfzehn Sommer gesehen hätten.

»Er wird uns etwas mitgebracht haben«, sagten die Frauen. »Ein seidenes Tuch oder ein Paar Ohrringe. Er ist gerade beim Schenken, und er ist gerade der Herr danach, seine kleinen Sünden jetzt abzubüßen.«

Aber die Männer schüttelten den Kopf. »Es ist etwas anderes«, meinten sie. »Und vielleicht ist es eine Kanone, mit der wir auf Maschlanka und seinen Lautsprecher schießen sollen. Er wird sich schon etwas ausgedacht haben.«

Und der Herr von Balk hatte sich wirklich etwas ausgedacht. Zuerst stellte er Posten um die Scheune, damit niemand dazukomme, den es nichts angehe, und dann setzte er sich wie die anderen auf einen der Strohbünde, die Grünheid rings um die Tenne gelegt hatte. Er streckte seine langen, hageren Beine aus, stützte das Kinn auf seinen Stock und ließ die grauen Habichtsaugen von Gesicht zu Gesicht gehen. Grünheid hatte eine Hängelampe mit einer langen Schnur an einem der Balken befestigt, und in ihrem Licht waren alle Gesichter mit einer schweigenden Gespanntheit auf den Herrn von Balk gerichtet. Niemand fehlte, nicht einmal Kiewitt, und die Witwe Kroll saß zwischen ihrer Tochter und ihrem Schwiegersohn, und das hatte das Dorf noch niemals gesehen.

Balk sah immer noch von Gesicht zu Gesicht, und es war, als blieben seine Augen an vielen der jungen Frauen besonders lange haften und als bedankte er sich mit einem wehmütigen Lächeln für jedes Erröten, das unter seinen Blicken die jungen Wangen färbte.

»Liebe Leute«, begann er dann, »Leute von Sowirog!« Und dann wurde es so still wie in der Kirche, wenn Tobias den Kelch mit dem Abendmahlswein erhob.

Dieses also habe er ihnen zu sagen, fuhr er fort und sah nun zu dem Licht der Lampe empor, die wie ein Stern über dem hohen Gewölbe hing. Es sei sein Vetter ein sehr reicher Mann, so reich wie im Märchen. Er habe ein großes Gut neben dem andern und dazu viel Land, das ungenützt daliege, am Rande der Heide und weit in sie hinein. Es sei dort alles nicht so wie hier, aber auch nicht so sehr anders. Es gebe mageren Acker, Torfland und Weide, und Wacholder gebe es, noch zehnmal so hoch wie in Sowirog. Und der Himmel sei groß wie hier und das Land so still und menschenleer wie hier auch.

Er habe es nun mit seinem Vetter so besprochen, daß er jenem sein Gut hier vermachen wolle, wenn er dafür eine große Gemarkung an die Leute von Sowirog gebe. Größer als die, auf der sie hier lebten, und in vielem besser als hier. Und für Steine und Holz und alles andere wollten sie sorgen. Und sie sollten alles mitnehmen, was sie hier besäßen, Vieh und Gerät, Hausrat und Andenken. Nur die Schlingen für das Wild sollten sie dalassen. Und da sie die Kirche nicht abbrechen könnten oder möchten, so würden sie dort eine große Kapelle bauen für den Anfang, aber die Glocken und die Fenster und alles andere würden sie mitnehmen, und der liebe Gott würde schon für die leere Kirche sorgen, auch wenn er vorläufig nur Vögel hineinschickte. Und den »toten Pfarrer« würden sie nicht zurücklassen, und den lebendigen ebensowenig. Und vor Wintersanfang müßten sie in der Hauptsache fertig sein. Er selbst aber, als ein alter Mann, würde mit ihnen mitziehen, damit er hier nicht allein zu frieren brauche und damit er auch hin und wieder eines der jungen, hübschen Gesichter sich zum Trost ansehen könne, die er schon gekannt habe, als sie Mädchengesichter gewesen seien. Und ein Edelmann sei nun eben einer, der auch in der Fremde den Schild über seine Leute halte, und in der Fremde noch dichter als daheim.

Als er zu Ende gesprochen hatte, nahm er aus seiner Ledertasche Bilder der fremden Landschaft und reichte sie dem Schulzen, der neben ihm saß. Und danach lehnte er den Kopf an die Bretterwand und fuhr fort, in das Licht der Lampe zu blicken.

Die Leute sahen flüchtig auf die Bilder, so flüchtig, als gingen sie die Büsche und Heiden und Moore noch gar nichts an, und dann richteten sie die Blicke wieder auf den Herrn von Balk, als habe er noch lange nicht zu Ende gesprochen und als hätten die Bilder Zeit bis dahin.

Es war so still, daß sie die Flamme im Docht singen hörten, und vielen von ihnen war es so, als hörten sie den leisen Nachtwind über das Dorf Sowirog gehen, der aus den großen Wäldern kam und über die großen Moore dahinging.

Und dann sagte eine leise Stimme: »Und die Gräber ...?« Und es war die Stimme der Witwe Bojar.

Balk hob den Kopf von der Bretterwand und sah sie an. »Die Gräber, Gina«, sagte er, »bleiben hier. Gräber wandern nicht. Nur die Lebenden wandern, solange es noch Zeit ist ...«

Dann kam eine zweite Stimme, und es war die des alten Piontek. Er hielt die Ringschleuder in den Händen, und seine Ohrringe schimmerten matt im Licht der Lampe. »Und weshalb, gnädiger Herr?« fragte er.

Bevor Balk antwortete, ging Grünheid vor das Scheunentor und sah sich nach den Posten um. Als er wiedergekommen war, sah Balk den alten Hirten an und sagte langsam: »Weil Krieg kommen wird, Leute, und wir den Krieg verlieren werden. Und weil sie über uns kommen werden, daß kein Stein auf dem anderen bleibt und kein Kind an seiner Mutter Brust! Und das könnt ihr mir glauben wie das Evangelium.«

Ein einziger tiefer, schwerer Atemzug, und dann war es wieder still wie in der Kirche.

»Bedenkt es, liebe Leute«, sagte der Herr von Balk und stand von seinem Strohbündel auf. »Und nach drei Tagen wollen wir hier wieder zusammen sein.«

Aber bevor er ihnen noch zugenickt hatte, stand Kiewitt in seinem alten Rock unter der Lampe, hob die Hände mit dem Stock vor die Brust und sagte: »Bedenkt es nicht, Leute! Bedenkt es nicht! Spannt die Pferde und Kühe vor die Wagen, heute nacht oder morgen nacht. Denn was ist es, Leute, das geschrieben steht? ›Und ich trat an den Sand des Meeres, und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung ...‹ Besinnt ihr euch, Leute? Spannt die Pferde und Kühe an und macht euch auf! ›Und ich sah, und siehe, ein fahl Pferd; und da drauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgete ihm nach ...‹«

Da schauerte es sie, und sie standen schnell auf und drängten sich aus der Tür. Auf dem großen Hof aber blieben sie noch eine Weile stehen und sahen die Sterne wie sonst über den Rohrdächern scheinen und den Nebel über dem Moor stehen, und hörten den Reiher heiser über dem Schilf schreien und den tröstlichen Ruf des Wachtelkönigs in der jungen Saat. Und es war ihnen wie ein Traum, was eben gewesen war, oder wie ein Märchen, in dem jemand die Flöte spielte, und man wußte nicht, ob sie in das Leben oder in den Tod lenkte.

Drei stille Tage über dem Dorf. Keine Unruhe, keine Versammlungen, keine nächtlichen Gespräche am Torffeuer. Arbeit wie sonst und Feierabend wie sonst. Jons saß an den wenigen Krankenbetten und fuhr über Land, und wenn er wiederkam, stand Johannes in der Dämmerung da und nahm ihm das Pferd ab, und das Mädchen hatte den Tisch gedeckt und einen Maiblumenstrauß auf das weiße Tuch gestellt. Niemand fragte Jons, niemand sah ihn an, als erwarte er eine Antwort von ihm. Der alte Lehrer ging jeden Abend durch die Dorfstraße, und wie sonst fragten die Leute ihn nach seiner Gesundheit oder nach seinen Bienen. Piontek trieb die Herde aus, und sein Rindenhorn »weckte das Echo« wie sonst. Nur kam es vielen vor, als blase er schöner und reiner als sonst, und sie stützten sich auf ihre Spaten oder ließen die Axt sinken und hörten zu, wie der Widerhall um den See herumlief und langsam erstarb. Der Meilerrauch stand über dem hohen Wald, eine schmale, bläuliche Säule, die ruhig in das Abendrot stieg.

Aber am dritten Abend, bevor die Dämmerung kam, gingen drei Frauen aus Sowirog zu Tobias und baten ihn, einen Gottesdienst abzuhalten, und er möchte nur predigen, worüber er wolle, und ihnen nachher das Abendmahl reichen.

Und auch er fragte nichts weiter und versprach es, und sein Gesicht war still und fröhlich wie sonst. Aber die Frau, die ihm in der Wirtschaft half, sah ihn vor dem Bilde des Gekreuzigten knien, lange Zeit, die Stirn an das Holz des Kreuzes gelehnt und die Hände vor der Brust gefaltet.

Es mußte in allen Häusern bekannt gewesen sein, denn als die Glocken riefen, kamen sie aus allen Türen, im Feiertagskleid, das Gesangbuch in den Händen, so langsam und feierlich, als sei es der Karfreitag und nicht ein beliebiger Tag im Jahr. Und selbst aus den Abbauten am Moorrand fehlte niemand.

Das Abendlicht fiel durch die farbigen Fenster, und auf der Altardecke standen zwei große Krüge mit Maiblumen. Ihr Duft erfüllte den ganzen dämmerigen Raum.

Während sie das Lied »Befiehl du deine Wege ...« sangen, trat der Herr von Balk in die Kirche. Er ließ die schwere Türe weit auf, und das Abendrot über dem Hügel stand wie ein stilles Feuer hinter ihm. Er setzte sich nicht, sondern blieb an der Rückwand des Raumes stehen, und sie sahen nun zum erstenmal, daß sein Haar ganz weiß geworden war über dem schmalen Kopf.

Und dann warteten die Leute von Sowirog, worüber ihr junger Pfarrer predigen würde. Und als er sagte, daß sie die Worte der Heiligen Schrift vernehmen sollten, wie sie aufgezeichnet stünden im Buche Ruth, im ersten Kapitel, ging ein tiefer Atemzug durch die Kirche, und in diesem Augenblick wurde Tobias, der aus der Fremde gekommen und in der Fremde geboren war, so in die Herzen seiner Gemeinde aufgenommen, als hätte er in Sowirog das Licht der Welt erblickt und hätte niemals den Bezirk dieser Hütten verlassen.

Er predigte nicht, er legte nicht aus, er ermahnte und beschwor nicht. Er las nur die alten Worte vor: »Ruth antwortete: ›Rede mir nicht ein, daß ich dich verlassen sollte, und von dir umkehren. Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.

Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr tue mir dies und das, der Tod muß dich und mich scheiden.‹«

Dann legte er die Stirn auf seine gefalteten Hände, die auf dem Kanzelrand lagen, und blieb so eine Weile, und die Leute von Sowirog taten in ihren Bänken dasselbe.

Und danach reichte er ihnen still das Abendmahl, und es war ihnen allen, als lächelte er über dem silbernen Kelch, so voller Freude war sein Gesicht.

Das ganze Dorf nahm das Brot und den Wein, und es war schon dunkel in der Kirche, als Kiewitt als letzter vor dem Altar kniete. Niemals seit Jahrzehnten hatte er das Abendmahl genommen, da er seinen eigenen Glauben hatte, und die Leute standen schweigend und sahen zu, wie ihr junger Pfarrer die Hand auf das weiße Haar legte und sich tief herunterbeugte, um den Kelch an Kiewitts Lippen zu legen.

Nur der Herr von Balk nahm das Abendmahl nicht, aber niemand hatte es von ihm erwartet. Als sie still aus der Kirche traten, stand er neben dem »toten Pfarrer«, auf seinen Stock gestützt, und blickte über den dunklen See in die Ferne.

Sie blieben um ihn stehen, dicht gedrängt, und warteten, indes die Glocken über ihnen langsam ausschwangen.

Als der letzte Ton verklungen war, beugte er sich vor, um ihre Gesichter zu erkennen. »Es ist nun nicht mehr nötig, liebe Leute«, sagte er, »daß wir noch einmal sprechen. Ich weiß es nun, und es soll bleiben, wie ihr es besprochen habt.«

»Wir haben es nicht besprochen, gnädiger Herr«, sagte Piontek und nahm seine Mütze ab. »Wir haben es jeder gewußt. Wir werden alle Erde auf den Augen tragen, heute oder morgen. Aber wir haben gedacht, daß es dann unser Sand sein soll und kein fremder. Und wir danken dem gnädigen Herrn.«

Und dann kamen alle Frauen und Mädchen und Kinder des Dorfes an Herrn von Balk vorüber und küßten seine Hand, wie ihre Vorfahren es mit den seinigen getan hatten, und er ließ es geschehen, ohne ihnen zu wehren. Und während er auf die hellen Scheitel hinunterblickte, die sich über seine Hand neigten, war es ihm, als stehe er seit Hunderten von Jahren hier, der Herr der Landschaft, der seinen Schild über den Tod halte. Ein uraltes Geschlecht, das Gesicht nach den dunklen Wäldern gewendet, aus denen die Pest gekommen war, die »Tatern«, oder eben nur das grau verhängte Schicksal.

Dann ging er mit Tobias langsam den Kirchenhügel hinunter. »Haben Sie es zu verantworten?« fragte er an der niedrigen Steinmauer.

Aber Tobias schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich wußte es längst«, sagte er. »Ich hatte nur ein Wort für das zu finden, was sie längst beschlossen hatten.«

Herr von Balk nickte. »Das sind die wahren Toren«, sagte er. »Die der Meinung sind, ein Volk lasse sich drehen wie ein Wagenrad ...«

In der Nacht, als die Sterne über dem Dorf und dem Doktorhaus standen, schüttelte Hanna den Kopf und legte ihre Wange an die Stelle, wo sie Jons' Herz schlagen hörte. »Wo sollte ich hingehen?« fragte sie lächelnd. »Hast du nicht gehört, was er vorgelesen hat? ›Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden.‹ Wir waren niemals klüger als die Bibel, Jons.«


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