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XI

Der Herr von Balk saß auf der Bank vor dem langen, niedrigen, rohrgedeckten Holzhaus, hatte die Hände über dem Stock gefaltet und sah Jons entgegen, der unter dem Ahorn stand und die Augen mit der Hand beschirmte.

Das Haus lag abseits vom Jeromin-Haus, auf dem Hügel dicht über dem See, und die letzten Kiefern und Eichen am Waldrand warfen ihre Schatten noch über das Dach. Das Haus war ganz aus Holz gebaut, über einem Sockel von großen Feldsteinen. Es war ebenerdig, mit niedrigen, breiten Fenstern, und nur im Dachgeschoß waren zwei Schlafkammern mit schrägen Wänden eingebaut. Abseits stand ein großer Schuppen mit Fenstern, und um den kleinen Garten war schon ein Sprossenzaun mit schweren Eichenpfählen gesetzt.

»Der Herr von Balk hat sich ein Sommerhaus gebaut«, hatte Maria gesagt und Jons dann stehen lassen.

Jons hatte nur genickt und war zum Ahorn gegangen. Er war eben angekommen, und das Herz war ihm so voll, daß er zuerst eine Weile dort stehen mußte, ganz allein, um auf das Land unter der Frühlingssonne zu blicken. Die Schornsteine rauchten schon zum Abendbrot, und Micha kam mit dem Gespann von den Feldern des Schulzen zurück. Er pflügte schon mit dem Scharpflug, bei dem er die Hände nicht auf den Griffen zu halten brauchte, weil er auf Rädern lief, und von ferne sah er aus wie Michael, als er noch ein Knabe gewesen war. Pionteks Rindenhorn klang vom Moor herüber, und das Echo lief um den ganzen See herum.

Endlich war es wohl Zeit, den Herrn von Balk zu begrüßen, und Jons ging langsam über das kurze Gras und den Hügel zum Waldrand hinauf.

»Introite!« sagte Balk und wies auf das Haus.

Jons mußte wohl vergessen haben, ihm die Hand zu reichen, denn Balk ließ die seine sinken und folgte dem abwesenden Blick, der auf das große Messingschild neben der Tür starrte. »Dr. Jons Ehrenreich Jeromin« stand dort, »Arzt und Geburtshelfer.« Die Sonne flimmerte auf dem blanken Metall.

Balk war aufgestanden und legte Jons den Arm um die Schultern. »Wollen nun so wenige Worte wie möglich darüber verlieren«, sagte er. »Sind meine Steine und mein Holz und mein Rohr. Und was drin ist, habe ich so aus dem goldenen Überfluß dazu getan. Lawrenz hat mir sehr geholfen. Alles für dich ausgesucht. Nur mit der Lichtleitung war es etwas schwierig, weil kein Mensch im Dorf einen Anschluß haben wollte, außer Maschlanka. Ist aber auch gegangen, und Lawrenz meinte, ohne Strom gebe es keinen Röntgenapparat, und ohne Röntgenapparat sei es nur ein halber Doktor in solcher Einöde.«

»Herr von Balk ...«, sagte Jons leise.

»Nichts mit Herr von Balk! Auch er wird einmal zu seinen Vätern fahren, wo es ihm übrigens nicht behaglich sein wird, und vorher muß er ein bißchen für die kleinen und großen Leute getan haben. Mit den Kirchenfenstern war es nichts, der Krieg hat sie genommen. Waren auch ein bißchen zu bunt für mein Gefühl. Liebe keine bunten Götter. Wußte schon, daß du ganz klein anfangen wolltest. Wie eine Meilerhütte. Und die Kranken in die Küche, wo sie Maria den Kaffee austrinken würden. Klein kann man im Herzen bleiben, Jons, in der modesta, und klein genug hast du nun gelebt die ganzen Jahre. Aber das Handwerk muß erstklassig sein! Und je kleiner die Leute, desto erstklassiger das Handwerkszeug! Sieh nun also, wie wir uns das ausgedacht haben.«

Und er öffnete die Tür und führte ihn über die Schwelle. »Im allgemeinen machen die Leute wohl einen Spruch dazu«, sagte er lächelnd. »Mit Gott ... oder so ähnlich. Denke mir aber, daß der Spruch am Mikroskop genügt. ›Denn auch hier sind Götter!‹ Weiß, daß sie zu dir halten und dir den Äskulap-Becher gereicht haben. Und daß du ihn nicht verschütten wirst. Sind stolz auf dich, und damit ›Sela‹!«

Jons sagte noch immer nichts.

Es gab ein kleines Wartezimmer und dahinter den großen Wohnraum, der Sprechzimmer und Bibliothek war. Alle Möbel waren aus dem Schloß. Auf der anderen Seite des Flurs lag die kleine Küche. Oben gab es nur die Schlafkammern und ein Bad. Alle Geräte waren für den elektrischen Gebrauch. Die Schränke schimmerten von blitzenden Instrumenten. Eine Röntgenkammer war da, und nicht einmal eine Zentrifuge für urämische Untersuchungen hatte Lawrenz vergessen.

»Wie für einen Königssohn habt ihr gesorgt«, sagte Jons endlich.

»Selten gehört, daß Königssöhne große Ärzte waren«, meinte Balk. »Höchstens im Aderlaß ... Und hier ist das wichtigste, Jons, eine Apotheke. Lawrenz sagte es wenigstens, und ich denke, daß er Bescheid weiß.« Er öffnete die Türen zu einem breiten Wandschrank und blickte auf die dunklen und grauen Flaschen mit den weißen Schildern. »Soviel Mühe mit dem kleinen Menschenwesen ...«, sagte er nachdenklich. »Der alte Herr von Balk kannte nur Alkohol ... auch gegangen.«

Sie stiegen schweigend die Treppe hinauf, wo die schweren Dachbalken entlangliefen. »Wie für die Ewigkeit gebaut«, sagte Balk, »oder für das, was wir dafür halten.« Jons' Schlafkammer war klein, aber sie blickte auf die Insel hinaus, und das Grabkreuz des Großvaters stand deutlich vor dem Abendhimmel.

Aus der anderen Kammer trat das Mädchen aus dem »Paradies« und machte einen tiefen Knicks wie eine Konfirmandin. »Haben gedacht«, sagte Balk, »daß sie hier für dich sorgen soll. Führt zu nichts, ein Leben lang in den Spuren der Toten zu gehen. Mußt sie ein bißchen anlernen, daß sie dir bei den Kranken hilft.«

»Du mußt dich nicht fürchten, Hanna«, sagte Jons. »Dies ist ein Märchenhaus, und alle guten Geister haben es gebaut.«

»Auch der Zimmermann Chuchollek war darunter«, bemerkte Balk trocken. »Er war immer betrunken, aber weshalb sollen gute Geister nicht auch mal betrunken sein?«

»Chuchollek ...«, sagte Jons lächelnd und blieb auf der Treppe stehen. »Ach, Herr von Balk, wie die Jahre vergangen sind ...«

»Das ist so ihre Art, Jons, und wir wollen sie ihnen lassen.«

Als sie vor dem Hause standen, mußte Jons noch einmal den Kopf schütteln. »Weshalb es mich so bedrückt am Anfang, Herr von Balk, ist, daß ich ganz klein anfangen wollte und ganz aus Eigenem. Man hat mir mein Leben lang zuviel geschenkt.«

»An Eigenem, mein Lieber, hast du es dein ganzes Leben nicht fehlen lassen. Was du allein erwerben konntest, hast du erworben, im Geistigen und in einigen anderen Dingen. Das andere ist eine Sache des Geldes, also etwas Subalternes. Bitte diese Grenzlinie in aller Klarheit zu ziehen. Grenzsteine verrücken ist bekanntlich sehr strafbar. Du sollst es nicht bequem oder herrlich oder großartig haben, du sollst nur ohne Kette beginnen, verstanden? Der Mann namens Maschlanka hat schon davon gefaselt, aber wie gewöhnlich nichts davon verstanden. Du sollst zu einem Kranken gehen, ohne auszurechnen, ob der Lohn dafür zu einem Stuhlbein reichen wird. Solch einen Arzt wollen wir hier nämlich haben. Jakob würde sich gefreut haben, und auch du sollst es tun. Nur der liebe Gott und Kiewitt wissen, wie lange wir das tun können.«

Noch vor dem Jeromin-Haus kehrte Jons um. »Ich kann nicht mitkommen, Herr von Balk«, sagte er. »Ich muß es noch einmal ansehen, alles ...«

»Siehst du, Jons! Dein Schuster würde die Achseln zucken. ›Eigentum ist Diebstahl‹, würde er sagen. Aber wenn ihm jemand seine Glaskugel nähme, würde er ihm wahrscheinlich mit dem Schusterhammer über den Kopf hauen. Die Relativitätstheorie ist eine große Theorie, Jons, und Lawrenz ist stolz, daß ein Jude sie gefunden hat. Er hat es mir wenigstens gesagt. ›Macht vieles gut, Herr von Balk‹, hat er gesagt, ›was zuviel an Zinsen genommen worden ist.‹ Denkt immer an die Sünden der Väter, Jons. Kommt vom Alten Testament her. Mein Vater hat nie daran gedacht. Erinnere mich wenigstens nicht.«

Jons ging in das Haus zurück. Eine Weile blieb er vor dem Türschild stehen und dachte, daß seine Mutter, wenn sie noch lebte, wohl heimlich in der Nacht vom Meiler gekommen wäre, um es schweigend anzusehen. Es war kein Kaiserreich, aber es war mehr als das: es war die Hälfte eines Menschenlebens.

Er mußte jedes Instrument in die Hand nehmen und den Strom durch den Röntgenapparat schicken. Er mußte in jedem Sessel sitzen und vorsichtig um den großen Tisch herumgehen. Er war wie ein Kind, nicht größer als Micha, nur fröhlicher. Der Stabsarzt hat nicht recht behalten, dachte er. Aber es ist anders, als er es gemeint hat.

Er rief das Mädchen und zeigte ihm den großen Raum im Lampenlicht. »Wir wollen es still und gut haben hier, Hanna«, sagte er und strich ihr über das dunkle Haar. »Wir haben viel gutzumachen an dir. Du darfst dich nicht fürchten und mußt Geduld mit mir haben. Auch ich muß das Sprechen wieder ein bißchen lernen.«

Sie nahm seine Hand und küßte sie, wie sie es in ihrem Dorfe gelernt hatte. Ihre schönen braunen Augen waren immer noch wie damals, als Frau Marthe sie vom Sarge gewiesen hatte. »Ich will alles tun, Herr Doktor«, sagte sie leise.

Aber sie lächelte doch schüchtern mit, als Jons lachte. »Zu Herrn von Balk kannst du ruhig ›Euer Gnaden‹ sagen, Hanna. Das kommt ihm schon zu. Aber für dich und das ganze Dorf bin ich nicht der ›Herr Doktor‹.«

Jedes Leben läuft langsam an in den kleinen östlichen Dörfern. Langsam wie eine schwere Maschine, deren Schwungrad mit der Hand bewegt werden muß, ehe die geheimnisvolle Kraft es zu treiben beginnt, immer schneller und schneller, bis der hohe, gleichmäßige, singende Ton sich aus dem dumpfen Dröhnen des Anfangs aufhebt und anzeigt, daß jedes Lager, jede Welle, jedes Rädchen seine Schuldigkeit tut. Es ist wie mit dem Ton der Dreschmaschine, der an blauen Herbsttagen über den kleinen Dörfern steht und weithin über die Wälder anzeigt, daß aus den Garben Korn fällt und aus dem Korn einmal Brot fallen wird.

Und so ist es auch mit dem Leben des Dorfarztes Jeromin. Zuerst erscheint eine Anzeige im Kreisblatt, und die Anzeige läuft von Haus zu Haus und von Dorf zu Dorf. »Nun ist es also soweit«, sagen die Leute nachdenklich und auch ein bißchen stolz. »Die Jeromins ...« Viel ist von ihnen gesprochen worden in der Landschaft, Helles und Dunkles, und das Dunkle war häufiger als das andere. Aber dies ist nun ein schönes Licht für alle Rohrdächer, die sich über Armut und Krankheit erheben. Der Doktor Lustig war niemals lustig für die kleinen Leute gewesen. Er hatte eine harte Hand, und die Frauen sagten, daß er auch ein hartes Herz habe, und alle sagten, daß seine Hand im Nehmen stärker sei als im Geben.

»Sieh an, ein Jeromin ...« sagte man auch in den großen Gutshäusern. »Der Bruder von den Burschen, mit denen damals die Sache war ... und der Bruder der Bardame, die eine sogenannte Gräfin ist ... da steckt also dieser komische Dorfschulmeister dahinter und auch der rote Balk ... wollen mal sehen, wie viele er umbringen wird ... von Berufs wegen sozusagen ...«

Aber mit diesem ersten dumpfen Ton beginnt das Lebensrad anzulaufen. Es läuft schon am ersten Morgen an, und Jons weiß nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, daß die Witwe Kroll als erste an die Tür klopft. Es ist ein schöner schwarzer Knopf in einem kleinen Messingschild an der Tür angebracht und sogar ein kurzer, deutlicher Hinweis, daß dies eine Glocke sei, aber die Witwe Kroll ist mißtrauisch gegen allen Fortschritt und klopft mit den harten Knöcheln ihrer gesunden Hand laut und vernehmlich an die Eichentür.

Das Mädchen Hanna trägt einen weißen Mantel, der ihr wie das Gewand einer Prinzessin erscheint, und öffnet. »Sieh mal an!« sagt die Witwe Kroll und betrachtet das Wunder mit ihren kleinen, rotgeränderten Augen. »Du bist also hier?« So, als sei das Mädchen gestern noch in Afrika oder Amerika gewesen und auf eine höchst wunderbare und auch verdächtige Weise in dieses Zauberhaus überführt worden.

Hanna errötet, aber sie führt die Witwe Kroll unter dem schwarzen Umschlagtuch schweigend in das kleine Wartezimmer, rückt ihr einen Stuhl zurecht und bittet sie leise, ein bißchen zu warten. Sie werde gleich zum Herrn Doktor geführt werden.

»Zum Herrn Doktor ...«, wiederholt die Witwe Kroll gedankenvoll. »Ja, ja ...« Und dann starrt sie mit ihren bösen Augen zuerst dem Mädchen nach und dann auf ihre verbundene Hand, in der die Schmerzen wie Feuer brennen.

Es ist ein Panaritium, und zwar böser Art, unsauber gehalten und mit den Anfängen einer Lymphgefäßentzündung. Sie leugnet die Schmerzen im Oberarm, aber Jons redet ihr freundlich zu. »Mache mir nichts vor, Mutter Kroll«, sagte er. »Vor dem Arzt muß man nun schon die Wahrheit sagen. Wahrscheinlich wirst du denken, daß ich ruhig in der Stadt hätte bleiben können, aber wenn ich nicht hier wäre, würdest du deinen Finger und vielleicht die Hand verloren haben.«

Sie hört schweigend zu, aber ihre Augen gehen von ihrer geschwollenen und geröteten Hand in den großen Raum, der in der Morgensonne leuchtet. Sie betasten jedes Bild und jedes Buch, die Sessel und den Teppich, und endlich sagt sie mit ihrer beleidigten Stimme: »Ist das alles Deines?«

Er nimmt das Messer aus dem kochenden Wasser und winkt dem Mädchen. »Ja, Mutter Kroll«, erwidert er, »das ist alles meines. Das hat der Herr von Balk mir geschenkt. Und nun mache einmal die Augen zu, Mutter Kroll, und schreie nicht. Es wird ein bißchen weh tun.«

»Ich habe noch nie geschrien«, sagt sie hart und zerbricht sich den alten Kopf, weshalb wohl die Lampen hier an der Decke hängen, statt auf dem Tisch zu stehen.

Es geht so schnell, daß sie nur einmal aufstöhnen kann und daß Hanna nur ein paarmal das Messer aufblitzen sieht. Es sind drei Schnitte, und der Eiter fließt in Strömen heraus. Jons sieht das Mädchen schnell an. Es ist blaß geworden, aber die Hände zittern nicht, und er nickt ihr zu.

»So, Mutter Kroll«, sagt Jons. »Es wird nun viel leichter sein mit den Schmerzen. Sieh dir das einmal an!« Und er zeigt ihr auf der Spitze einer Sonde einen winzigen schwärzlichen Splitter.

»Von so 'n bißchen Dreck?« fragt sie verächtlich.

»Ja, und von einem bißchen Mangel an Sauberkeit, Mutter Kroll.«

Er verbindet die Wunden, legt die Hand in eine Schlinge und befiehlt ihr Ruhe und Schonung. »Es hätte auch anders ausgehen können«, sagt er.

Sie sieht ihn mißtrauisch von der Seite an und geht dann ohne ein Wort. Daß sie am nächsten Tag wiederkommen soll, bestätigt sie nur mit einem Kopfnicken.

Aber am Nachmittag kam ihre Schwiegertochter und reichte Jons mit verlegenem Knicksen ein farbiges rotes Taschentuch, aus dem er sechs Eier auswickelte.

»Sind die alle sechs von ihr?« fragte Jons lächelnd.

Sie errötete, und erst nach einer Weile bekannte sie, daß sie selbst drei dazugetan hätte. »Es sah so nach gar nichts aus ...«, sagte sie.

»Es hätte nach der Schwiegermutter ausgesehen«, erwiderte er fröhlich, »und so sieht es nach dir aus.«

Er trug sie selbst in die Küche, legte sie auf den weißen Tisch und blickte auf sie nieder. »Sieh mal her, Hanna«, sagte er, »das ist nun unser Anfang, und ich finde, er ist gar nicht schlecht. Mein Professor würde zweihundert Mark genommen haben, aber die können wir nicht zum Abendbrot essen.«

Am Nachmittag wurde Jons mit einem kleinen Korbwagen in das Dorf hinter dem »Paradies« geholt, zu einer Frau mit einer schweren Angina, und noch während er den Abszeß im Halse öffnete, kam ein kleiner klappernder Kraftwagen vorgefahren und nahm ihn in eines der Sägewerke, wo eine Kreissäge einem Mann in die Hand gegangen war. Es gab keine Taschentücher mit Eiern, aber es gab an beiden Stellen eine ehrfürchtige Bewunderung der leisen, freundlichen Art, mit der er den Eingriff vorbereitete, und der unbedingten Sicherheit, mit der er ihn ausführte. Es kam niemandem in den Sinn, daß er sich irren könnte. Es war augenscheinlich, daß er die Schmerzen besiegte, und die Tatsache, daß er Gummihandschuhe benutzte, war so unglaublich, daß sie am Abend schon durch alle Dörfer um den See gelaufen war. Es war das gleiche für die Dörfer, als ob dem Pfarrer auf der Kanzel zu Beginn der Predigt Silberflügel aus dem Talar gewachsen wären.

Sie erreichte auch den Arzt in Kirchdorf mit dem Namen Lustig. Aber er zuckte nur die Achseln, blickte gleichmütig auf seine nicht ganz sauberen Fingernägel und sagte dann verächtlich: »Firlefanz, mit dem diese Burschen ihren Konkurrenzkampf beginnen ...«

Der dicke Sägewerksbesitzer aber starrte mit seinen leise hervortretenden Augen auf Spritze, Messer, Schere und Nadeln, atmete schwer auf, als alles fertig war, und sagte dann andächtig: »Das soll Ihnen hier mal einer nachmachen, Doktor! Kenne die Herren Kollegen seit dreißig Jahren, und bei mir passiert jeden Monat was. Können sich drauf verlassen, daß jedes Sägewerk Sie holen läßt, wenn was los ist. Werde dafür sorgen. Ist wie ein Wunder Gottes, was ich gesehen habe!«

Es dämmerte schon, als der klapprige Wagen Jons an der Haustür absetzte. Er war müde, aber er blieb noch eine Weile stehen und sah in das helle Abendrot. Die Läden waren geschlossen, das Feuer brannte im kleinen Kamin, die Stehlampe warf ihren Schein über den stillen Raum, der so aussah, als hätten schon zehn Jahre lang stille Menschen um die Abendzeit hier gesessen. Das Mädchen trug das Essen auf, und wenn Jons nicht hinsah, blickte es sich scheu um, als habe eine Stimme ihr zugerufen, daß dies nun der letzte Tag aus einem Märchen sei und morgen werde es vor einem fremden Herd in einem Kleid von Asche erwachen müssen.

»Ein guter Tag, Hanna«, sagte Jons, stand vor dem Feuer und stopfte seine kurze Pfeife.

Die Tage werden länger, und jedesmal, wenn Jons heimkehrt, ist das Abendrot um Fingerbreite mehr nach Norden gerückt. Sie werden länger, aber sie laufen schneller, und manchmal weiß Jons nicht, wie sie so schnell haben vergehen können. Er hat ein altes Fahrrad gekauft, und der Kreis seines Lebens dehnt sich immer weiter aus, in die Wälder hinein und über sie hinaus. Er macht keine Wunderkuren, er ist kein Herr des Todes. Aber sein Auge ist unbestechlich, seine Hand ist ruhig und sanft, und er hat sein Herz nicht vor der Tür gelassen, wenn er sich bückt und in die kleinen, dumpfen Kammern tritt, wo sich die angstvollen Augen auf ihn richten. Er hat die großen Kliniken vergessen, die blitzenden Operationssäle, in die der Geheimrat wie ein Gott tritt. Aber er hat Lawrenz nicht vergessen und nicht seinen Vater. Er hat das Zwischenreich des reinen Geistes durchschritten, und nun knüpft er sein Leben dort wieder an, wo es am Meiler begonnen hat. Er treibt keine Krebsforschungen, er impft keine Meerschweinchen, er grübelt nicht über die Gerechtigkeit auf dem Acker. Er hat arme und kleine Leute vor sich, eine Lungenentzündung, ein von einem stürzenden Baum verletztes Rückgrat, einen Arm, der in die Treibriemen eines Sägewerks gekommen ist. Und Kinder, viele Kinder, schlecht genährt, wenig beaufsichtigt. Englische Krankheit, Scharlach, Diphtherie. Er lebt nicht wie Lawrenz, er denkt nicht an Honorare wie die ›Koryphäen‹, er hat keinen Paradiesvogel zu Hause wie der Stabsarzt. Aber es ist seine Landschaft, es sind seine Menschen. Sie haben ihn getragen, so eng und kümmerlich ihre Herzen sein mögen. Viel ist geopfert worden für ihn, gedarbt und entbehrt worden. Und viele haben auf ihn gewartet, daß er sich ihrer annehme, nachdem Geschlechter lang niemand sich ihrer angenommen hatte. Und wenn auf seinen langen Fahrten hinter mageren Feldern wieder eines der kleinen Dörfer auftaucht, vom Walde umschlossen, von einem ungeheuren Himmel überspannt, dann erinnert er sich der Worte des Vaters, daß in jedem dieser kleinen Dörfer Christus hätte geboren werden können, und wenn er absteigt, das Rad an die Holzwand des Hauses lehnt und die große Tasche mit den Instrumenten vom Sattel nimmt, ist ihm jedesmal, als folgten ihm die stillen Augen, wenn er sich unter den Türbalken bückt, und als ermahnten sie ihn, keinen von denen gering zu achten, die nun mit fiebrigen Augen unter den gewürfelten Bettbezügen auf ihn warteten.

Er wundert sich ein bißchen, daß er noch zu keiner Geburt geholt worden ist, aber er versteht, weshalb auch dieses seine Zeit braucht. Jahrhundertelang sind diese großen Dinge still vor sich gegangen, und niemand als die »weisen Frauen« hat sich darum bekümmern dürfen. Der liebe Gott hat im Plan seiner Schöpfung keine Ärzte neben die Gebärenden gestellt, nur die Schmerzen, und so ist es geblieben. Und dann ist ein Hauptgrund der, daß Jons nicht verheiratet ist. Es ist ein kleines Vorurteil, eine Scheu derer, die sich eine altmodische Keuschheit der Seele bewahrt haben, aber Jons weiß, daß auch das vorübergehen wird. Es braucht nur Zeit, und vielleicht bedarf es einer besonderen Gelegenheit.

Sie kommt schneller, als Jons gedacht hat, und später hat er nur mit einem leisen Herzklopfen an die Sonnwendnacht dieses ersten Jahres zurückdenken können.

In Sowirog hatten sie ein Feuer auf dem höchsten Ackerrain angezündet. Jons war noch vor Mitternacht heimgegangen, weil er nicht gern zur Nachtzeit sein Haus verließ, und Hanna hatte am Fernsprecher gestanden und ihm den Hörer gereicht. Es war eines der großen Güter hinter dem See, und der junge Herr von Bohnen, der vor einem Jahr geheiratet hatte, sprach selbst. Seine Stimme war heiser, und es dauerte eine Weile, bis Jons alles verstand. Dr. Lustig sei da und habe erklärt, daß es hoffnungslos sei. Vielleicht könne man das Kind töten, aber auch dann werde die Mutter wahrscheinlich verloren sein. Ein abnorm enges Becken oder so etwas Ähnliches.

›Lawrenz‹ ..., dachte Jons. ›Dies ist Lawrenz, der mich ruft ...‹

Weshalb die Frau nicht in das Kreiskrankenhaus gebracht werde, fragte er.

Das sei zu spät, habe Lustig erklärt, und auch dort würden sie nicht helfen können.

Ein paar Sekunden schwieg Jons und lauschte auf die schweren Atemzüge am anderen Ende der Leitung. Sie waren weit fort und ab und zu von einem leise summenden Ton unterbrochen oder überdeckt, wie von Signalen aus dem großen Raum unter den Sternen.

»Lassen Sie mich sofort holen«, sagte er endlich, »und lassen Sie nach Dr. Lustigs Anweisungen alles zu einer Operation vorbereiten!«

»Jawohl!« sagte die Stimme. »Jawohl, und tausend Dank, Herr Doktor ...« Jons hängte den Hörer in den Haken, starrte auf die Nummernscheibe und drehte sich dann um. Das Mädchen stand immer noch da. »Hast du Angst?« fragte es leise.

Er schüttelte den Kopf. »Es wird eine schwere Nacht, Hanna«, sagte er. »Du mußt mitkommen und sehr tapfer sein. Ich fürchte, daß der Doktor nicht die Absicht haben wird, uns zu helfen.«

Sie packten alles in einen Koffer, und Jons sah noch einmal Stück für Stück durch. Er brauchte die Abbildungen nicht mehr aufzuschlagen, die Lawrenz ihm damals zugeschoben hatte. Aber er dachte, daß das Schicksal doch nichts umsonst tue. Es war wie ein weiser Hausvater.

Der große Wagen stand wie ein dunkles Gespenst vor der Tür, nur seine Augen warfen zwei lange Lichtbänder auf die Hütten des Dorfes. Der Chauffeur nahm die Mütze ab, und Jons setzte sich zu ihm. Das Sonnwendfeuer brannte immer noch, und die Gestalten davor erschienen wie Schatten vor der roten Glut. Der Nordosthimmel war schon weißlich, von roten Adern durchzogen, aber es konnte auch noch der Abendhimmel sein, der unmerklich in die Frühe ging. Über dem Moor stand eine weiße Nebelwand, und die Torfhaufen am Wege erschienen wie große dunkle Häuser, bis sie im fahlen Licht der Scheinwerfer zusammenschrumpften. Die Bekassinen riefen, und aus den reifenden Feldern kam der Ton der Wiesenschnarre, eintönig und von allen Seiten.

Sie fröstelten beide und zogen die Decken enger um die Knie.

Herr von Bohnen hatte ein schmales, scharfes Gesicht, das nun grau und verfallen aussah. Als er vor ihnen die Treppe hinaufging, sah Jons, daß er hohe Reitstiefel mit Sporen trug. Die Sporen wenigstens hätte er doch abschnallen können, dachte er noch.

Dr. Lustig nickte kaum merklich mit dem Kopf. Sein schweres Gesicht war finster, und seine müden Augen blickten böse auf Hanna, als trage sie allein die Schuld an dieser Katastrophe.

Frau von Bohnen hatte kleine Schweißtropfen auf der Stirn und richtete die großen, brennenden Augen auf Jons. Es war nicht zu sehen, ob sie sich fürchtete oder ihm vertraute.

Er untersuchte sie schnell und genau, stellte ein paar Fragen und setzte sich dann auf den Bettrand. Er nahm ihre heiße Hand und sah sie mit seinen ruhigen Augen eine Weile an. »Ich habe es einmal gemacht«, sagte er, »und es gelang mir. Es kann das zweitemal mißlingen, aber ich will es verantworten. Dazu bin ich da. Nach dem Gesetz müssen Sie beide Ihr Einverständnis erklären.«

Sie taten es ohne Zögern.

»Ich denke, daß Herr Doktor Lustig mithelfen wird«, sagte Jons.

Der Doktor dachte gar nicht daran. Er lehnte jede Verantwortung ab, und es sei ein Wahnsinn, unter diesen primitiven Verhältnissen eine solche Operation zu wagen. Ja, es sei ein Verbrechen, und er wolle seine Hände frei davon halten.

Jons hörte schweigend zu und streifte nur mit einem schnellen Blick die schweren Hände des Arztes.

Ob sie trotzdem einverstanden seien, fragte er nur.

Sie nickten beide.

»Ist es wahr, daß Sie eines Köhlers Sohn sind?« fragte die Frau leise.

Ja, das sei wahr, und gerade deshalb tue er es.

Das Bad stieß an das Schlafzimmer, und dort bereiteten sie alles vor. Hannas Hände zitterten, und Jons sprach ihr leise zu. Sie nickte, aber ihre Augen waren groß und voller Angst. Der Doktor stand am Fenster und starrte in das zunehmende Morgenlicht.

Sie legten eine Matratze auf einen langen niedrigen Tisch und hoben Frau von Bohnen mit ihrem Laken darauf. Zwei verstörte Mädchen und die Hebamme halfen. »Sollen alle hinausgehen?« fragte der Gutsherr. Jons schüttelte den Kopf und wies nur auf die Ecke des Raumes, wo ein grünes Sofa und ein paar Sessel um einen runden Tisch standen. ›Es ist wie bei Lawrenz‹, dachte er wieder, und er wußte, daß es ihm gelingen würde.

Bevor er Frau von Bohnen die Maske über das Gesicht legte, nahm er ihre Hand, fühlte nach dem Pulsschlag, beugte sich über sie und sagte leise: »Glauben Sie! Nichts weiter.«

Sie lächelte ihm zu. »Für mich sind Sie wie ein Heiland ...«. flüsterte sie zurück. Ihre Gedanken verwirrten sich wohl schon.

Jons wies mit einer strengen Handbewegung den Arzt zurück, der an den Tisch treten wollte. Dann legten er und das Mädchen die Masken an. Die Narkose begann.

Es war so still im Zimmer wie bei einer Beerdigung. Nur eine kleine Uhr ging mit schnellen Schlägen durch die Zeit, aber Jons konnte nicht erkennen, wo sie stand. Die ersten Vögel riefen im Park, und Jons hörte das Lied der Grasmücke heraus. ›Es wird ein schöner Tag‹, dachte er. ›Der Sommer beginnt ...‹

Er blickte noch einmal in den großen Raum. Sie hatten die stärksten Glühbirnen eingedreht, die sie besaßen, und das Licht war weiß und warf schwere Schatten hinter den Möbeln. Der Doktor lehnte am Fensterbrett und starrte auf den Operationstisch. Seine Augen waren noch immer böse, aber sein Gesicht erschien ganz weiß im Lampenlicht. Herr von Bohnen hatte den Kopf in beide Hände gestützt, so daß seine Augen nicht zu sehen waren. Die Sporen schimmerten wie silberne Sterne. Die Hebamme saß gerade und unbeweglich. Ihr von Runzeln erfülltes Gesicht war streng und feierlich. Die beiden Mädchen beteten.

Frau von Bohnen begann zu zählen, sorgsam und genau wie ein Schulkind. Bei »zehn« schlief sie ein, und das Schweigen war nun wie ein unermeßlicher Abgrund.

Hanna nahm die beiden vernickelten Instrumente, die wie kleine Klauen aussahen, um die Wundwände auseinanderzuziehen, und Jons setzte leise, mit unendlicher Behutsamkeit, das Messer an. Er sah, daß die Hände des Mädchens aufzuckten, als das erste Rot auf der weißen Haut erschien, und dann still hielten. Er beugte sich tief herunter und sprach kein Wort. Ein paarmal ging er mit einem langen, schnellen Schritt zum Kopfende des Tisches, lauschte auf den Atem der Schlafenden und fühlte den Puls. Er schlug langsam und gleichmäßig.

Als er das Kind heraushob, so sorgfältig, als ob es mit der Mutter aus Glas wäre, und sah, daß es gesund und wohlgebildet war, atmete er tief auf und rief mit einem Blick die Hebamme zu sich. Dann nähte er die Wundränder zusammen, einen nach dem anderen, machte den Verband, schob das Tuch wieder über den Körper und stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch. Eine kurze Zeit sah er nichts als einen schwarzen, unbegrenzten, unendlichen Raum, von winzigen Sternen erfüllt, die sich in kleinen Kurven bewegten. Dann hörte er die Vögel wieder und sah die Gestalt des Mädchens, weiß wie eine Nonne in seiner Verhüllung, gleich ihm mit beiden Händen auf den Tisch gestützt und gleich ihm schweigend wie eine Grabfigur.

Er ließ das Licht abschalten und Vorhänge und Fenster öffnen. Das Morgenrot stand wie eine Feuerwand hinter den Wipfeln, und die Luft kam kühl, rein und nach Heu duftend in den Raum.

»Es ist noch nicht alles gewonnen«, sagte er zu dem Gutsherrn. »Nur das Kind ist gewonnen. Aber ich hoffe, daß alles gut werden wird.«

Er sah Tränen in den Augen des anderen und legte ihm die Hand auf die Schulter. Es war ihm, als sei er um ein Menschenleben älter als dieser.

Er gab der Hebamme Anweisungen, und sie nickte ihm zu. »Der Herr Vater ..., wenn er das erlebt hätte ...«, sagte sie leise.

Dr. Lustig sollte dableiben und auf den Puls achten. Der Wagen sollte in Sowirog warten, und jede Stunde sollte Herr von Bohnen anrufen. Am Nachmittag würde Jons wiederkommen. Er würde bis dahin nicht aus dem Hause gehen.

In der Halle und vor der Freitreppe standen viele Menschen. Jons war es, als blickten sie alle auf ihn, und er lächelte ihnen zu, als kennte er jeden einzelnen von ihnen.

»Doktor«, sagte Herr von Bohnen, als er ihm die Decke um die Knie legte, »ich will es nicht vergessen ... bis zu meinem Tode nicht ...«

Sie sprachen kein Wort unterwegs, und erst als sie die Läden zu Hause geöffnet hatten und in dem großen Raum standen, müde und übernächtig, schlug das Mädchen plötzlich die Hände vor sein Gesicht und begann krampfhaft zu weinen.

»Es ist vorbei, Hanna«, sagte Jons und strich ihr tröstend über das Haar. »Es ist vorbei, und du hast es gut bestanden.« Dann führte er sie die Treppe hinauf bis in ihre Kammer. »Schlafe nun«, sagte er, »bis ich dich wecke.«

Und dann saß er eine Weile auf dem Sand des Seeufers und sah zu, wie die Sonne über den Wald stieg.

Frau von Bohnen überstand es ohne jeden Schaden, und die Leute an dem See machten ein großes Aufsehen von allem. Ein »Lokalreporter« schrieb einen Aufsatz im Kreisblatt, und danach hätte man meinen können, daß Jons die junge Gutsfrau vom Kinn bis zu den Zehen aufgeschnitten hätte.

Jons brachte die Zeitung mit und las sie ihr vor. »Das könnte Maschlanka geschrieben haben«, sagte er lächelnd. »Er hat schon einmal von einem ›Geistesheros‹ gesprochen. ›Mit Pedal‹, wie der Herr von Balk sagt.« Ob sie Maschlanka kenne?

Nein, sie kannte ihn nicht. Aber sie legte ihre durchsichtige, ringgeschmückte Hand auf seine braunen Hände und sah ihn an. »Als die Hebamme zum erstenmal von Ihnen sprach«, sagte sie, »damals in der Nacht, hat der Doktor die Achseln gezuckt und gesagt: ›Ein Köhlerssohn ...‹ Und auch mein Mann hat die Achseln gezuckt. Ich aber wußte, wer Sie sind, als Sie auf meinem Bettrand saßen. Ich sah, daß Ihre Augen das Kind sahen ...«

Er nickte. »Das heilige Leben«, sagte er. »Daß man wissen muß, daß alles Leben heilig ist ...«

Die Leute von Sowirog gingen umher, als hätte der Kaiser jedem von ihnen sein Bild geschenkt, und Barbara wurde nicht müde, zu fragen, ob das Kind nun die Augen aufgemacht habe, als er es in die Sonne gehoben habe.

Der Herr von Balk sagte nichts, aber eines Tages erschien er mit einem kleinen Korbwagen und einem hochbeinigen Fuchs davor, blickte gedankenvoll auf die Hufe des Pferdes und meinte, das sei nun doch wohl der richtige Renner für einen berühmten Landarzt. Für ›Jack the Ripper‹, setzte er hinzu. Zum Winter folge ein Schlitten nach. Radfahren sei gut für Maschlanka, damit es ihm die Rede etwas verschlage. Ein Arzt aber brauche eine ruhige Hand und ein ruhiges Herz.

Ob der Herr von Balk ihm vielleicht nächstens einen Wagen mit hundertfünfzig Pferdekräften anbringen werde, fragte Jons.

Nein, das wollte Balk nicht. »Da ist ein kleiner Unterschied, Jons«, sagte er. »Für unsereinen wenigstens. Pferde riechen, Wagen stinken. Das ist es.«

Für das Pferd werde also der Gogunsohn sorgen, dem er nun die Fischerei übergeben habe. Eine problematische Natur, aber in Fischen und Pferden sei er zuverlässig.

Es war eine große Erleichterung für Jons. Auch ein geschickter Radfahrer kann auf einem schmalen Fußsteig mit alten Wurzeln nicht denken. Er kann nicht einmal Wald und Wasser und Himmel sehen, außer für einen schnellen Augenblick. Aber nun gab es wieder einen großen Horizont für den Fahrenden, und bei Regen ließ sich sogar ein niedriges Schutzdach heraufschlagen. Ja, es kam vor, daß der junge Doktor auf der Landstraße zu sehen war, in seinen Sitz zurückgelehnt und ein Buch auf den Knien, in dem er las, während die dünne weiße Staubwand hinter ihm sich langsam über die Felder legte. »Er studiert noch immer«, sagten die Leute am Moorrand oder bei den Korngarben. »Er wird ja nun wohl der klügste Mann im Lande werden ...«

Jons hatte nun keinen Anlaß mehr, das Messingschild mit dem Titel »Geburtshelfer« mit einiger Wehmut zu betrachten, und als der erste Kätner aus einem Dorf hinter dem Moor bei ihm erschien und mit unbeholfenen Worten erklärte, daß seine Frau »sich schwer tue«, fühlte er sich zum erstenmal ganz und ohne Vorbehalt in seine Landschaft aufgenommen. Dr. Lustig aber saß nun an manchem Abend über seinem Patientenbuch, addierte Zahlen, verglich sie mit denen der letzten Jahre und blickte finster auf das Ergebnis, das er mit seiner schweren Hand niedergeschrieben hatte. »Diese jungen Burschen ...«, murmelte er. »Skrupellos sind sie und ohne Respekt ...«

Aber erst die Sache mit Piontek schuf das unerschütterliche Fundament, auf dem sein ärztliches Leben nun zu ruhen begann. Auch ihm fehlte es nicht an Mißerfolgen, auch er konnte den Tod nicht besiegen. Aber er hatte für sich, daß er es schnell erkannte und aussprach und daß die Mißerfolge nicht aus einem Fehler seiner Hand oder seines Auges entstanden. Nach der »Sache mit Piontek« aber gab es keinen Zweifel an seiner Kunst in den kleinen Dörfern, denn er hatte an einem kleinen Mann alles getan, was sonst nur an den Großen getan wurde. Ja, er hatte ihn sogar in die »Teufelskammer« genommen, wie der Röntgenraum hieß. Er hatte den Herrn von Balk gezwungen, Handschuhe anzuziehen und eine Maske aufzusetzen, um bei der Operation zu helfen, und als es ans Bezahlen gegangen sei, hätte der Doktor nur gelächelt und gesagt: »Wenn ich wieder am Feuer bei dir sitze, Piontek, dann wirst du mir den schönsten Steinpilz auf die Glut legen und die schönste Geschichte erzählen, und dann werden wir quitt sein, ganz und gar quitt.«

Es war an einem Sommerabend, und die Herde war schon ins Dorf zurückgekehrt. Jons saß mit Herrn von Balk an dem offenen breiten Fenster, und sie sahen zu, wie die jungen Taucher auf dem See ihre Abendspiele trieben.

»Piontek ist da«, sagte das Mädchen.

Er wurde hereingeführt, stand da, auf seinen Stock gestützt, und seine fiebrigen Augen glänzten, so wie die Silberringe in seinen Ohren. »Nun weiß ich mir wohl keinen Rat mehr, Jons«, sagte er leise. Es war ihm wohl nicht recht, daß der Herr von Balk da war, aber dann richtete er seine Augen nur auf Jons, die demütigen Augen eines alten Mannes, der nun mit seiner Kraft und seiner Einsamkeit zu Ende war.

Jons stand schnell auf, führte ihn zu einem der Sessel und legte die Finger auf sein Handgelenk. Er hatte hohes Fieber, und Jons legte die Hand auf die rechte Seite seines Unterleibs. »Ich wußte, daß etwas unterwegs war, Jons«, sagte er. »Schon damals. Vielleicht ist es dieses nun. Vielleicht ist es auch etwas anderes. Aber du wirst es wissen. Sie sagen ja, daß du die Menschen aufschneidest und es dann weißt. Mein Lebtag bin ich zu keinem Doktor gegangen, aber zu dir bin ich gekommen, denn du bist Jakobs Sohn.«

Jons blickte eine Weile auf das graue, von hundert Falten durchzogene Gesicht unter dem weißen Haar, in dem für ihn die Geschichte des Dorfes Sowirog beschlossen war. Er sah die kleinen Hirtenfeuer, an denen er gesessen hatte, von seiner Kindheit an, und er hörte den Ton des Rindenhornes, der »das Echo weckte«.

»Wie alt bist du, Piontek?« fragte er leise.

»Das werden nun wohl an die fünfundsiebzig Sommer sein, Jons. Ich hütete schon, als sie in den Dänischen Krieg zogen.«

»Mach das mal auf, Piontek, daß ich meine Hand dort hinlegen kann.«

Er fühlte die harte Geschwulst, und Piontek zuckte zusammen, als er behutsam mit der Hand darüberglitt.

»Typhlitis stercoralis«, sagte er leise zu Balk.

»Sehr schön und klangreich«, erwiderte Balk, »aber was mag es bedeuten?«

»Blinddarm. Letztes Stadium ... Ich will dich noch einmal durchleuchten, Piontek«, sagte er. »Ich möchte mich nicht gern irren bei dir.«

»Du wirst dich nie irren, Jons«, erwiderte Piontek und sah ihn an.

Als er hinter den Schirm trat und die Arme auf das kühle Eisen legte, zitterte er. »Umbringen wirst du mich wohl nicht?« fragte er. »Sonst tue es auf dem Moor und nicht in dieser Kammer.«

»Jetzt!« sagte Jons.

Das Licht erlosch, und das helle Summen stand wie eine Geisterstimme im Raum. Piontek erbebte wie ein alter Baum, aber er stand still und erwartete den Tod.

»Ich habe mich wohl nicht geirrt«, sagte Jons. »Mache schnell alles fertig, Hanna! Wir müssen sofort operieren.«

Er ging schnell in den großen Raum zurück und nahm die Instrumente aus dem Schrank. »Sie müssen mir ein bißchen helfen, Herr von Balk«, sagte er. »Es kann jeden Augenblick ein Durchbruch erfolgen, und es hängt an einem seidenen Faden.«

Sie arbeiteten schnell und lautlos, und ehe Piontek erkennen konnte, was geschehen sollte, lag er auf dem Operationstisch und sah wie durch einen Nebel drei weißgekleidete Gespenster sich um ihn bewegen.

»Ich muß es herausnehmen, Piontek«, sagte Jons, beugte sich über den Hirten und sah ihm freundlich in die Augen. »Du wirst keine Angst haben, nicht wahr? Du wirst einschlafen, und nachher wird alles gut sein. Kein Fieber, keine Schmerzen. Ich werde es tun, als ob du mein Vater wärest.«

»Ich weiß es, Jons«, sagte der Hirte nach einer Weile. »In deine Hände befehle ich meinen Leib.«

Balk räusperte sich ein bißchen, als Jons die Bauchwand durchtrennte, aber dann stand er unbeweglich, die Finger am Puls des Bewußtlosen, und blickte auf die Hand, die das Messer führte.

»Vielleicht wäre es in einer Stunde zu spät gewesen«, sagte Jons nur, als es zu Ende war.

Er schickte Hanna zum Schulzen, um die Kammer für Piontek in Ordnung bringen zu lassen, und ließ Erdmuthe bitten, die Pflege zu übernehmen. Dann saß er mit Herrn von Balk vor der Tür, stopfte seine Pfeife und blickte in den Abendhimmel, der noch immer rötlich hinter den Kiefern leuchtete.

»Haben Sie das gehört, was er sagte?« fragte er nach einer Weile leise. »›In deine Hände ...‹? Das hat noch niemand zu mir gesagt ...«

Herr von Balk räusperte sich wieder. »Es hat auch noch niemand im Eulenwinkel solche Dinge vorgenommen, Jons«, erwiderte er.

Und dann schwiegen sie, bis die Leute kamen, um die Bahre in Grünheids Haus zu tragen.

Sie gingen alle mit, durch die helle Sommernacht, in der die Fledermäuse flogen. Die Leute von Sowirog standen vor den Türen, und ein Mädchen, das die Zöpfe schon zur Nacht eingeflochten hatte, sagte leise zu den bei ihm Stehenden: »Er hat ihn totgemacht ... er hat ihm den Bauch aufgeschnitten und ihn totgemacht ...«

Aber die Mutter riß es zornig am Arm zurück und schob es in die Haustür hinein.

»Ich will nun fahren, Jons«, sagte Balk, als sie wieder vor dem Jeromin-Haus standen. »Ich werde eine ganze Menge nachzudenken haben, während ich fahre.«

Als er die Leine aus Johannes' Händen nahm, beugte er sich noch einmal zu Jons herunter und sagte: »Und wenn es der ganze Wald gewesen wäre, der letzte Baum: es würde nicht schade gewesen sein ...«


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