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XII

Von diesem Sommer wurde noch lange gesprochen in Sowirog. Auch später, als die dunklen Jahre gekommen waren, erinnerten die Menschen einander an die Zeit, als Jons die Edelfrau und den Hirten Piontek gerettet hatte, und sie erschien ihnen als die Zeit, in der Gottes Antlitz sichtbar über ihnen geleuchtet hatte. Sie waren noch so, daß ein besonderes Menschenwerk ihnen ohne Gottes tätigen Anteil nicht möglich schien.

Draußen, weit hinter den Dörfern, ging es schlechter und schlechter mit der neuen Republik. Sie war wie ein abgetriebenes Pferd, das immer wieder einen Anlauf nahm und dann zitternd stehenblieb, um Atem zu schöpfen. Sie hatten keinen Arbeitslosen in Sowirog, denn die Wälder wuchsen in der Republik, wie sie im Kaiserreich gewachsen waren. Und dasselbe taten die Fische, die Kartoffeln und der Roggen. Aber von den Städten hörten sie ab und zu, und was sie hörten, verstanden sie nicht, und sie schüttelten den Kopf darüber.

In Sowirog aber hatten sie ihr armes Leben, wie sie es immer gehabt hatten. Aber dazu hatten sie nun einen jungen Mann, der furchtlos mit dem Tode rang und der ihn oft genug zu Boden warf, so daß er sich hinkend und beschämt davonmachte. Und der zweitgrößte fast war nun Piontek. Der in der Teufelskammer gestanden und dem Jons den Leib aufgeschnitten hatte, und dessen Puls der Herr von Balk so lange gehalten hatte, daß inzwischen das Wasser in einem Kessel hätte kochen können.

»Du zählst, Bruder«, sagte Piontek, auf seine Ringschleuder gestützt, »wie du in der Schule gezählt hast ... eins ... zwei ... drei ... und so weiter. Es riecht süß in deiner Nase, wie der Faulbaum riecht, aber noch ganz anders. Und plötzlich bekommst du keine Luft und fährst in ein Loch wie in einen schwarzen Brunnen. Du wehrst dich und du willst ihm an die Kehle, aber sie haben dich festgebunden, die Schlauen, und ehe du schreien kannst, hat es dich, als ob sie dir mit der Axt auf den Kopf schlagen.«

Er richtete seine hellen Augen durchdringend auf den Zuhörer, und er genoß mit Behagen den Schauer, der diesem sichtbar über den Körper lief.

»Das andere, Bruder«, fuhr er nachdenklich fort, »das kannst du ja nicht sehen. Das erzählen sie dir so langsam, wenn alles vorbei ist. Und am komischsten ist ja, daß das Mädchen dabei ist, die ganze Zeit. Sie zieht deinen Bauch auseinander wie eine Harmonika, mit zwei Zangen, damit er besser darin herumschneiden kann. Und wenn er ihn draußen hat, den Teufel, der die Schmerzen macht, dann nähen sie alles wieder zu, wie du ein Loch in deinem Rock zunähst, und nach einer Weile stehst du auf und kannst über den Zaun springen wie mit siebzehn ...«

Er sah mit grübelnden Augen durch den andern hindurch, als sähe er noch ganz andere Dinge, die er diesem verschwiegen hatte, um ihn nicht an der göttlichen Ordnung irrezumachen.

Der Zuhörer seufzte auf, und nach einer Weile sagte er vielleicht: »Aber wenn sie nun etwas vergessen in dir, eine Zange oder eine Säge, und zunähen: was dann?«

Piontek nahm verächtlich eine Prise von seinem Daumennagel und erwiderte mit Würde: »Vergessen? Ein Doktor wie Jons vergißt nichts! Er heißt nicht Lustig, Bruder, sondern Jeromin!«

Und nach einer Weile, als er sich schon wieder seiner Herde zuwendet, dreht er sich noch einmal um und sagt: »Außerdem würde es klappern, wenn du über einen Zaun steigst. Und es klappert nicht.«

Aber als Jons das nächste Mal mit seinem Wagen bei ihm anhält, fragt er doch nach einigen Umwegen, wie es nun wohl wäre, wenn so ein anderer Doktor etwas in dem aufgeschnittenen Bauch vergäße, eine Zange zum Beispiel oder einen Meißel?

»Es soll mal vorkommen, Piontek«, erwiderte Jons lächelnd. »Wenn sie es sehr eilig haben. Aber dann machen sie eben noch einmal auf und nehmen es heraus. Hast du Sorgen?«

Nein, nein, die hatte Piontek nicht. »Aber daß ihr so auf- und zumachen könnt wie eine Schachtel aus Birkenrinde, das ist schon eine komische Sache ...«

Und er sah lange der weißen Staubwolke nach, die über der Straße aufstand und träge und langsam über das Moor zog.

Der Gogunsohn wohnte nun auf der Insel und war der Nachfolger des Großvaters Michael. Am Morgen und am Abend kam er zu Jons herüber, um das Pferd zu besorgen, und dann stand er gern ein Weilchen am offenen Fenster, blickte in den geheimnisvollen Raum, der ihm königlich erscheinen mochte, und fragte ein bißchen nach den vielen Krankheiten, die der Doktor heilen konnte.

»Möchtest du nicht hier wohnen, Johannes?« fragte Jons. »Im Schuppen ist eine große Kammer, und im Winter wollen wir einen Ofen hineinsetzen.«

Aber er schüttelte den Kopf. »In einer Kammer kann ich nicht Atem holen«, erwiderte er. »Ich brauche das.« Und er machte eine unbestimmte Handbewegung über den See hin. »Und hier können sie auch zu schnell über einen kommen«, setzte er nach einer Weile hinzu.

»Wer?«

Aber er zuckte nur die Schultern, bedankte sich dann und ging langsam zu seinem Boot.

Am wenigsten sah Jons von dem kleinen Micha, und er wußte auch am wenigsten von ihm. Er lebte nun fast ganz beim Schulzen, und es war nun sicher, daß er den Hof übernehmen sollte. Wenn Jons über Land fuhr, sah er ihn manchmal in der Ferne, wie er Garben auflud oder ein Stück Brachland pflügte oder mit einem Wagen Brennholz aus dem Walde kam. Eine schmale, stille Gestalt mit lautlosen Bewegungen, ernst und schweigsam wie ein Erwachsener. Und selbst wenn er die Hand hob, um Jons zuzuwinken, sah es aus, als grüße ein alter Mann seinesgleichen.

Er war selten im Doktorhaus, und wenn Jons ihn fragte, ob er nicht Lust habe, sein Gehilfe zu werden, schüttelte er den Kopf, sah Jons mit seinen ernsten Augen an und sagte, daß er lieber pflügen wolle. Die Kranken müßten ja auch Brot haben, um wieder zu Kräften zu kommen.

Er sprach mit Erdmuthe über ihn, aber auch sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von ihm«, sagte sie. »Ich denke nur, daß er wie Michael ist, und auch von ihm wußte man nichts.«

Barbara war nun ein großes, schönes Mädchen geworden, und sie saß jeden Tag zwei Stunden bei Stilling, »um klug zu werden«, wie sie lächelnd sagte. Aber die meisten Stunden war sie im Doktorhaus und half Hanna während der Sprechstunden. Sie hatte eine weiche, ruhige Hand, und für sie gab es keinen Zweifel, daß sie Schwester werden wollte. »Wir wollen sehen, kleines Mädchen«, sagte Jons. »Nicht alle Schwestern haben es so wie du hier, und du hast noch keine Oberin in deinem Leben gesehen.«

»Sind sie böse?« fragte Barbara.

»Sie sind streng und von Würde erfüllt, und sie regieren gerne. Und wenn Frauen ihresgleichen regieren, gibt es meistens das, was man eine Diktatur nennt.«

»Und was ist eine Diktatur? Mauern sie denn diejenigen ein, die ungehorsam sind?«

»So ungefähr. Sie mauern ihnen den Mund zu, und das ist fast dasselbe.«

Sie sah eine Weile gedankenvoll vor sich hin, und dann schüttelte sie den Kopf. »Mich wird niemand einmauern, Jons«, sagte sie. »Dazu bin ich zu hübsch.«

Jons zwinkerte mit den Augen. »Gerade die Hübschesten suchen sie sich aus, Barbara. Weil sie nämlich die Gefährlichsten sind. Außerdem wirst du heiraten, und Frau sein ist besser als Schwester sein.«

»Wer weiß ...«, sagte sie überlegen. »Und außerdem bist du ein Hagestolz und weißt nichts davon.«

»Das ist nun sicher wieder von Stilling«, meinte Jons lächelnd. »Von uns sagt niemand ›Hagestolz‹.«

Er sprach mit Maria über das Kind, aber auch sie schüttelte den Kopf. »Wir sind alle zu hart gezogen worden, Jons«, sagte sie. »Und deshalb tun wir nun gern das Gegenteil. Ich halte nicht mehr viel vom Erziehen. Sie soll uns ansehen, und damit ist es genug.«

In diesem Sommer wohnte Fräulein Holstein in einer der Kammern des Jeromin-Hauses, und für sie mochte es wohl ein Paradies sein. Johannes hatte sie von der Bahn geholt und am Abend zu Jons gesagt, daß es die merkwürdigste Fahrt seines Lebens gewesen sei. Soviel habe nicht einmal Stilling von ihm wissen wollen in allen Schuljahren, und so komische Dinge schon gar nicht. Auf den Tafeln in den jungen Schonungen stehe ja noch überall das alte Wort »Zakas«, und das heiße ja »Verboten«, was jedes Kind hier wisse. Aber sie habe gefragt, ob die Försterei Zakas so groß sei, daß man zwei Stunden durch sie fahre.

Und nach einer Weile sagte er gedankenvoll, er glaube, daß sie in Wirklichkeit noch länger sei und daß sie am Abend, wenn niemand zusehe, auf eine Feder drücke und daß dann der verborgene Teil sich ausdehne und sie bis an die Decke reiche. »Wahrscheinlich muß sie auf dem Fußboden schlafen«, setzte er hinzu.

Fräulein Holstein besaß nur zwei schwarze Kleider, und sie reichten bis fast zur Erde. Aber sie trug einen »Pompadour« aus bunten Perlen und einen Sonnenschirm in leuchtendem Scharlachrot. Es war kein Wunder, daß die Frauen von Sowirog den Mund offenhielten und daß die Kinder ihr schweigend die Straße entlang folgten, so als ob Maschlanka etwa auf Stelzen durch das Dorf gegangen wäre. Und die Kühnsten zupften ab und zu vorsichtig an ihrem Rock, um zu sehen, ob er über einem Drahtgestell oder über Fleisch und Blut hänge.

»Kleine Kinder müssen immer wohlerzogen und gesittet sein«, sagte Fräulein Holstein und drehte sich um, aber das war nun wieder eine Fremdsprache, und sie wurde in Sowirog nicht gelehrt.

Es war also begreiflich, daß sie fortan die Dorfstraße mied und den Waldsteig zur Meilerhütte einschlug, und wenn sie dort schwarz, lang und feierlich unter den hohen Fichten einherschritt, traf sie höchstens ein Holzfuhrwerk, und der Mann zog die Leine an und sah ihr nach, bis sie hinter den Wacholdern verschwunden war. Nur der rote Schirm leuchtete noch eine Weile zwischen den Stämmen, und es war natürlich, daß sie im ganzen Dorf bald »Der Schwarzspecht« hieß.

»Und sie hat für dich gekocht, Jons?« fragte Piontek. »Ich kann mir nicht denken, daß es einen so hohen Herd gibt. Wahrscheinlich hat sie auf dem Schornstein gekocht, währenddes du in der Schule warst.«

Aber es war kein Zweifel, daß sie glücklich war, und wenn sie mitunter am Abend bei Jons saß, sagte sie es auch in ihrer unbeholfenen Weise. »Ich denke, Herr Jons«, sagte sie, »daß es hier sogar andere Sterne gibt. Sterne für die Armen sozusagen. So erscheint es mir wenigstens. Und ich denke auch, wenn mein Vater das Gut nicht verkauft hätte, dann würde ich vielleicht nicht so groß geworden sein. Vielleicht kommt es daher, daß ich in der Stadt immer versucht habe, über die Häuser zu sehen, und die Häuser waren zu hoch. Wie die Giraffen es tun, Herr Jons.«

»Es kommt von anderen Dingen her, Fräulein Holstein«, sagte er. »Von bestimmten Drüsen und sogenannten Hormonen.«

»Nun ja, Sie müssen es besser wissen, Herr Jons. Aber hier, wo die Bäume so hoch sind, merke ich es gar nicht so. Nur die Kinder sind überall dieselben. Auch sie würden eine ›Bande‹ sein, wenn sie zu mir kämen.«

»Sie meinen es nicht so, Fräulein Holstein. Es ist nur das Ungewohnte.«

»Es schadet auch nichts«, sagte sie. »Ich kann ja in den Wald gehen. Aber Sie müssen wissen, Herr Jons, daß dies wie ein Märchen für mich ist. Ich habe wenig Märchen gehabt in meinem Leben.«

Nur auf Hanna blickte sie mit einem tiefen, ängstlichen Mißtrauen. Und erst als drei Wochen vorübergegangen waren, fragte sie einmal ganz behutsam: »Sie ist doch diejenige, Herr Jons, mit der damals das Schreckliche war?«

»Was für Schreckliches?« fragte Jons sanft.

Sie errötete und suchte etwas in ihrem perlengestickten Pompadour. »Das Unmoralische, meine ich, Herr Jons. Auch der Konsistorialrat, der Sie einsegnete, hat es ja wohl so genannt ...«

»Er hat vieles mit großen Worten benannt, Fräulein Holstein. Außer vielleicht seine eigenen Balken. Aber erscheint sie Ihnen nun ›unmoralisch‹, wenn Sie sie so ansehen?«

»Nein, das eigentlich nicht. Wie ja hier überhaupt alles anders ist, Herr Jons. Vielleicht weil es so hinter der Welt liegt ...«

»Ja, wir haben es ziemlich weit fortgeschoben, Fräulein Holstein, damit wir ungestörter an unserem ›Fortschritt‹ arbeiten können. Aber es ist immer noch da, und ich denke, daß es auch noch eine Weile dableiben wird.«

»Möchte Gott es geben!« sagte sie leise.

Und dann, als sie abgefahren war, ihr weißes Tuch vor den Augen, kam Lawrenz. Ein stiller Gast, der im Jeromin-Hause wohnte, mit Jons ein bißchen über Land fuhr und abends bei ihm saß. Er hatte eine große Kiste Portwein und viele kleine Kisten mit schwarzen Zigarren mitgebracht. Er war dabei geblieben, viele Stunden des Tages so vor sich hin zu wandern, am Moor oder auf den Ackerrainen zu sitzen und in jeder Kate einzukehren, die auf seinem Wege lag.

Und einmal am Abend sagte er so nebenbei, daß sie sich nun doch einmal den Mann Korsanke ansehen müßten. Er habe wenig Hoffnung, aber er denke doch, daß Korsanke darauf warte.

»Ich fürchte mich, Doktor«, sagte Jons leise. »Und ich habe es immer hinausgeschoben.«

»Das soll man nicht, Jons. Und man weiß ja auch nie, ob es nicht ein Wunder gibt.«

Korsanke war sofort einverstanden, und es schien wirklich, als habe er darauf gewartet. »Du weißt ja, Jons«, sagte er, »daß es mit dir etwas anderes ist. Und vor dir kann ich auch ruhig meine Uniform ausziehen.«

Sie saßen einen ganzen Abend über den Röntgenaufnahmen, und endlich sagte Lawrenz, daß sie es doch wohl versuchen müßten. »Ein paar Jahre können wir doch vielleicht gewinnen, Jons, und er ist doch eben einer von deinen Menschen.«

Ja, das war er wohl.

»Wir wollen es Geschwüre nennen, Jons. Das klingt nicht so schlimm, und davon hat er auch schon gehört. Soll ich mit ihm sprechen? Ich denke, daß er etwas Zutrauen zu mir hat.«

Korsanke war still und tapfer, und bevor sie ihm die Chloroformmaske auflegten, sah er Jons mit seinen müden, tiefliegenden Augen an und sagte lächelnd: »Ein komisches Leben, Jons ... damals als ich Daida am Steighügel hatte und wir den Pfarrer trafen und nachher deine Sache mit der Majestätsbeleidigung war, wer von uns hätte damals gedacht, daß ich hier einmal so liegen würde und du mit dem Messer über mir?«

»Wir wollen es so gut wie möglich machen, Korsanke«, sagte Jons. »Was soll aus unserm Dorf werden, wenn du nicht im Sattel sitzen könntest?«

Aber er mußte doch ein bißchen lauschen, als Korsanke in der Narkose vom »Humpelbein« redete. »Es ist die ›neue Zeit‹, die ihm nachgeht«, sagte er zu Lawrenz.

Die Resektion war umfangreicher, als sie gedacht hatten, die Geschwulst war von erschreckender Größe, und Lawrenz schüttelte den Kopf. »Würden wir auch noch Dienst tun, Jons«, fragte er leise, »wenn wir so etwas mit uns schleppen müßten?«

»Wir sind auch nicht Soldaten gewesen, Doktor«, erwiderte Jons. »Von der alten Sorte, die noch einen König hatten, für den sie im Frieden ebenso starben wie im Kriege.«

Korsanke erholte sich schnell, aber Jons schrieb ihm selbst das Pensionsgesuch. »Davon ist nun keine Rede mehr, Korsanke«, sagte er. »Sitze jetzt still bei deinen Bienen und laß junge Leute reiten.«

»Du wirst deine Wunder erleben an diesen jungen Leuten, Jons«, erwiderte Korsanke. »Aber ich muß dir wohl gehorchen.«

Er bestellte heimlich sein Haus und saß nun noch häufiger bei Stilling, um sich aus der Bibel vorlesen zu lassen. »Sie sind klug, Stilling«, sagte er, »schrecklich klug. Und Jons ist wahrscheinlich noch klüger als der andere. Aber Korsanke hat vierzig Dienstjahre hinter sich, und es ist nicht so leicht, ihn hinters Licht zu führen.«

Ja, es war ein großer Sommer für das Dorf Sowirog. Der »Schwarzspecht« war dagewesen, und unerhörte Dinge geschahen im kleinen Doktorhaus. Und eines Morgens hatten sie bei dem alljährlichen großen Fischfang mit dem Zugnetz einen ungeheuren Wels im Netz. Er war über zwei Meter lang, seine Bartfäden reichten bis zum halben Rücken, und sein breites Maul mit den doppelten Zahnreihen lag wie ein Abgrund des Bösen hinter den Maschen des Netzes.

Das ganze Dorf war um ihn versammelt, erzählte Geschichten von Kindern, die früher beim Baden verschwunden waren, und starrte voller Grauen auf dieses blauschwarze Wesen der Tiefe, dessen Augen mit kaltem Glänzen in eine fremde Welt aufgeschlagen waren.

Selbst Kiewitt war gekommen und stand vor dem Fisch, auf seinen Stock gestützt und die hellen Augen in die kalten des Fisches gerichtet. »Das ist es, ihr Leute«, sagte er dann. »›Und niemand soll kaufen oder verkaufen dürfen, der nicht das Malzeichen an sich hat, nämlich den Namen des Tieres oder die Zahl seines Namens ... wer Verstand hat, rechne die Zahl des Tieres aus; sie ist nämlich die Zahl eines Menschen, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig‹.«

Und obwohl einige lächelten und einige die Achseln zuckten, fröstelte es sie doch alle ein bißchen unter seinen seltsamen Augen, und sie zogen die Kinder an der Hand vom Ufer fort, wo das dunkle Wasser wie ein Spiegel lag, aber niemand wußte, was hinter dem Spiegel war.

Ein großer Sommer für das kleine Dorf, von großen Ereignissen erfüllt. Der Tod hatte ein paarmal am Moorrand gestanden und hatte umkehren müssen, weil Jakobs Sohn nun da war. Ein paar junge Burschen waren dagewesen und hatten mit den Leuten gesprochen, von einer neuen Zeit, einer ganz neuen, aber auch sie hatten umkehren müssen, weil man in Sowirog keine neue Zeit brauchte. Man war sehr zufrieden, wenn es bei der alten blieb.

Und dann, als die Blätter des Ahorns sich schon färbten, hatte es eines Abends leise an die Fensterläden des Doktorhauses geklopft. Jons und das Mädchen hatten den Kopf gehoben und gedacht, daß es ein Kranker sei, einer von den Alten und Ängstlichen, die sich nicht an die Tür zu klopfen getrauten.

Aber als Jons um das Haus herumging, in dem dämmerigen Licht unter den schweren Frühherbstwolken, stand dort seine Schwester Maria, in ein Umschlagtuch gehüllt, und hielt einen großen, in den Schultern gebeugten Mann an ihrer Hand, und der Mann lächelte, wie ein etwas erschrecktes oder etwas betäubtes Kind lächelt.

»Wer ist ...«, fragte Jons erschreckt, aber bevor er den Satz beenden konnte, wußte er es. Er erkannte es an dem weißen Gesicht seiner Schwester und vielleicht aus dem Lächeln des Mannes, das wie der Abglanz eines Lächelns war, das Jons in einer der Kammern seiner Erinnerung trug.

»Ich wollte ihn nicht dort ins Haus bringen«, flüsterte Maria, »weil das Kind sich zu Tode erschrecken könnte. Nimm ihn auf, lieber Bruder, und mache ihn gesund. Ach, mache ihn gesund, lieber Bruder!«

Und sie lehnte die Stirn unter dem Tuch an seine Schulter, wobei sie den Mann nicht losließ, der zu lächeln fortfuhr und mit einer kindlichen Neugier den Stoff an Jons' Ärmel betastete.

Martin trug eine hohe, abgeschabte Pelzmütze, wie man sie in Sibirien trug, und alles andere an seinem Körper bestand aus bräunlichen Lumpen, die hier und da mit Bindfaden zusammengehalten waren. Er trug hohe Stiefel, aber auch sie waren mit Bändern umschnürt, und aus ihren Spitzen sahen die nackten Zehen heraus.

Bevor Jons sie ins Haus führte, sah er sich noch einmal um. Die dunkle Mauer des Hochwaldes stand wie an jedem Abend vor dem Haus, mit schweren Wolken, die eilig über die Kronen zogen. Aber etwas war anders geworden. Das Licht oder das Schweigen, das über der dunkelnden Erde stand. Die matt erhellten Fensterscheiben des Dorfes schienen weiter in die Ferne gerückt, und der Kauz in der alten Eiche rief anders, als er sonst gerufen hatte. Die ersten welken Blätter raschelten unter seinem Fuß, und er seufzte, als er die Tür vor sich öffnete.

Während Hanna mit erschreckten Augen das heiße Wasser in die Wanne laufen ließ, saß Martin vor dem Feuer, hatte die Hände gefaltet und blickte lächelnd in die bläulichen Flammen. Sein langes verfilztes Haar war grau geworden, aber das Gesicht war bei aller Verfallenheit und seiner schrecklichen Einsamkeit das alte Gesicht geblieben. Das Gesicht eines fröhlichen, leise verwunderten und ein bißchen ängstlichen Kindes. Der Puls schlug langsam und gleichmäßig.

Jons stand hinter Maria, die Hände auf die Rückenlehne ihres Sessels gestützt und sah den Kranken an. »Wie fandest du ihn, Schwester?« fragte er leise.

Ihre Schultern fröstelten unter dem dunklen Tuch, aber dann war sie wieder ganz ruhig.

»Er saß schon da«, sagte sie leise, »am Grabenrand, und sah mir entgegen. Vielleicht sah er auch aufs Dorf. Ich weiß es nicht. Er hat noch kein Wort gesprochen, aber er nahm gleich meine Hand, als ich sie ausstreckte, und stand auf. So als ob er auf sie gewartet hätte.«

»Er hat über zehn Jahre auf sie gewartet, Schwester.«

»Meinst du ... meinst du, daß er mich erkennt?«

»Ich weiß es nicht, Schwester. Keiner von uns weiß, was er erkennt oder nicht erkennt. Er muß nun hierbleiben, in Hannas Kammer, und wir müssen ihn zuerst nur pflegen und ganz behutsam mit ihm sein. Keine Frage, keine Träne. Wir brauchen nichts, als sein Lächeln zu erwidern.«

Er schickte sie ins Jeromin-Haus, damit sie Wäsche und einen seiner Anzüge bringe, und dann badete er Martin. Seine Haut war weiß, nicht von Ungeziefer zerfressen, und nur auf dem Rücken waren lange, vernarbte Streifen zu sehen.

Sie richteten für Hanna ein Lager in dem großen Wohnraum, und dann brachten sie ihn in die Kammer zur Ruhe. Er trank die Milch in langen, durstigen Zügen, und das Brot zerbrach er mit den Händen still, fast feierlich, wie bei einer heiligen Handlung. Dann streckte er sich aus und schlief sofort ein.

Natürlich konnte es nicht verborgen bleiben, und Jons wünschte auch nicht, daß es verborgen bliebe. Ja, er hatte eine leise, unklare Hoffnung, als könnte aus der Dorfgemeinde ein Wunder kommen. Aus der Gesamtheit aller Alten und Jungen, aller Dächer, Gärten und Zäune, aus dem Boden, in dem er Wurzel geschlagen hatte und aus dem er fortgegangen war, in den großen Krieg, und alle hatten ihm das Geleit gegeben bis zu dem Waldrand, zu dem er heimgefunden hatte.

Denn auf etwas anderes als auf ein Wunder konnte er nicht hoffen. Er hatte den Kranken sorgfältig untersucht und außer seiner Entkräftung nichts gefunden. Auch unter dem nun kurz geschnittenen Haar ließ sich keine Verletzung oder Narbe feststellen. Es war nicht anders zu erklären, als daß ein überweiches und in eine blutige Fremde gestoßenes Gemüt dem Druck der Bilder und Ereignisse nicht hatte standhalten können und in ein dumpfes Nichtwissen zurückgeglitten war. Wie die Bilder und Ereignisse im einzelnen beschaffen gewesen waren und ob eine Krankheit vorausgegangen war, würde niemals einer von ihnen wissen. Er war in eine Dämmerung gegangen und hatte sich verhüllt, und Jons wußte keine Hand, vor der der Schleier fallen würde.

Er ließ sich von Lawrenz Bücher schicken, aber sie besagten ihm nichts. Und aus des Doktors Begleitbrief ging hervor, daß sie auch ihm nichts besagten. Vom Körper konnte man etwas wissen, auf die Tafel der Seele aber konnte man nur Namen schreiben, und die Namen bezeichneten das Namenlose.

Er war damit einverstanden, daß Martin nach ein paar Wochen ins Jeromin-Haus zog, und der Kranke selbst war mit allem einverstanden. Er liebte es, in der Sonne zu sitzen und über das Dorf hinabzublicken, aber er war nicht zu bewegen, die Dorfstraße zu betreten. Und als Korsankes Nachfolger in seiner Uniform einmal zu dem Hause heraufgeritten kam, flüchtete der Kranke sich die Treppe hinauf und verbarg sich in dem dunklen Winkel hinter dem alten Schrank. Er sprach nichts außer ein paar russischen oder mongolischen Worten. Er lächelte nur. Und dieses stille, ferne, fast totenhafte Lächeln war das Schwerste, was er auf seine Umgebung legen konnte. Es drückte sie zu Boden, und sie fühlten, daß sie sein wahres Gesicht nie erkennen würden, solange diese unveränderte Maske vor ihm hing.

Es war ihnen allen seltsam, daß Barbara mit einer schmerzlichen Liebe an ihm hing und daß diese Liebe anscheinend erwidert wurde. Sie war groß genug, um zu erkennen, was hier geschah, und niemand wunderte sich, daß ihr erstes Gefühl das eines leisen Grauens war. Aber ohne daß sie geklagt oder um Rat gefragt hatte, begann sie eines Morgens damit, sich seiner anzunehmen. Ihr Gesicht verlor plötzlich alles Kindliche, und es wurde über Nacht zu dem, was Jons ein »Schwesterngesicht« nannte. Sie verlor auch das Impulsive und Eckige ihrer Bewegungen, und wenn sie Hand in Hand über den Steig zum Meiler gingen, sahen sie von ferne aus wie ein Liebespaar, in dem die Leidenschaft durch ein stilles Gefühl des Zusammengehörens abgelöst worden war.

Vor der Mutter verschloß sie sich unmerklich, und Jons war der einzige, zu dem sie über alles ein paar Worte sprach. »Ich will ihn heilen«, sagte sie, »ich allein. Und ich weiß, daß kein anderer als ich es kann. Weil ich die einzige bin, die er nicht gekannt hat, bevor er fortging. Ich bin der Spiegel, in den er noch niemals geblickt hat.«

Sie standen vor den Büchern in dem großen Wohnraum, und Jons legte den Arm um ihre Schulter. »Dieses ist nun unser Handwerkszeug, Kind«, sagte er und wies mit der anderen Hand auf die Bücher und den Schrank mit den Instrumenten. »Und wir wissen, daß es ein kümmerliches Handwerkszeug ist. Du hast nichts als ein Herz, ein junges Herz, das bis jetzt fröhlich war, und wenn du es hingibst dafür, so tust du mehr als wir alle. Aber vielleicht gibt es Türen, die sich nicht einmal vor einem nackten Herzen öffnen. Du mußt es versuchen, aber du darfst nicht verzweifeln, wenn es dir nicht gelingt.«

Nein, das Kind verzweifelte nicht. Am Anfang war es ihm genug, daß der Vater sich nicht fürchtete an ihrer Hand, ja, daß sie erkennen konnte, wie seine verschleierten Augen aufleuchteten, sobald sie am Morgen seine Kammer betrat. Und daß er, wenn vor der Haustür fremde Stimmen zu hören waren, den Kopf nach ihr wendete und die unsichere Hand nach ihr ausstreckte. Und daß es ihr gelang, den dumpfen Kreis seines eingeschlossenen Lebens Schritt für Schritt zu erweitern.

Eines Morgens nahm sie ihn in Christeans Werkstätte, und als dieser auf seinen Krücken ihm entgegenkam und sein gütiges Lächeln ihm wie einen warmen Schein entgegentrug, fühlte sie die Hand des Vaters in der ihrigen zucken, aber es war wohl nicht Christean, der in seine Seele eindrang, sondern das Bild der Krücken, an denen seine Augen hingen. Doch ließ er sich bereitwillig umherführen, und als er auf dem großen Arbeitstisch eines der kleinen Holzrehe erblickte, die Christean immer noch schnitzte, kam ein leiser Ton des Entzückens tief aus seiner Brust, ungesprochen wie der Ton eines Taubstummen, und seine Hände ergriffen das kleine Bildwerk, hoben es nahe an die Augen und verbargen es dann unter dem Rock an seinem Herzen, wobei seine Blicke sich mit einem flehenden Ausdruck auf Christean richteten.

»Behalte es, Martin«, sagte dieser schnell. »Es ist deines, ganz deines.«

Darauf drängte der Kranke schnell aus der Tür und saß nun den ganzen Tag still in der Herbstsonne, das kleine Spielzeug in den Händen, und wenn er die Augen über den See hinaus in die Ferne richtete, war es Barbara gewiß, daß er die fernen Räume eines fernen Landes sah, wo er in einem Gebüsch gekauert hatte, friedlos und gejagt, und das stille Bild der Tiere auf einer Lichtung hatte ihn heimgewiesen. Nicht in ein Dorf mit einem Namen, und nicht zu Menschen mit einem Namen, sondern zu einem fernen, unbestimmten Kinderland, wo die gleichen Tiere auf einer Wiese oder einer Lichtung gestanden und ihm ohne Angst entgegengeblickt hatten.

Auch vor der Meilerhütte saß er gern und hörte zu, wie die Eichelhäher im stillen Walde lärmten. Ein tiefer Friede konnte sich dann langsam auf seinem Gesicht ausbreiten, nicht nur der, der aus der Hand des Kindes in ihn überging, sondern einer, der aus seinen eigenen verschütteten Quellen aufwärtsstieg. So langsam, wie Wasser im Stengel einer Pflanze aufwärtssteigt, bis die gesenkten Blätter sich unmerklich zu heben beginnen. Und einmal hob er die freie Hand und deutete auf den Schwarzspecht, der lautlos hinter dem Stamm einer alten Kiefer erschien und langsam auf der borkigen Rinde hinaufstieg, bis die Sonne den leuchtenden roten Fleck auf seinem Kopfe beschien.

»Das ist ein Schwarzspecht, Vater«, sagte das Kind leise. »Er sucht nach Käfern.«

Er erwiderte nichts. Er wandte auch die Augen nicht von dem Vogel ab, aber es war ihr, als drücke er ganz unmerklich ihre Hand, und der Herzschlag stockte ihr. Aber es erfolgte nichts weiter. Sie konnte sich auch getäuscht haben.

Und dann führte sie ihn einmal bis zu Kiewitts Acker. Sie saßen dort auf der Böschung des Grabens, unter den gelben Hainbuchenblättern, und blickten auf das arme Stück Land, auf dem die Stoppel schon gepflügt war. Hier war es ganz still, nur ein ferner Kranichruf war zu hören, und ab und zu ein welkes Blatt, das sich von den Bäumen löste und mit leisem Rascheln die Erde berührte.

Nach einer Weile erschien zwischen den Wacholderbüschen hinter dem leeren Feld das Pferd Kiewitts. Es weidete vor sich hin, langsam und gleichsam herrenlos, und ab und zu hob es den mageren, fahlen Kopf und blickte zu ihnen hin, als hätte es sie längst gesehen.

Wieder fühlte sie die Hand in der ihrigen zucken, und wieder sagte sie ruhig: »Das ist Kiewitts Pferd, Vater. Sie sagen, daß es tausend Jahre alt sei und in die Zukunft blicken könne.«

Er ließ sich still zu Kiewitts Schwelle führen und saß dort auf dem warmen Stein, indes Kiewitt am Türpfosten lehnte, einen Harkenzinken aus Eichenholz in den Händen, an dem er schnitzte. Und hier geschah es nun, daß Kiewitt plötzlich den Harkenzinken fallen ließ und die linke Hand auf Martins graues Haar legte, langsam und leise, als habe eine unhörbare Stimme es ihm befohlen. Er sagte nichts, kein Wort aus dem Alten Testament oder den Seligpreisungen oder der Offenbarung, keinen der unzähligen Verse, die er immer bereit hatte, sondern er stand nur still da, den schmalen, gebeugten Körper an den Türpfosten gelehnt und die hellen, unergründlichen Augen in den Abend gerichtet, in dem der Wald sich langsam mit Schatten erfüllte, und aus dem nur der Körper des Pferdes herüberschimmerte, ein bewegungsloser Körper, der wie der eines Sagentieres dastand, eines Einhorns etwa, das den Kopf erhoben hatte und mit fremdartigen Augen zu ihnen herübersah, schweigend, gleichgültig, einem Leben zugehörig, von dem sie nichts wußten und niemals etwas wissen würden.

So stand Kiewitt da, bis die Dämmerung zu fallen begann. Seine Lippen bewegten sich nicht, seine Hand zitterte nicht. Aber es mußte wohl ein Strom seines Lebens in die verstörte Seele des Kranken hinüberfließen, denn das Lächeln um seine Lippen losch ganz allmählich aus, so allmählich, wie ein Wasserspiegel zur Ruhe geht, dieses leere, von nichts erfüllte Lächeln, und statt seiner erschien eine tiefe, fast erschreckte Trauer um die schmalen Lippen, wie die Trauer eines Menschen, vor dem ein Brief geöffnet wird, den er ein paarmal lesen muß, ehe sein Verstand der Trauer des Herzens nachfolgen kann, weil die Trauer des Herzens früher und schneller da ist als die andere.

Er stand so gehorsam auf wie immer, nahm die führende Hand und ging langsam durch die tiefen Schatten, die im Hochwald auf dem schmalen Pfade lagen. Nur dies war anders, daß er ab und zu stehenblieb, die linke Hand vor die Stirn legte und mit geschlossenen Augen zu lauschen schien. Jedesmal erzitterte das Kind vom Kopf bis zu den Füßen, der schrecklichen Einsamkeit bewußt, in der es mit dem Kranken war, und es atmete verstohlen auf, als die ersten Lichter des Dorfes aus dem Abend schimmerten und abseits von ihnen das helle, weiße Licht in den Fenstern des Doktorhauses.

Und dann, eben hier, und niemals so wenig erwartet wie hier, kam es ohne Vorbereitung, daß der Kranke seine Hand aus der des Mädchens zog, sich ihr zuwandte, das verstörte Gesicht nahe zu dem ihren geneigt, und die Lippen zu einer Frage öffnete, zu der ersten Frage in seiner Muttersprache, und sie lautete, mit Mühe, aber in voller Deutlichkeit gesprochen: »Wer ... bist ... du?«

Er sah das schmale Gesicht erblassen unter dieser Frage, bis in die Lippen hinein, aber er fuhr fort, seine schweren Augen an dieses Gesicht zu klammern, erbarmungslose Augen, aus der Tiefe auftauchend wie aus einem Strudel und nach einem Halt verlangend wie ein Ertrinkender, gleichviel ob es ein anderes Leben kostete oder nicht.

Es half Barbara nichts, daß sie voller Todesangst wünschte, Jons wäre da, um ihr die richtige Antwort zuzuflüstern. Daß eine nach der andern sich in ihrem Kopf jagten und sie doch wußte, daß es nur eine einzige gab unter Tausenden und daß jede falsche den Vater zurückstoßen würde in den Abgrund der Dunkelheit und des Schweigens.

Auch wiederholte er die Frage nicht, aber er fuhr fort, seine Blicke in ihrem Gesicht einzugraben wie auf einer willenlosen Tafel, und als sie es nicht mehr ertragen konnte, stahl sich ihre Hand ganz leise wieder in die seinige, und nach einem tiefen, unhörbaren Atemzug sagte sie leise und fest: »Ich bin dein Kind!«

Kein Widerschein auf seinem Gesicht, keine Bewegung seiner Brust oder seiner Hand. Nur eine leise Entspannung der Wangen und des Mundes, während die Lider sich ganz langsam über seine Augen senkten. Es war, als ob ein Vorhang lautlos falle, über einer dunklen und verstörten Bühne, und in dem großen Rund sei kein Atemzug zu vernehmen.

Barbara hörte die Taucher auf dem See und den ersten Kauz im Hochwald hinter sich. Sie hörte eine Haselmaus über das trockene Laub gleiten, und sie hörte ihren eigenen schweren und schmerzhaften Herzschlag. Vom Vater hörte sie nichts.

Dann gingen sie langsam, Hand in Hand, zum See hinunter.

Martin wollte sofort in seine Kammer, und zum erstenmal seit seiner Ankunft drängte er das Mädchen sanft aus der Tür, sobald es das Licht in der kleinen Lampe angezündet hatte. Das Lächeln war immer noch von seinen Lippen verschwunden, und seine Augen gingen unruhig an den niedrigen Wänden umher.

Sie lauschte so lange, bis sie ihn zu Bett gehen hörte, aber außer einem tiefen Seufzer kam kein Laut über seine Lippen.

Dann erst lief sie zu Jons, und hier erst, in dem hellen Licht einer geordneten Welt, löste sich alle Last von ihrer jungen Brust, und sie weinte fassungslos, an seine Schulter gelehnt.

»Wir wollen nicht zuviel daran knüpfen, Barbara«, sagte er nach einer Weile. »Wir wissen ja so wenig. Es kann etwas bedeuten, es kann sogar viel bedeuten, aber es kann sich auch wieder verlieren, wie ein Stein im Wasser ... Kiewitt also«, fuhr er später fort. »Das Unsichtbare und Schweigende. Keine Medikamente, keine Psychoanalyse. Nur eine alte Hand, und durch sie strömt das Leben über, oder die Erinnerung, oder Gott. Siehst du nun, wie arm wir sind, Kind?«

Wahrscheinlich verlor es sich nicht, aber es verhüllte sich. Er sträubte sich leise, noch einmal zu Kiewitts Hütte zu gehen, und der grübelnde Ausdruck in seinen Augen blieb. Das Kind wurde blaß und mager, als drücke eine heimliche Schuld es nieder, und die junge Stirn war nun manchmal streng gefaltet, als suche es hinter ihr wie hinter des Vaters Augen, schweigend, unablässig und wie in einem Nebel.

Und zu Beginn der Herbstferien, als die Familie Maschlanka für eine Woche zu Verwandten gereist war, die auch Maschlanka hießen, ging sie eines Abends heimlich zu Stilling und saß lange vor der Weltkugel, auf der das unendliche Tiefland ihr zugekehrt war, das von der Düna bis zum Amurstrom sich erstreckte.

»Wir wollen es versuchen, Kind«, sagte Stilling seufzend. »Es ist ein gefährlicher Versuch, und wir wissen nicht einmal, ob er sich hergeben wird dazu. Aber die Musik ist Gottes Stimme, und so wie diese aus Kiewitts Hand in ihn überging, kann sie es auch aus der deinigen tun. Ich will zu den Eltern gehen und um die Kinder bitten. Es wird sich keines versagen.«

Die Jeromin-Häuser waren die einzigen im Dorf, die nichts wußten. Barbara hatte es nicht gewollt. Sie war in Angst und Zweifel, und für die Mutter würde es schrecklich sein, wenn es mißlang.

Es war schon dunkel, als sie Martin vom Waldrand aus in die Schule führte. »Wir wollen zu Stilling gehen«, sagte sie nur, und der Kranke sträubte sich nicht. Die Kätnerhäuser lagen dunkel, und vielleicht merkte er gar nicht, daß er zum erstenmal das Dorf betrat. Sie gingen zuerst in das Zwergenhaus und traten in den kleinen Raum mit den Büchern und der Weltkugel. Die Lampe brannte, und Stilling in seinem weißen Haar saß still hinter dem aufgeschlagenen großen Buch. Die alte Uhr ging friedlich durch das Schweigen, und Martin blieb vor der Weltkugel stehen, die verschlossenen Augen auf das Bild der Erde gerichtet.

»Da bist du ja, Martin«, sagte Stilling und sah von der Bibel auf. »Ich hab' immer gewußt, daß du wiederkommen würdest. Nun wollen wir einmal zu den Kindern gehen. Sie warten schon so lange auf dich.«

Er hängte seinen Hohenzollernmantel um und nahm Martins andere Hand. Der Schulhof war dunkel. In den alten Linden rauschte leise der Abendwind. Das Haus lag so still, als hätte niemand es betreten, seit der junge Pfarrer die Ausziehenden gesegnet hatte.

In dem großen Klassenraum brannte nur eine einzige Petroleumlampe. Sie stand auf dem Pult und beschien die Tafel, auf die mit Kreide große und kleine Buchstaben geschrieben waren, und die alte Landkarte, die an den Rändern eingerissen war seit undenklichen Zeiten. Die Kinder saßen unbeweglich, die Hände auf den Bänken gefaltet. Keines drehte den Kopf nach den Eintretenden.

»Und das sind nun deine Kinder, Martin«, sagte Stilling und schloß die Tür hinter sich.

Die Hände Martins zuckten einmal in ihren Händen, und es schien, als wolle er sich losreißen und fliehen. Sie hörten, daß sein Atem schneller ging, und seine Augen flogen an den dunklen Wänden entlang, aber dann setzte er sich doch in den Sessel, den Stilling hatte hineinstellen lassen, und wendete seine Augen nicht mehr von der kleinen Lampe, die das Pult beschien. Unter ihr lag die Geige mit dem Bogen, und das rötliche Holz schimmerte warm in dem gelblichen Licht.

»Höre nun still zu, Vater«, sagte Barbara. »Wir wollen ein bißchen singen für dich.« Sie konnte es nicht ändern, daß ihre Stimme heiser klang.

Die Augen des Kranken folgten ihr, wie sie den schmalen Gang zwischen den Bänken nach dem Pult ging und nun dort stand, schmal und mit weißem Gesicht, in dem nur die Augen wie im Fieber leuchteten. Ein junges, tapferes Menschenkind, ernst und alt geworden vor der Zeit, und als ihre Hände die Geige nahmen, war es, als hätte sie dort schon viele Jahre gestanden, eine Hüterin vergangener Güter, und die Kinder die alten Lieder gelehrt, die sie gesungen hatten, als statt ihrer noch Martin dagestanden hatte, mit dem jungen, strahlenden Lächeln um seine Lippen und mit dem unerschütterlichen Glauben an seine Mission, die er im Dorfe Sowirog zu erfüllen hatte.

Barbara hatte nicht viele Stunden bei Stilling gehabt. Sie konnte ein paar Volkslieder spielen und die zweite Stimme dazu, aber als sie nun prüfend die Saiten zupfte und die Geige unter das Kinn hob, sah es auch jetzt so aus, als hätte sie das ihr Leben lang getan, und der erste Ton hob sich zitternd, aber klar und rein aus dem großen Schweigen empor.

Stilling hatte lange nachgedacht, welches Lied sie nun wählen sollten. Zuerst hatte er gemeint, daß es mit Paul Gerhardts »Befiehl du deine Wege ...« am besten sein würde, aber dann hatte er eines Abends den Kopf geschüttelt und gesagt: »Ich weiß es nun, Kind.« Und sie hatten das alte Volkslied dieser Landschaft genommen. »Er hatte es nicht gekannt, als er herkam«, sagte er. »Ich habe es ihm noch beigebracht, und ich erinnere mich, daß er es mehr liebte als alle anderen.«

Und als die Geige die erste Strophe allein gespielt hatte, ließ Barbara ihre Augen von den Fingern ihrer linken Hand zu den Kindern gehen, und sie sangen nun das ganze Lied, die hohen Stimmen der Mädchen die Melodie und die tieferen der Knaben die zweite Stimme, indes die Geige mit leisen Strichen und manchmal mit einem Doppelgriff sie begleitete.

»Es dunkelt schon auf der Heide,
Nach Hause wollen wir gehn.
Wir haben das Korn geschnitten
Mit unsrem scharfen Schwert ...«

Sie sangen das ganze Lied. Sie sangen es vielleicht nicht besonders schön, und die Stimmen der Mädchen waren etwas zu schrill, zumal bei den hohen Tönen. Aber es war zu hören, daß sie nicht nur mit ihren jungen Kehlen sangen. Sie wußten nichts Rechtes von Martins Krankheit, denn sie hatten sie noch nie gesehen. Aber sie wußten, daß er hier Lehrer gewesen war, ein junger und fröhlicher Mensch, und daß er dann verschollen gewesen war, viele Jahre, und jedes von ihnen hatte am Abend Maria zum Moor gehen sehen, und die Mütter hatten gesagt: »Da geht sie wieder, die Arme ...« Und nun war er wiedergekommen, aber er wußte von nichts. Er wußte nicht einmal seinen Namen und wahrscheinlich auch nicht den des Dorfes, und die Mütter hatten an diesem Abend ihre Haare noch einmal gekämmt und gesagt: »Helft ihm nun in Gottes Namen!«

Und so sangen sie nicht nur mit ihren jungen Kehlen. Ihre Stimmen schwankten leise, und ein paar der Mädchen hatten ihre Schürzenzipfel vor den Augen. Aber sie sangen es doch tapfer zu Ende, und dann saßen sie so regungslos wie am Anfang, die gefalteten Hände auf den Bänken, indessen sie nach rückwärts lauschten, wo er saß, den sie nicht sehen konnten, und wo sie nur einen schweren Atem hörten, wie den Atem eines Mannes, der mit einem Zweizentnersack auf dem Rücken die enge Treppe zum Kornspeicher hinaufstieg.

Und dann, als die Herzen ihnen schwer bis zum Hals hinauf schlugen, hörten sie den Ton, von dem sie dann die langen Winterabende immer wieder erzählten. Den Ton eines weinenden Kindes, hoch und schrecklich verlassen, ja, vielleicht nur den Klageruf eines jungen verlassenen Tieres tief aus den Büschen heraus, wo die Farnkräuter über alten feuchten Steinen stehen und die Kreuzotter sich auf dem Moose sonnt. Ein schreckliches Weinen, das ihnen das Herz zerriß, weil es doch das Weinen eines alten Mannes war, mit grauem Haar über seinen verstörten Augen.

Und dann standen sie doch auf, viele von ihnen, von Angst getrieben, und in der tiefen Dämmerung neben der Tür sahen sie das Mädchen vor dem Sessel knien und das weiße Haar des Lehrers darübergebeugt, und sie hörten die junge, bebende Stimme sagen: »Vater ... lieber Vater ...«, und immer nur dieses und nichts anderes.

Und da schlichen sie sich auf einen Wink Stillings leise hinaus. Aber als sie an dem Sessel vorbeikamen, geschah das Große und Unerhörte, daß der weinende Mann seine Hand ausstreckte, nach jedem von ihnen, und daß er immer wieder sagte: »Kinder ... liebe Kinder ...«

Und jedes von ihnen legte die zitternde Hand in die des Mannes, ganz schnell, als ob es so befohlen sei, und ging dann aus der Tür, in der Stilling stand, und seine alte Hand legte sich auf ihr Haar, als segne er sie, und er vergaß keines von ihnen.

Vielleicht war es keine ganze Heilung. Vielleicht war es so, daß nur ein Stück der Kruste aufgebrochen war und darunter erschien die alte Glut, von grauen Adern durchzogen. Aber doch war es so, daß die Seele langsam heimkehrte in ihr altes Haus und sich einzurichten begann, soviel auch vergessen und verloren war. Er wußte nun, wer er war und wo er war, und er erkannte alles wieder. Aber er war sich auch dessen bewußt, daß er wund war und daß hinter seiner Stirn dunkle Felder lagen, auf denen er nie mehr ernten würde.

»Ein toter Mann, Jons«, sagte er und blickte auf die Bücherreihen in dem großen Raum. »Ein Leichnam, der noch wandelt. Aber ein Buch werde ich nie mehr lesen können, Jons. Die Buchstaben sind da und die Worte sind da, aber es knüpft sich nicht mehr zusammen. Es fällt auseinander wie ein Kartenhaus.«

»Habe Geduld, Martin«, erwiderte Jons. »Versuche nichts mit Gewalt. Und laß dich führen vom Kind wie bisher. Es hat das meiste an dir getan.«

»Das Kind ...«, sagte er gedankenverloren. »Das Kind ...«

Und so blieb er, ein stiller, lächelnder, alter Mann, der an einem Spielzeug schnitzte oder bunte Steine zwischen den Fingern drehte und wieder fallen ließ. Manchmal sang er leise vor sich hin, und manchmal versank er in ein schweres, dumpfes Brüten. Aber immer ging ein Glanz über sein Gesicht, wenn sich jemand zu ihm neigte, Maria oder Jons oder das Kind.

Er war wie ein lebenslänglich Verurteilter, der vor seinem Tode begnadigt worden war.

Ja, lange wurde von diesem Sommer und Herbst gesprochen in Sowirog. So als wenn der liebe Gott vorübergegangen wäre und sein blauer Mantelsaum hätte das kleine Dorf gestreift. Ein kühler Wind war die Dorfstraße entlanggegangen, das Vieh hatte mit den Ketten geklirrt, die Hunde hatten einmal aufgeheult, und dann war alles wie sonst gewesen. Frieden, Stille und der große, schweigende Gang des Jahres über Dächer und Felder und Herzen hin.


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