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VIII

»Ich habe nichts auszusetzen daran, Jeromin«, sagte der Geheimrat und blätterte in den Seiten, die er in der linken Hand hielt. »Imprimatur ... das Merkwürdige ist, daß an Ihnen überhaupt nichts auszusetzen ist.« Und er sah Jons über die Brille hinweg mit einer Mischung von Scheu und Güte an.

»Meine Mutter hatte viel an mir auszusetzen«, erwiderte Jons.

»Das ist ein anderes Feld, Jeromin. Die meinige glaubte, daß der Teufel mich holen würde, und es kommt ja nur darauf an, was man sich unter ihm vorstellt ... Denken Sie, daß er uns Ärzten besonders nahe steht?«

»Ja, das glaube ich, Herr Geheimrat. Besonders an den Universitäten. Wir versuchen, Gottes Hand anzuhalten.«

»Da haben wir es wieder, Jeromin«, sagte der Professor und legte die Blätter zusammen. »Manchmal wird über Sie gesprochen, nicht immer liebevoll, und die meisten denken, daß Sie auf dem Mars geboren worden sind oder irgendwo in seiner Nachbarschaft. Sie denken nicht nur zuviel, sondern Sie denken anders. Ein paar Kollegen behaupten, daß Sie nicht abendländisch denken. Verstehen Sie, was sie damit meinen?«

Jons verstand es sehr gut. »Vielleicht liegt es an meinem Großvater«, sagte er. »Er ›ruhte in Gott‹, wie es heißt, und das ist nun nicht abendländisch.«

Der Professor schüttelte den Kopf. »Auch dieses ist es, Jeromin ... Sie denken nicht nur anders, Sie sprechen auch anders. Auch hier.« Und er klopfte mit dem Bleistift auf die Blätter der Dissertation. »Und das ist gefährlich. Wenigstens erscheint es den meisten als gefährlich. Besonders den Privatdozenten. Die sind immer voller Mißtrauen, weil sie an ihre Karriere denken.«

»Ich werde keine Karriere stören, Herr Geheimrat.«

»Ich weiß, Jeromin, ich weiß. Und das ist ihnen am unheimlichsten. Gerade das. Der heilige Franziskus ist nicht beliebt bei ihnen. Er tat nämlich alles umsonst. Und wo sollten Privatdozenten hinkommen, wenn sie alles umsonst tun sollten?«

»Sie würden näher an das Letzte kommen, Herr Geheimrat.«

»Das ist es vielleicht. Aber sie wollen eben näher an das Erste kommen und nicht an das Letzte. Einer von ihnen hat sich besonders um Sie bekümmert, Jeromin. Als Privatdetektiv und nicht als Privatdozent. Vielleicht sind die beiden Berufe verwandt. Das von Ihren beiden Brüdern oder von Ihren drei Brüdern hat er herausgebracht. Und das von Ihrer Schwester auch. Er war sehr stolz darauf, und wenn Sie sich habilitieren wollten, würde er wahrscheinlich ›flammenden Protest‹ einlegen, wie man das heute nennt.«

»Er wird es nicht zu tun brauchen«, erwiderte Jons. Sein Gesicht hatte sich verfinstert, und der Professor streckte vorsichtig seine Hand aus. »Ich habe es Ihnen nur gesagt, damit Sie gerüstet sind, Jeromin«, sagte er gütig. Unsere Fakultät ist nicht so, daß sie Steine werfen lehrt. Auch habe ich nicht unterlassen, dem jungen Herrn meine Meinung zu sagen. Eine sehr deutliche Meinung.«

»Ich danke Ihnen, Herr Geheimrat«, sagte Jons. »Mein Vater hat viel Leid getragen, und ich weiß, daß ich rechtschaffener zu sein habe als andere.«

Der Professor nickte und stand auf. »Die Fakultät ist nicht blind, Jeromin. Auch sie hat ihre Mängel, aber blind ist sie nicht. Die Kollegen von der Chirurgie und der Gynäkologie werden sich Ihrer wohl besonders annehmen, das wissen Sie?«

Ja, das wußte Jons.

»Aber wir werden wieder einmal ein richtiges ›Rigorosum‹ haben und kein Theater. Darauf freue ich mich, und auch Sie sollen sich darauf freuen, Jeromin.«

Jons versprach es und ging sehr langsam die Treppe hinunter. Auch behielt der Professor recht. Sie nahmen sich seiner an, wie er gesagt hatte, und einmal gab es sogar einen Zusammenstoß. Indem Jons mit unbewegtem Gesicht erklärte, daß der Herr Professor wohl das Recht habe, zu verlangen, daß der zu Prüfende sämtliche Hypothesen über die Vererbung kenne, aber daß er nicht das Recht habe, zu verlangen, daß der zu Prüfende die Hypothese des Examinators für die einzig richtige halte.

Der Protokollführer schrieb das mit sichtbarem Behagen nieder, aber der Gynäkologe fragte mit Schärfe, ob Jons ihn über seine Rechte belehren wolle.

»Jawohl«, erwiderte Jons und sah ihm gerade in die Augen. Wenn er diese Rechte zu verletzen gedenke. So habe sein Vater es gehalten, und so wolle auch er es halten.

Die Gepflogenheiten der Väter stünden hier wohl nicht zur Debatte, sagte der Professor nach einer langen Pause, aber sie wollten nun fortfahren. Aus seinem Gesicht war nicht zu entnehmen, was er über diesen Köhlerssohn dachte, der zum zweitenmal seinen Weg kreuzte. Aber wahrscheinlich hoffte er, daß es das letzte Mal sein würde.

»Rara avis«, sagte der Dekan wieder mit seinem hochmütigen Lächeln, als Jons seinen Vortrag über die Exstirpierung von Gehirntumoren beendet hatte. Aber seine Augen blickten doch nicht ohne Stolz auf den Prüfling. »Im Medizinischen wie im Moralischen«, setzte er hinzu, und Jons sah, daß er nichts vergessen hatte.

Aber als er aufstand, reichte der große Chirurg ihm die Hand und sagte nun ohne Spott: »Und halten Sie es nun immer weiter so, wie Ihr Vater es gehalten hat.«

Und das war der einzige Augenblick während des ganzen Examens, in dem Jons verwirrt gewesen war.

Lawrenz richtete ihm den Doktorschmaus in dem Zimmer mit den grünen Sesseln, und das hatte er sich ausbedungen. »›Summa cum laude‹ ist nichts, Jeromin, das wissen Sie«, sagte er und goß den Portwein in die Gläser. »Aber ›summa cum modestate‹, das ist es, und so würde auch Ihr Vater es gehalten haben. Zu seinem Gedächtnis und zu dem aller, die er liebte!«

Lawrenz sah nicht gut aus an diesem Abend, und manchmal tastete er verstohlen mit der Hand nach der linken Seite, wo er in seiner Westentasche die altmodische Uhr trug. Aber als Jons einmal dieser Bewegung mit den Augen folgte, lächelte er nur verlegen, zog die Uhr heraus und sah mit abwesendem Blick auf das Zifferblatt. »Memento horae!« sagte er. »Ich hätte gern gesehen, Jeromin, wenn Sie meine kleine Klinik übernommen hätten, aber ich weiß, daß das nicht geht. Hier können sie schließlich woanders hingehen, wenn es höchste Zeit ist. Ich bin ja nicht der einzige ordentliche Arzt mit einem freundlichen Herzen. Aber wohin sollen sie in Sowirog gehen? Zum Kollegen Lustig, und seine Lustigkeit ist ja nicht für jedermann.«

Jons hatte ihm erzählt, daß er in den ersten großen Ferien versucht hatte, in dem großen Kirchdorf bei Dr. Lustig zu hospitieren, aber der Doktor hatte ihm an den Fingern vorgerechnet, was er dafür verlangen müsse: Kostgeld, Abnützungsgeld für Pferd und Wagen – »zwei Personen sind immerhin das Doppelte von einer Person, nicht wahr?« – Lehrgeld, und eine Menge anderer Gelder. Jons hatte sich bedankt. »An der Universität ist das billiger«, hatte er nur gesagt.

Nein, zu Lustig sollten sie nicht gehen, das sah Lawrenz ein. »Er wird Sie nicht zu vergiften versuchen, Jeromin«, fuhr er fort, »aber er wird leise an Ihrem ärztlichen Kredit graben. Alleinherrscher haben eine Menge Erfahrung darin, und wahrscheinlich wird er sich auch auf Ihre Familie beziehen. Landärzte sind nicht in allen Dingen Stümper.«

Aber Jons war ohne Sorgen. Er werde schon das Seinige tun.

»Ja«, fuhr Lawrenz fort, »und morgen melden Sie sich zur Staatsprüfung, Jeromin. Es ist Zeit für Sie, und wenn niemand es weiß, so weiß ich es. Und nachher müssen Sie noch ein halbes Jahr darangeben. Sie müssen noch zu einem Augenspezialisten und zu einem für Nase, Ohren und so weiter. Ich habe mich ein bißchen umgesehen da unten bei Ihnen, und ich meine, daß Sie das brauchen werden. Sie sollen gerüstet sein, Jeromin, ganz und gar, und es ist nicht gut, die Hälfte der Leute zu Spezialisten zu schicken. Erstens haben die Leute kein Geld, und zweitens haben sie Angst, und das ist auch recht so. Und drittens ist dort unten eine geschlossene Welt, und in einer geschlossenen Welt gibt es keine Spezialisten. Die Erzväter waren es nicht und die Mönche auch nicht. Und nicht einmal Ihr Vater war es.«

Jons hielt es für zu früh, in die Prüfung zu gehen, aber Lawrenz winkte nur mit der Hand. »Und noch etwas ist da, Jeromin«, sagte er nach einer Weile und blickte zu dem Bilde seiner Mutter hinauf. »Sie können natürlich heiraten. Soviel wirft auch eine arme Praxis ab, und alle Leute werden Ihnen zureden. Aber ich möchte doch gern, daß Sie sich das überlegen. Ich glaube nicht, daß die Propheten verheiratet waren, weder die großen noch die kleinen, und für Salomo war es nicht immer zum Segen. Die katholische Kirche ist eine weise Kirche, und sie hat schon gewußt, weshalb sie den Priestern die Ehe verbot. Ihr Luther hat das ja nun geändert, aber er war mir immer ein bißchen verdächtig, Jeromin. Ein Stück von einem Plebejer war immer in ihm, im Schimpfen und auch in diesen Dingen. Und auch in seiner Beugung vor der Obrigkeit, einer sehr verhängnisvollen Beugung. Ihre Leute wissen ein Lied davon zu singen, Jeromin, auch wenn sie es nicht wissen. Er hat sie bis auf die Erde gebeugt, und so sind sie geblieben. Auch die ›Balduhnsche‹ beim Herrn von Balk.

Ja, und mit der Ehe ist es nun so, Jeromin, daß es für die protestantischen Pfarrer nicht viel ausmacht. Sie gehören nur zur Hälfte Gott und zur Hälfte dem Staat, und der Staat hat immer Kinder gebraucht. Aber mit den Ärzten ist es nicht so, mit den wirklichen. Sie haben sich nicht dem Staat verschrieben, sondern den Kranken. So wenigstens haben die Lehrer unter den Alten gesagt. Und wer sich den Kranken verschreibt, hat keine Zeit mehr zu einer anderen Verschreibung. Es ist wie mit den zween Herren, von denen euer Heiland sagt. Und eine Ehe ist eine Verschreibung, Jeromin, nicht an die Gegenwart, sondern an die Zukunft. Die Gegenwart ist nur ein Vorwand oder eine Täuschung. Der Ring ist ein schweres Symbol, das Abgeschlossenste und Unentrinnbarste, das es gibt. Und deshalb sage ich nicht, daß Sie es nicht tun sollen. Ich sage nur, daß Sie es sich überlegen sollen.«

Jons schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht«, sagte er lächelnd, »daß ich heiraten werde.«

»Wir pflegen mit dreißig Jahren oft genug andere Dinge zu glauben als mit fünfundzwanzig«, erwiderte Lawrenz. »Mit der Liebe ist es anders, Jeromin. Sie trachtet nicht nach Zukunft. Sie ist der Versuch, aus der furchtbaren Einsamkeit des Individuums in die Zweiheit zu gelangen. In die Erlösung. Sie ist die Rückkehr ins All, aus der jede Schöpfung ausstößt. Sie ist der Umweg um den Tod. Sie ist die Sehne im Kreis statt der Peripherie. Goethe hat das wohl gewußt, in der ›Proserpina‹, denke ich.

Haben Sie geglaubt, wenn ich abends hier sitze, Jeromin, bevor Sie kamen, und ich höre nur die Uhr in der Ecke gehen, daß ich nur an meine Klinik denke? Ich hätte gern einen Sohn gehabt, sehr gern. Aber dann habe ich mir gedacht, daß ich den Kranken entziehen müßte, was ich der Ehe gebe. Wir haben nur eine bestimmte Substanz, von der wir leben und austeilen können. Und jetzt denke ich manchmal, daß es vielleicht gut ist. Wenn er nun ein Spieler geworden wäre oder einer der Burschen mit Fackelzügen, ein ›Schamane‹, wie der Herr von Balk sagt, dann könnte es sein, daß meine Hand zittern würde bei einer Operation, wenn ich an ihn denke. Bei einem Kaiserschnitt zum Beispiel, und dann würde es vielleicht ein anderes Leben kosten. Vielleicht ist das Schicksal doch weiser, als wir denken, Jeromin ...«

Er goß den Rest der Flasche in die Gläser und blickte mit einer rührenden Befangenheit auf Jons. »Ich möchte mir gern etwas wünschen, Jeromin«, sagte er, »aber für einen alten Mann ist das vielleicht unschicklich ..., ich möchte Sie gern ›Jons‹ nennen dürfen ...«

Er blickte schnell zur Seite, und als Jons seine Hand ergriff, lächelte er nur. Ein stilles, dankbares und etwas trauriges Lächeln.

Jons ging durch die ersten Stationen der Prüfung wie »ein Boot vor dem Winde«. So nannte es Lawrenz. Er war ein bißchen müde und nach jeder Prüfung ein bißchen unruhig. Es kam ihm zu leicht vor, und sie waren das Leichte nicht gewohnt im Jeromin-Hause. Er hörte auch auf, vor jeder neuen Station bis zur Mitternacht über seinen Büchern zu sitzen, sondern er ging eine oder zwei Stunden langsam und ohne Ziel durch die abendlichen Straßen oder vor die Tore hinaus. Der Frühling kam zeitig in diesem Jahr, der Pflug ging schon über die Felder, und manchmal hörte er den Ruf der Wildgänse hoch über sich durch den dunklen Himmel gehen. Dann blieb er stehen und lauschte und sah das Dorf vor sich liegen, wo sie nun auf ihn warteten, und ein bißchen Angst erfüllte ihn, daß es nun beginnen sollte, das richtige Leben, an dem so viele Hände mitgebaut hatten, und daß er nun alle Hingabe zu rechtfertigen haben würde, die ihm zuteil geworden war. Lawrenz würde nun nicht mehr neben ihm stehen, die tröstenden Augen auf seine Hände gerichtet, und auch Schwester Monikas Gesicht würde zurückbleiben. Er würde allein sein, und wenn etwas mißlang, so würde er keinen Trost und keine Aufrichtung haben als in sich allein.

Er stand auf der stillen Straße vor den Toren, sah den hellen Schein über der Stadt und darüber die ersten matten Sterne. Er seufzte ein bißchen, aber dann fiel ihm ein, wie oft der Vater so aus seinen unzähligen einsamen Abenden hinaufgeblickt haben mochte, das Herz erfüllt mit der ruhigen Gewißheit des Gläubigen, und er mochte wohl an seinen Sohn Ehrenreich so fest geglaubt haben wie an Gott.

Dann ging er langsam wieder heim, in Jumbos stilles Zimmer, sah das Kinderpferd über den Büchern stehen, schlug noch eine Seite in dem Lehrbuch der Anatomie auf und schlief dann fest und traumlos, wie er als Kind vor einem Klassenaufsatz geschlafen hatte.

An einem dieser Abende aber kam er in Gedanken an der großen Konzerthalle der Stadt vorbei, sah viele Menschen, die eilig die breiten Treppen hinaufstiegen, und las auf einem großen Plakat einen Namen, dem er früher einmal begegnet sein mußte, der mit seinem Leben auf eine geheimnisvolle Art verknüpft war, ohne daß er im Augenblick die Verknüpfung erkennen konnte. Und erst als er die Namen der großen Tondichter auf dem Programm zu lesen begann, fiel ein plötzliches blendendes Licht auf eine dunkle und versunkene Szene, und er sah den großen, schwarzen Flügel, dessen Deckel sich wie die Schwinge eines großen Vogels erhob, sah ein Kind im Matrosenanzug vor der schimmernden Reihe der weißen und schwarzen Tasten und sich selbst aufstehen von seinem Sitz wie in der Kirche, bis eine alte Dame ihn freundlich und vorsichtig an seiner Jacke wieder zurückgezogen hatte.

Das Wunderkind war wieder da, dessen müde und traurige Augen ihn einmal gestreift hatten, und ein Hauch der damaligen Erschütterung ging ihm fröstelnd über das klopfende Herz.

Er ging schnell mit den anderen die Stufen hinauf, und er bekam noch einen Platz auf dem Podium, zu nahe dem Instrument, wie er fürchtete, aber unter dem geöffneten Deckel hindurch würde er das Gesicht des Spielenden sehen können. Nicht seine Hände, aber diesmal würde es vielleicht wichtiger sein, das Gesicht zu sehen statt der Hände.

Er sah sich um, und die vielen Gesichter und Farben betäubten ihn fast. Er erkannte, wie einsam er gelebt hatte, und ihre Wege mußten nun weit auseinandergegangen sein, der des Kindes, das jeden Abend in tausend oder zweitausend Augen blickte, und der seinige, der nur von einem stillen Krankenbett zum nächsten führte. Und es waren nicht viel mehr als zehn Jahre. Wahrscheinlich war das Kind nicht im Kriege gewesen, sondern hatte vor Verwundeten gespielt, in den großen Städten, durch die er selbst hungrig und frierend marschiert war. Wahrscheinlich war ihm nicht alles gestorben, was ihm lieb gewesen war, und sogar der alte Mann würde wohl noch da sein, der ihm damals die Hände auf die Schultern gelegt hatte.

Er sah sich um, ob er wohl in den ersten Reinen das Gesicht mit dem schlichten weißen Haar erblicken würde, aber dann läutete es, eine Tür tat sich auf, und nun war es doch ganz anders, als Jons es erwartet hatte. Nun war es kein Kind mehr im Matrosenanzug, das schüchtern die Augen in den strahlenden Raum wendete. Es war ein junger Mensch wie Jons selbst, ein Fremder, der aus dem Saal der Kindheit trat, ein Verwandelter, einer, über den die Zeit hinweggegangen war, wie sie über alles hinweggegangen war. Einiges hatte sie dazugetan, und einiges hatte sie fortgenommen, und dieses sah Jons zuerst. Daß der kindliche Zauber gefallen war oder doch das, was er in der Erinnerung davon bewahrt hatte. Daß es nicht mehr schien wie damals, als hätten Engelshände ihn sanft durch die Tür geschoben und warteten nun hinter der Tür auf ihn, wenn er aus dem Irdischen wieder zurückkehren würde. Es war nicht einmal dies, daß er nun einen Frack trug und daß er sich anders verbeugte als damals. Es war dies, daß die Zeit dahingegangen war, nichts als die Zeit, und auch ihn hatte sie als veränderlich und sterblich befunden.

Jons hatte die Hände zusammengelegt, und es war ihm, als fielen zwischen seinen Fingern die Jahre auf die Dielen unter seinen Füßen. Die langen, mühseligen und kostbaren Jahre, und als hätte es erst dieses Fremden bedurft, um es ihn erkennen zu lassen. Daß die Kindheit gestorben war, die ihn immer noch umschlossen gehalten hatte, Stunde für Stunde, Jahr für Jahr, fort von den Seinigen, vom Dorfe, vom Meiler, in einen Beruf hinein, in einen weißen Mantel, in eine andere Form. Daß nur der Name geblieben war, aber unter dem alten Namen ging nun ein anderer über die Erde, dem die Lampen im Saale anders schienen als damals, die Gesichter der Menschen, die Schwärze des Flügels, der Schlag der Stunden. Jons Ehrenreich, aber ein anderer, und wenn das Mädchen Margreta auferstünde aus den Tiefen der Erde, würde sie vielleicht über ihn hinwegsehen wie über einen Fremden oder über eine der Wachspuppen aus dem Laden in der stillen Straße.

Wieder fröstelte es ihn ein wenig, wie vor dem Plakat, und als der Fremde nun vor den Tasten saß und unter dem aufgeschlagenen Deckel hinweg seine Augen mit einem Schimmer des Wiedererkennens auf ihn richtete, blickte er zur Seite, bedrängt von allem Vergangenen, und wandte seinen Blick erst wieder zurück, als der erste Akkord in das Schweigen fiel.

Und nun war es doch, als ob der Zauber wiederkäme. Dasselbe Aussetzen des Herzschlags wie vor einem Wunder, dieselbe Kühle zwischen den Schultern, dasselbe Zittern, das leise über den ganzen Körper lief. Aber es war doch nicht dasselbe. Es war, als ob der Zauber nun allein in den Tönen liege, und der andere war nur ein gehorsamer Vermittler. Als könnte an seiner Stelle auch ein noch Fremderer sitzen oder ein Vertrauter wie etwa Stilling. Als sei nun da nur die Kunst und nicht der Künstler. Als sei der Mensch wieder in das Bescheidene zurückversetzt worden und der Lauf der Jahre habe auch dieses wieder still geordnet. Die Toten sprachen wieder, wie es ihnen zukam, und die Lebenden waren nur ein gehorsamer Mund der Toten. Die noch nicht Fertigen, noch nicht Verklärten, und ihnen war nur verliehen, ein Stück des Schleiers zu heben.

Jons hörte zu, so andächtig, wie er als Kind zugehört hatte. Und doch war auch hier etwas verändert worden. Auch diese Welt, die der Melodien und Rhythmen, hatte sich ganz leise gewandelt. Sie war nicht mehr etwas, das wie ein Widerhall der Seele war, eine Spiegelung. Sie war gleichsam selbständig geworden, weiter fortgerückt, und in der Ferne erschien sie nun wie eine zweite Welt, eine andere, mit eigenen Gesetzen. Es war, als wenn am Nebentisch jemand operierte. Es war die gleiche Operation, mit den gleichen Handgriffen und Bewegungen, aber ein anderer führte sie aus, und ein anderer lag unter der Maske und ließ es über sich ergehen. Die Einheit war verlorengegangen, das kindlich Naive des Empfangens. Die Welt hatte sich zerlegt, und dies war eines der Medien, durch das man sie sehen konnte. Es gab noch andere Medien, und dann sah sie anders aus. Es war einer der Versuche des Menschengeistes, ein schöner Versuch, ein bezaubernder Versuch, aber es war nicht der einzige.

Jons erschrak ein bißchen, als er so grübelte. Es war ihm, als wäre er alt geworden über Nacht, und die Kindheit oder Jugend sei nun versunken. Er »spekulierte«, und somit war auch er dem Gefährlichen des Geistes anheimgefallen. Und während er in der Spiegelung des Deckels die Hände des Spielenden hin und her gleiten sah, erblickte er ungewollt die schmalen Hände des Doktors, wie sie ein Messer nahmen und mit einem behutsamen Schnitt die Haut über einer Zelle des Todes öffneten. Da war das andere Medium, der andere Versuch des Heilens und Rettens. Niemand sah zu als die stillen Gesichter zweier oder dreier Schwestern unter den großen weißen Hauben. Nichts war zu hören als der Atem der Bewußtlosen und hin und wieder ein Wassertropfen, der in das Becken mit den Instrumenten fiel. Aber auch dort geschah ein Wunder, eine Verzauberung, ohne Beifall, ohne Glanz, und wenn Lawrenz die Maske abnahm, war sein Gesicht anders als das des Spielenden, ein erschöpftes, ausgeleertes Gesicht, und es verbeugte sich nicht, sondern sah nur mit stillen Augen auf die regungslose Gestalt der Schlafenden.

Nein, ich bin nicht auf dem falschen Wege, dachte Jons und atmete tief auf. Damals dachte ich, dies allein sei das Leben oder Gott oder die Tröstung. Aber heute kann ich das nicht mehr denken. An zu vielen Betten habe ich gesessen, zu viele arme Hände habe ich in den meinigen gehalten. Das andere ist wohl ein Glanz und ein Leuchten, und ich bin nur die Flamme einer kleinen Kerze, aber ich will es zufrieden sein, daß ich es erkannt habe.

Er sah nun in das Gesicht des Spielenden, wie bei einem schwerelosen Motiv aus einer Mozart-Sonate ein Lächeln um seine Lippen glitt, und es war ihm wie ein Eingriff in die Welt des Toten. Es war ungerecht so zu denken, aber er konnte sich nicht lösen von diesem Gefühl. Der Tote mochte gelächelt haben, als er es niederschrieb oder zum ersten Male in seinem Ohr vernahm. Er hatte ein Recht dazu, das Recht des Schöpfers und des Meisters. Aber die Dienenden hatten kein Recht dazu. Sie hatten nur gehorsam zu sein, und Lawrenz lächelte nicht, wenn er das Messer beiseite legte. »Er ruhte in Gott« und wußte, daß er sich »vergangen« hatte, wie er es nannte. Auch bei einer geglückten Operation hatte er sich vergangen, weil er heimlich in ein Heiligtum eingedrungen war. Ja, und er würde nun »Jons« zu ihm sagen, und das war schöner als jedes »Summa cum laude«, das man erwerben konnte.

Als der Spielende aufstand und sich verneigte, war es nicht zu verkennen, daß seine Augen wieder über Jons hingingen, aber immer noch unsicher, als suchten sie in der Erinnerung, und halb wider seinen Willen ließ Jons sich von einer Schar bewundernder Menschen in das Künstlerzimmer drängen, wo er an der Tür stehenblieb, als sei er an einen falschen Platz gekommen. Er hörte Bruchstücke von Gesprächen, und sie schienen ihm nichts von dem zu sagen, was hier hätte gesagt werden sollen. Er sah, daß der Fremde Namen auf Blätter schrieb, die man ihm reichte, und auch dies war ihm seltsam und wie einer anderen Welt zugehörig. In der kleinen Klinik schrieb man nur Namen unter kleine Rezepte und manchmal unter einen Totenschein.

Er wollte wieder gehen, aber da kam der junge Professor auf ihn zu, lächelnd, und fragte ihn, ob sie einander schon einmal begegnet seien. Er könne es nicht mehr zusammenbringen, aber in irgendeiner Kammer seines Gedächtnisses habe er dieses Gesicht bewahrt.

Jons sah in ein freundliches, ermüdetes Gesicht, auf dessen Stirn noch kleine Schweißperlen standen, und er sah auch, daß der weiße Kragen zerknittert war. Eine warme Zugehörigkeit erfüllte plötzlich sein Herz, als hätte er nun die Mühsal auch dieses leuchtenden Lebens erkannt.

»Ich stand vor vielen Jahren hier«, sagte er, »als auch Sie noch ein Kind waren, und Ihr Vater hielt mich an den Schultern, daß die Leute mich nicht zerdrückten.«

»Jetzt weiß ich es«, sagte der Professor. »Sie hatten so traurige Augen, und das fiel mir auf ... ja, lang ist's her ..., und was sind Sie nun?«

Er sei Arzt und sei im Examen, erwiderte Jons.

Soso ... Arzt ... ja ... das sei ein schöner Beruf, und wahrscheinlich werde er bald ein berühmter Spezialist werden? Er habe ganz die Augen dazu ...

Nein, er werde ein kleiner Armenarzt in seinem kleinen Heimatdorf werden, sagte Jons.

Ein Armenarzt, wiederholte der Professor erstaunt und fast ein bißchen verlegen, und er folgte Jons' Augen, die unabsichtlich über die Schar der Bewunderer in ihren reichen Abendkleidern glitten. »Das ist schön«, sagte er dann. »Vielleicht brauchen die Armen uns mehr als diese ...«

Und dann reichte er Jons schnell die Hand und schrieb seinen Namen wieder auf eines der Blätter, die man ihm hinhielt.

Erst auf der Straße blieb Jons noch einmal stehen, drückte den Tabak in der kleinen Holzpfeife fest, und bevor er das Streichholz entzündete, dachte er nach, weshalb der Professor wohl »uns« gesagt habe.

Fräulein Holstein öffnete ihm selbst die Tür, bevor er noch den Schlüssel umgedreht hatte. »Sie möchten noch einmal in die Klinik gehen, Herr Jons«, sagte sie bekümmert. »Der Doktor war hier. Es soll noch operiert werden. Und sicher sind Sie so müde.«

Jons dachte einen Augenblick nach, was es sein könnte, und wendete sich dann zum Gehen. »Nein, ich bin nicht müde«, sagte er. »Ich war im Konzert. Ich habe das Wunderkind wieder gehört.«

Fräulein Holstein zuckte nur die schmalen Schultern. »Was für ein Wunderkind?« sagte sie nachsichtig. »Sie sind das einzige Wunderkind auf dieser Welt, Herr Jons.«

Er war schon auf den ersten Stufen und drehte sich noch einmal um. »Als ich das erstemal hier stand, Fräulein Holstein«, sagte er lächelnd, »hatten Sie eine andere Meinung von mir. Wissen Sie noch? Ich war kein Wunderkind, aber ich bin ganz zufrieden, daß ich jetzt noch operieren soll. Das richtige Wunderkind wird jetzt wohl mit Rosen bekränzt ...«

Er ging langsam durch die stillen Straßen. Es kam ab und zu vor, daß Lawrenz am späten Abend operierte. Seine Hand sei am Tage nicht sicher gewesen, sagte er dann. Aber Jons sah, daß er Schmerzen gehabt hatte, und er sah an Schwester Monikas Gesicht, daß sie dasselbe dachte. Jedesmal nahm er sich vor, mit Lawrenz zu sprechen, ernsthaft und ohne Verhüllung, und jedesmal wich er vor den stillen Augen des Arztes zurück.

Er blieb auf der Brücke stehen, klopfte die Holzpfeife an dem Eisengeländer aus und blickte in Gedanken auf die roten und grünen Lichter, die über dem Strom standen. Ein halbes Jahr noch oder ein Jahr, und auch dieses würde hinter ihm liegen. Dort, wo er hinging, brannten keine bunten Lichter in der Nacht. Die Sterne schienen, und nur selten war ein kleines Fenster hell, wo eine der Kätnerfrauen bei ihrem kranken Kinde saß. Und auch er würde dort sitzen, eine kleine Hand in der seinen, und den Pulsschlag fühlen, der das Leben anzeigte. Er atmete tief die warme Luft ein, die über dem Wasser stand, und die so schmeckte wie die Luft am Seeufer. Alles war gut, dachte er, wie der Vater es gewollt hatte. Alles war gut, was man mit einem warmen Herzen erfüllte, und er wollte es erfüllen: das Haus unter dem alten Ahorn, das kleine Dorf und die dreißig mageren Morgen ...

Lawrenz saß in seinem kleinen Sprechzimmer vor dem Schreibtisch, rauchte und trank eine Tasse Kaffee. Unter der gelblichen Haut war das Gesicht grau und todmüde.

»Es tut mir leid, Jons«, sagte er mit mühsamem Lächeln, »aber sie haben uns eine Frau gebracht, im neunten Monat, und es geht nicht anders. Sie will das Kind haben, und Sie wissen, daß das ein Befehl für mich ist.«

»Was geht nicht anders?« fragte Jons unruhig.

»Sectio caesarea«, sagte Lawrenz leise. »Der Kaiserschnitt ... das Becken mißt nicht mehr als sechs Zentimeter. Das Kind lebt und ist wahrscheinlich gesund. Wenn Sie es nicht tun, gibt es keine Hoffnung, für beide nicht.«

Er goß aus einer kleinen Flasche eine helle Flüssigkeit in seine Kaffeetasse und rührte mit einem Teelöffel die Mischung langsam um.

Jons war blaß geworden. »Aber Sie selbst, Herr Doktor«, sagte er. »Ich habe es noch niemals gemacht, und ...«

Lawrenz hob die Hand mit dem kleinen Löffel. »Sehen Sie her, Jons«, sagte er leise. Die Hand zitterte wie im Fieber. »Ich habe einen schlechten Tag heute, Jons. Und ›niemals‹, Jons, ›niemals‹ ist für den richtigen Arzt nur eine Sprosse an einer langen Leiter ... Lesen Sie dies noch einmal über ..., ich werde dabei sein und Ihnen helfen ... helfen kann ich immer noch.«

Er schob Jons das Handbuch der Operationen hin, und Jons überflog die Seiten und Abbildungen und schloß das Buch. Das Gehirn wußte alles, aber die Hand wußte es nicht. Er sah sich in dem kleinen Raum um, in dem so viele Urteile gesprochen worden waren, gnädige und unerbittliche, und zuletzt blickte er auf Lawrenz, der gebeugt in seinem Stuhl saß, die schweren Augen auf die kleine Uhr gerichtet, die hinter dem Schreibzeug stand.

»In Gottes Namen«, sagte er leise, und er wußte nicht, wie es ihm über die Lippen gekommen war.

Lawrenz nickte und hob die rechte Hand, als wollte er sie jemandem reichen, der neben ihm stand. »Rufen Sie die Schwester«, sagte er.

Lawrenz brauchte nicht zu helfen. Es war genug, daß er da war, die Hände in den Handschuhen auf den Operationstisch gestützt, damit sie nicht zitterten, und die Augen auf das Messer gerichtet, das Jons führte, und auf die Klammern, die das durchschnittene Bauchfell zur Seite zogen. »Jetzt ganz langsam, Jons«, sagte er leise, als der matte Stahl den Uterus berührte. »Es könnte sein, daß Jakob uns zusieht ...«

Einen Augenblick lang schien es, als zittere die Spitze des Messers, aber dann glitt sie ruhig und ohne Zögern ihren vorgeschriebenen Weg hinunter.

Als Lawrenz das Kind in den Händen hielt und Jons und die Schwester sich schweratmend aufrichteten, war es ihnen beiden, als könnten sie das Leuchten des müden Gesichtes hinter der Maske sehen. »Etwas Großes, Jons«, sagte der Doktor, »etwas Großes ...« Und sie wußten beide, was er meinte.

Sie sprachen beide kein Wort, als sie durch die leeren Straßen heimgingen. Erst vor dem Hause des Arztes sagte Jons: »Es wird sich nun erst entscheiden ... dies war das Geringste ...«

»Nichts ist gering«, erwiderte Lawrenz. »Und was nachkommt, müssen wir nun sehen.«

Jons zögerte, als der Arzt die Haustür vor ihm öffnete, aber dann ging er doch mit ihm die Stufen hinauf. »Nur ein Weilchen«, sagte er. »Ich denke, daß ich sehr müde bin.«

Er mußte in der Sofaecke sitzen, und Lawrenz setzte die Kaffeemaschine auf. »Ich weiß, daß Sie unzufrieden sind mit mir, Jons«, sagte er, »aber heute müssen Sie darüber hinwegsehen. Heute haben Sie Ihr Staatsexamen bestanden, und das wußten Sie wohl nicht?«

Jons schüttelte den Kopf. »Ich habe noch drei Stationen«, erwiderte er.

Lawrenz machte nur eine verächtliche Bewegung mit der Hand und schüttete dann den Kaffee vorsichtig in den Trichter. »Wissen Sie, was Sie getan haben?« fragte er und blieb vor Jons stehen. »Sie haben mit ihm gerungen wie Jakob, und er hat Ihnen nicht die Hüfte verrenkt! Das haben Sie getan! Nicht daß Sie operiert haben, sondern daß Sie bereit waren dazu. Daß Sie ein Leben erweckt haben, Jons, und Sie wissen nicht, was Gott vorhat mit diesem Leben. Ob es nicht ganz dicht an seinem Herzen gelegen hat.«

»Es könnte auch am Herzen des Bösen gelegen haben«, erwiderte Jons müde. »Wissen wir, was wir erwecken?«

»Auch das Böse liegt in der Ordnung beschlossen«, sagte Lawrenz, als lausche er auf das Kochen des Wassers. »Wo wären unsere Tage, wenn es keine Nacht gäbe? Diese zum Beispiel, in der Sie es bestanden haben?«

Er stützte sich auf den runden Tisch und blickte zu dem Bilde seiner Mutter auf. »Das erstemal, Jons«, sagte er leise, »als ich es tat, mißglückte es mir. Deshalb sagte ich ›jetzt ganz langsam‹. Ich war nicht langsam genug, und das Messer verletzte den Fötus. Es lag nicht allein an mir, aber es lag doch an mir. Später ist es mir nicht mehr mißglückt, aber heute hatte ich Angst, Jons. Und deshalb haben Sie etwas Großes getan, auch an mir. Auch an einem alten jüdischen Arzt kann man etwas Großes tun.«

Er goß den Kaffee in die dünnen Tassen und mischte den seinen wieder mit der hellen Flüssigkeit. »Übersehen Sie es, Jons«, bat er. »Keine Liebe ist größer als die, in der man seine Schwächen zeigen darf.«

Jons war nun wieder ganz wach. Er fühlte, daß ein großer Tag für ihn zu Ende ging, und er erzählte von dem Wunderkind. »Dort ist es mir aufgegangen, Herr Doktor«, sagte er, »daß ich vielleicht berufen bin. Ich fühlte mich arm, aber ich fühlte mich nicht geringer.«

Lawrenz nickte. »Alle reproduktive Kunst, Jons, ist gefährlich. Sie ist imitativ mit dem Anspruch auf Originalität erster Hand. Aber sie ist nur eine Originalität aus zweiter Hand. Sie ist keine Schöpfung, sondern Nachschöpfung. Ein Vers, der geschrieben wird, ist keine Nachahmung. Es gibt nichts, was er nachahmen könnte. Im ganzen Kosmos ist nichts da, was mit Versen nachzuahmen wäre.

Ist Ihnen aufgefallen, daß meine Rasse reich ist an Reproduzierenden? Schauspieler und Musiker besonders? Eine erschöpfte Rasse, die sich aus anderen Schöpfungen nährt. Und daher werden Sie die größte Eitelkeit bei Reproduzierenden finden. Aus dem Gefühl der Nachgeborenen heraus. Das Bestreben nach ›Auffassung‹, um einen Schein des Erstgeborenen zu erwerben. Arme Schächer, indessen die Großen am Kreuze hängen.«

»Aber weshalb sagte er ›uns‹, Herr Doktor? ›Vielleicht brauchen die Armen uns mehr als diese‹, sagte er.«

»Im Augenblick glauben sie es, Jons. Aber nur im Augenblick. Sagen Sie ihnen, daß sie nur für die Armen spielen sollen, wie Franziskus für sie gelebt hat, so werden sie Sie ansehen, wie man einen Narren ansieht. Daß der Geist zu kaufen ist, das ist es, Jons. Und auch die Kunst. Die Kunst am leichtesten. Sehen Sie, Ihr Professor würde dreitausend Mark nehmen für den Kaiserschnitt. Ich nehme dreißig Mark. Aber ich muß sie nehmen, weil ich sonst die Klinik schließen müßte. Und doch brennen sie mir in der Hand, Jons. Ja, wie Feuer brennen sie. Aber wer von uns ist Gott, daß er eine neue Welt schaffen könnte? Eine Welt, in der es kein Geld gibt? Und doch muß es sie einmal gegeben haben ...«

»Ich denke«, sagte Jons, »daß auch das leichter sein wird in Sowirog. Ich werde nicht viel brauchen, und jedes Jahr, wenn Sie mich wiedersehen, werde ich Ihnen primitiver vorkommen.«

Lawrenz lächelte. »Sie werden in der Liebe leben, Jons, und in der Liebe gibt es nichts Primitives, weil sie selbst das Ursprüngliche ist. Auch ist es ein Irrtum von Ihnen, zu glauben, daß Sie nichts brauchen werden. Man geht nicht umsonst durch das Leben des Geistes. Sie werden kein Kino brauchen, aber vielleicht werden Sie schon ein Radio brauchen. Und sicherlich werden Sie ein oder zwei Zeitschriften brauchen, und ich denke mir, daß Sie einen Schuppen haben werden wie Christean, und dort werden Sie ein kleines Laboratorium haben, denn Sie sind nämlich nicht einer von denen, die im Einstöckigen leben, verstehen Sie? Die Leute, für die das Studium eine Treppe ist, aber sie führt nur bis in den ersten Stock, wo es die Staatsexamina gibt, und dann ist es zu Ende. Darüber steht das Dach des Staates, und mehr brauchen sie nicht. Mehr wollten sie auch nicht. Aber Sie sind ein mehrstöckiger Mensch, Jons. Bei Ihnen ist es im ersten Stock nicht zu Ende, nur Gott mag wissen, wie viele Treppen Sie noch zu gehen haben.«

Seine Hände zitterten nicht mehr, und Jons würde gern gewußt haben, ob sie wirklich gezittert hatten, oder ob diese sectio caesarea nicht nur in seinem Erziehungsplan gelegen hatte. Man wußte bei ihm nie genau, wann er seine Hand ausstreckte, um leise zu führen.

Aber Jons war zu müde, um es durchzudenken. Es war so viel geschehen heute, was in die Vergangenheit und in die Zukunft reichte. »Bestanden!« hatte Lawrenz gesagt. »Sie haben es bestanden ...« Aber was hatte er denn bestanden? Es hätte auch mißglücken können, beides. Das mit dem Wunderkind und das mit dem Kaiserschnitt. Und dieses letzte war noch nicht bestanden. Morgen schon könnte es eine Peritonitis geben, und wahrscheinlich würde sie tödlich sein.

Sein Kopf sank an die Lehne zurück, und die Augen fielen ihm zu. Der bunte Vogel auf dem Bilde ging als letztes in sein Bewußtsein ein und verflocht sich mit dem seligen Motiv aus der Mozart-Sonate, bei dem das Wunderkind gelächelt hatte. ›Nichts da zu lächeln‹, dachte Jons mit gefalteter Stirn. ›Auch wir lächeln nicht, wenn wir die Hände rühren ... alle sind wir von gestern her und wissen nichts ... wie ein Schatten über der Erde ...‹

Lawrenz wartete, bis er eingeschlafen war, legte ihn dann behutsam zurecht und breitete eine alte, abgeschabte Pelzdecke über ihn. Dann stand er lange und blickte in das junge, müde Gesicht nieder, in dem die Stirn noch immer gefaltet war.

Erst als die Pendüle mit ihrem leisen, zitternden Schlag die Stille unterbrach, schaltete er vorsichtig das Licht der Stehlampe aus und ging in seine kleine Schlafkammer.


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