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V

Als Dr. Lawrenz und Jons Ehrenreich einander zum ersten Male begegneten, war der Arzt schon ein alter Mann, und auf den ersten Blick war nichts Bedeutendes an ihm. Er sah wie ein alter Lehrer aus oder wie ein Mann, der in einer Druckerei die feuchten Fahnen korrigierte und seine rätselhaften Zeichen mit einer etwas zittrigen Hand an den Rand der Blätter setzte. Sein Gesicht war gelblich und schwer, mit Tränensäcken unter den müden Augen, und der Kneifer an der schwarzen Schnur fiel ihm immer wieder von der etwas formlosen Nase, wenn er sich über die Frau beugte, die im nassen Schnee auf dem Pflaster lag, inmitten einer blassen Blutlache, die sich schnell nach allen Seiten verbreiterte. Sein abgetragener Wintermantel war geöffnet, und Jons sah, daß der unterste der Knöpfe fehlte und statt seiner nur ein Rest des schwarzen Fadens die Stelle bezeichnete, an der er einmal befestigt gewesen war.

Aber er hatte sehr schöne, schmale Hände mit zarten, bläulichen Adern, an denen die feuchten Schneeflocken haften blieben.

Es war eine ärmlich gekleidete Frau, und sie war von einem schweren Lastwagen überfahren worden. Die Räder waren unterhalb des rechten Knies über ihr Bein gegangen und hatten es fast abgetrennt. Sie war bewußtlos.

Jons war von der Vorlesung gekommen und gerade in seine Straße eingebogen, als es geschehen war. Er hatte seine Tasche auf das Pflaster gelegt und mit seinem Ledergürtel das Bein oberhalb des Knies abgebunden. Der Fahrer stand in seiner Lederjacke daneben und redete unaufhörlich von seiner Unschuld.

Dann hatte der Doktor sich über die Frau gebeugt und nach ihrem Puls gefühlt. »Ein bißchen loser«, hatte er zu Jons gesagt.

Dann hoben sie die Frau auf eine Decke und trugen sie in das Haus hinein. Es war gerade vor der Tür des Arztes geschehen. »Notieren Sie die Nummer!« sagte er zu einem der Umstehenden, den er zu kennen schien.

»Sollten wir nicht den Unfallwagen kommen lassen?« fragte Jons, als sie die Treppen hinaufstiegen.

Sie standen schon vor der Tür, und Jons las den Namen. Der Arzt zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und drehte sich nicht um. »Möchten Sie lieber in einem Wagen oder auf einem Bett erwachen, wenn Sie sehen, daß Sie ein Bein oder einen Arm verlieren werden?« fragte er.

Dann kam die Schwester, und Jons sah an ihrer Haube, daß sie katholischen Glaubens war. Sie sagte nichts, sah nur schnell auf die Bewußtlose und öffnete dann eine Doppeltür. Man hörte keinen Laut bei ihr, außer dem leisen Knistern ihrer gestärkten Schürze.

Jons sah zu seinem Erstaunen, daß es ein Operationszimmer war, ganz klein, aber mit allem versehen, was er aus den großen Kliniken kannte. Sie legten die Frau auf eine fahrbare Bahre im Gang, und der Arzt bedankte sich bei den Trägern. »Kennt einer sie?« fragte er, indem er schnell den Mantel auszog. Es sah aus, als ließe er ihn nur von seinen geneigten Schultern fallen.

Ja, einer kannte sie. »Erst nach einer Stunde Nachricht geben«, sagte Dr. Lawrenz. »Kann jetzt niemanden brauchen.«

»Sie bleiben hier«, sagte er nebenbei zu Jons.

Er reichte ihm Mantel, Maske und Handschuhe und deutete auf eines der Becken. »Vorsicht, das Wasser ist fast kochend«, sagte er. Er selbst trat an ein zweites, nachdem er die Instrumente aus einem der Schränke herausgenommen und in heißes Wasser gelegt hatte. Alles geschah so still und schnell, als gleite ein schweres, behendes Tier lautlos von einem Raum zum nächsten.

Jons gehorchte, und er war wie in einem Zauber befangen. »Aber ...«, begann er und ließ die Bürste sinken.

Der Arzt schüttelte nur den Kopf, und der Kneifer fiel ihm wieder von der Nase. »Wieviel Semester?« fragte er kurz.

»Im fünften«, erwiderte Jons.

Der Arzt nickte und richtete seine schönen, traurigen Augen auf Jons. »Sie oft gesehen«, sagte er. »Viele Jahre. Man sieht alles in solch einer stillen Straße. Früher trugen Sie Eisen unter den Absätzen ...«

Dann schob die Schwester die Bahre herein. Die Frau war schon entkleidet, und unter dem Tuch zeichneten sich ihre mageren Glieder ab.

»Signum paupertatis«, sagte der Arzt leise. Sein Gesicht war müde, und als es unter der Maske verschwand, war es, als sei es nun erst zu Hause. Bevor Jons die Spritzen für die örtliche Betäubung zureichte, machte die Schwester das Zeichen des Kreuzes über die Bewußtlose. Es geschah so behutsam, als fürchte sie, die Schlafende zu erwecken.

Jons blickte mit atemloser Bewunderung auf die Hände des Arztes. Er gehorchte wie im Traum allen geflüsterten Befehlen, und er fühlte, daß er nichts falsch machen konnte. Es war wie in einer Erleuchtung, und erst als der Arzt ihm die Knochensäge zuschob, erschrak er, und seine Hände begannen zu zittern. »Hier«, flüsterte der Arzt und deutete auf die Stelle.

Jons setzte den schimmernden Stahl an, und bei der ersten Berührung des Werkzeugs mit dem regungslosen Körper waren seine Hände wieder ruhig. Wie eine Vision stand für die Länge eines Herzschlags der Meiler vor ihm und der Eichenbock, an dem er Holz sägte, dann war auch das vorüber, und seine Hand glitt behutsam und stetig auf und ab. Der Arzt sah ihm zu, die Hand am Puls der Frau, und nickte nur, als er fertig war.

Als der Verband gelegt war und sie die Masken wieder abgenommen hatten, merkte Jons, daß ihm eine kalte Feuchtigkeit auf der Stirne lag. »Das ist beim erstenmal«, sagte Dr. Lawrenz leise.

Die Operierte war wieder auf den Gang geschoben worden, und der Arzt blieb noch eine Weile bei ihr stehen. »Haben Sie die Klinik angerufen, Schwester Monika?« fragte er.

Sie nickte nur, ohne ihre stillen Augen von dem weißen Gesicht zu wenden. »Wir wollen sie erst dort aufwecken lassen«, sagte Dr. Lawrenz. »Wenn sie eine Aufwärterin oder eine Waschfrau ist«, fuhr er nach einer Weile fort, »dann wird es schlimm sein für sie und ihre Kinder. Für die Armen ist ein Bein viel ... ein großer Besitz ...« Und er glitt einmal mit seiner zarten Hand über die Stelle, wo sich unter der Hülle der dicke Verband abzeichnete. »Das ist bei Ihnen auch so ..., wie ist doch Ihr Name? Jeromin ... richtig ... in Ihrem Dorf, nicht wahr?«

Jons nickte.

»In einer Klinik sind sie nun fertig mit solch einem Fall«, sagte er weiter, und es war immer, als spreche er zu sich selbst. »Keine Komplikationen, Rechnung, fertig! Bei uns fängt es erst an.« Er sah müde nach seiner Uhr. »Wenn sie kommen, bringen Sie sie zu mir herein, Schwester. Wahrscheinlich werden es die Kinder sein. Der Mann ist bei der Arbeit. Urlaub gibt es nicht, wenn nur ein Bein fehlt ... wie ist es mit Ihnen, Jeromin? Paßt es Ihnen heute abend um acht?«

Jons nickte, nahm seine Tasche und ging wie im Traum durch die Tür und die Treppe hinunter. Auf den untersten Stufen traf er ein hochaufgeschossenes, blasses Mädchen, das still vor sich hinweinte. Eine Frau in einem schwarzen Umschlagtuch führte es bei der Hand.

Es schneite noch immer, und ein paar Kinder standen auf der Straße, die Hände in den Taschen, und starrten auf den roten Fleck, der sich mit dem weißen Schnee vermischte.

So begann Jons Ehrenreichs Freundschaft mit einem alten Mann, und sie begleitete und erfüllte und trug viele Jahre seines Lebens, wie ein stiller Strom einen gebrechlichen Kahn trägt. Später sah er darin eine der wunderbaren Fügungen seines Schicksals, wie es an einer bestimmten Stelle an einen Lebensweg tritt und mit einer sanften, kaum gespürten Bewegung die eingeschlagene Richtung ändert. Zuerst erscheint diese Änderung so unmerklich, daß das Ziel am Horizont nur um Haaresbreite neben dem ursprünglichen zu liegen scheint. Aber je weiter die Jahre gehen, desto weiter rücken die Zielpunkte auseinander, gehorsam den Gesetzen der Projektion, und am letzten Horizont des Lebens stehen sie weit voneinander ab, wie zwei Sterne, zwischen denen ein Viertel des Weltallkreises liegt.

Der Doktor hatte einen kleinen Bibliotheksraum, bis zur Decke mit Büchern gefüllt, und in einer Ecke einen runden Tisch mit einem grünbezogenen Sofa und zwei Sesseln. Es gab nur ein Bild in diesem Zimmer, und es war in die Bücher wie in einen Rahmen eingelassen. Es war das Bild einer Frau mit weißen Haaren, die einen Stieglitz auf der etwas erhobenen linken Hand trug und ihre dunklen Augen mit einer leisen Zärtlichkeit auf ihn gerichtet hielt. Aus den stumpfen Farben des Bildes leuchtete der kleine Vogelkörper so verwirrend heraus, als hätte der Maler seine ganze Palette an ihm geprobt. Er zog den Blick immer wieder auf sich, und nach einer Weile meinte Jons, daß der Maler das vielleicht nicht ganz recht gemacht habe, wenn der Vogel ihm mehr gewesen sei als die Frau.

»Sehr recht«, sagte Lawrenz, »denn es zeigt die Essenz ihres Wesens. Sie war immer für andere da, nie für sich. Höheres kann der Mensch nicht erwerben.«

»Es ist meine Mutter«, fuhr er nach einer Weile fort. »Sie war eine Jüdin, und auch ich bin ihres Glaubens.«

Jons starrte ihn an wie eine Erscheinung. Er war immer noch das Kind vom Meiler, das bei allem Unvermuteten den Schritt anhielt.

»Ja, mein Vater hieß Lawrenz«, sagte der Doktor gleichmütig. »Er hatte eine Knopffabrik, und für ihn war jeder Knopf eine Offenbarung. Anderes hatte er nicht. Er ist gleichgültig. Er hat mir nichts als den Namen gegeben ... Sie war eine wunderbare Frau. Alte Rassen bringen manchmal so etwas hervor. Sie ruhte in Gott, so muß man es sagen. Nicht erst im Tode, sondern schon im Leben, und das ist viel, mein junger Freund, sehr viel. Fast alles, was ich habe, habe ich von ihr ..., sie hatte einen schweren Tod, Carcinoma heparis, auf deutsch Leberkrebs ... man sagt, daß die Anlage dazu sich vererben könne ... oder, was sagt man auf den hohen Schulen heute dazu?«

Jons wußte es nicht, und Lawrenz lächelte sein stilles Lächeln. Nur der Mund lächelte, die Augen blieben traurig und unberührt.

Ja, der Doktor lebte ganz still. »Wie ein Mönch«, sagte er, »›Ora et labora‹. Ich bete viel, Jeromin. Auch das ist ein Erbteil. Ich habe nie ganz verstanden, wie man Arzt sein kann, ohne zu beten. Wenn Sie die Säge in die Hand nehmen, zum Beispiel wie heute. Ein Eingriff in das Ebenbild Gottes, eine Entstellung, und Sie wissen nicht einmal, wie es ausgeht. Die großen Professoren wie der unsrige denken: ›Tausend Mark‹, oder auch ›zweitausend Mark‹, wenn es ein Knopffabrikant ist. Ich denke an Isaak, wie er unter dem Messer lag. Wenn sie es wüßten, würden sie mich wahrscheinlich entmündigen. Wir haben zuviel erfunden, Jeromin. Mikroskope und Röntgenstrahlen. Wir haben die Decke aufgehoben, die der Gott unserer Väter über die Schöpfung gebreitet hat, und wenn unter der Decke der nackte Mensch liegt, glauben wir, daß wir das Geheimnis haben. Aber wir haben nur die Nacktheit, nicht das Geheimnis. Wir sind wie Kinder, die eine Uhr auseinandernehmen. Das können wir schon, aber wir können sie nicht wieder zusammensetzen.«

Er goß den schweren Portwein in die Gläser und nahm eine der schwarzen Zigarren aus dem alten Kästchen mit dem altertümlich eingelegten Deckel. »Dies ist mein Zoll an die menschliche Gebrechlichkeit, Jeromin«, sagte er. »Beides ist Gift für mich, aber das Leben ist so mühselig. Wußten Sie, daß es mühselig ist?«

Jons glaubte es zu wissen. Er rauchte eine von des Doktors schweren Virginia-Zigaretten und trank den Wein in kleinen Schlucken. Er konnte die Augen nicht von dem schweren, müden Gesicht abwenden, das doch von einer inneren sanften Heiterkeit leuchtete wie von einem fernen Licht.

»Ich sagte schon, daß ich Ihnen seit Jahren zusehe, Jeromin«, fuhr Lawrenz fort. »Jeden Morgen vor der Sprechstunde sitze ich eine Stunde am Fenster und sehe hinaus. Das Leben zieht vorüber, und ein Arzt will auch ein bißchen vom Leben sehen. Nicht nur vom Tode. Das erstemal sah ich Sie, als der Mann mit dem Hohenzollernmantel Sie an der Hand führte. Ich mußte das sehen, weil das in dieser Straße etwas Unerhörtes war. Von da ab habe ich Sie nicht mehr aus den Augen verloren. Sie waren wie Joseph mit dem bunten Rock. Ich dachte, Sie müßten viele Brüder haben. Haben Sie Brüder, Jeromin?«

Jons nickte.

»Sehen Sie, ich bin ganz allein. Meine Mutter hat nur mich geboren, und die Lawrenze sind fremdes Blut. Sie erfüllen die Welt, aber es ist nicht meine Welt. Und da muß man sich an etwas halten. An ein paar Bücher oder ein paar Tiere. Aber manchmal auch an ein Kind. Kinder haben noch nicht durch Mikroskope gesehen. Die Schöpfung ist ihnen noch nicht zerlegt. Sie gehen noch aus und ein im Garten Eden. Solch ein Kind waren Sie. Ich dachte mir, daß Sie aus dem Walde kämen. Man geht anders, wenn man aus dem Walde kommt. Man hat auch andere Augen.

Im Kriege verlor ich Sie für ein paar Jahre. Ich war selbst fort. Auch jüdische Ärzte braucht man im Krieg. Aber dann kamen Sie wieder. Ich sah, daß Sie nicht umsonst draußen gewesen waren. Die meisten tragen eine Uniform, auch wenn sie längst einen Sportanzug tragen. Sie haben nie eine Uniform getragen. Gott hat keine Uniformen verliehen, die verleiht nur der Staat.

Ich wußte, daß Sie Arzt werden wollten, und ich hörte sogar von der Sache mit dem großen Gynäkologen. Solche Dinge verbreiten sich schnell, weil das einer der seltenen Fälle ist, wo der Mensch aus der Uniform ausbricht. Und nichts ist seltener bei uns als der Mensch. Aber nun sollen Sie erzählen. Von Ihrem Wald und Ihren Brüdern. Und alles andere.«

Und Jons erzählte. Die Bücher standen schweigend und unbeweglich wie bei Jumbo, nur daß hier der bunte Vogel war statt des Kinderpferdchens vom Meiler. Aber Jons sah den Faden des Schicksals sich von einem zum andern spinnen, und darüber sah er das Gesicht der Frau, das schöne, alte, traurige Gesicht, das »in Gott« geruht hatte, und manchmal war ihm, als laufe der Faden durch ihre matten, schmalen Hände, die der Doktor geerbt hatte.

Er wußte nicht viel von seinen jüdischen Kommilitonen, aber er wußte viel vom Alten Testament. Seine Kindheit war getränkt worden damit, und der Vater hatte das meiste dazu getan. Der Vater hatte keinen Haß gekannt, weder den der Rassen noch den der Religionen. Auch der Vater hatte in Gott geruht.

Von ihm erzählte er zuerst. Und dann alles andere, wie es ihm in den Sinn kam. Es war wie eine Beichte, und auch Margreta ließ er nicht aus. Lawrenz wendete keinen Blick von seinem Gesicht, und selbst wenn er nach seinem Glase griff, tastete er nur mit der Hand vorsichtig über die Tischplatte, ohne die Augen von Jons zu lassen

Erst als die kleine goldene Pendüle in der Ecke zwölf schnelle silberne Töne erklingen ließ, hob er die Hand. »Genug für heute, Jeromin«, sagte er. »Die Zeit ist auch der Herr der Ärzte. Nehmen Sie sich immer vor, ihr zu gehorchen. Viele Operationen mißlingen, weil man ihr nicht gehorcht hat.«

Er stand auf und blickte in Gedanken auf das Bild seiner Mutter. »Das ist die gefährliche Naht in Ihrem Leben«, sagte er. »Die Mutter. Es scheint Ihnen, als seien keine Fäden mehr da, aber in Wirklichkeit hat man vergessen, sie herauszuziehen ... Sie sind ein verflochtener Mensch, Jeromin. Sie ziehen den ganzen Wald und das ganze Dorf hinter sich her. Deshalb gehen Sie so mühsam ...«

Er brachte ihn die Treppe hinunter und stand noch einen Augenblick mit ihm vor der Haustür. Es schneite, und die Luft war kälter geworden. Der rote Fleck war nicht mehr zu sehen, aber der Doktor starrte auf die Stelle, als sähe er ihn noch. »Sie wird nur noch einen Schuh brauchen«, sagte er seufzend. »Aber es hilft ihr nichts. Die Geschäfte verkaufen nur paarweise. Auf morgen, Jeromin, und schlafen Sie wohl!«

»Auf morgen ...«, so hieß es nun fast an jedem Abend. Die Universität trat für Jons zurück wie hinter eine Wolke. Nicht daß er sie versäumte. Er ließ Kollegs und Übungen nicht aus, er verarbeitete sie so fleißig wie früher. Aber sie war nicht mehr der Boden, auf dem er wuchs. Ein neues Feld hatte sich aufgetan, und Jons stürzte sich in seine Furchen, als trügen sie die erste und letzte Saat.

Lawrenz hatte eine kleine Privatklinik, mit katholischen Schwestern, in einem armen Viertel, und sie war auch eine Klinik für Arme. Wollte jemand anders hinein, so zuckte er bedauernd die Schultern: es sei alles belegt. Er log mit unbewegtem Gesicht, um der Armen willen. »Sehen Sie, Jeromin«, sagte er, »das ist der Fluch, daß sie glauben, mit Geld lasse sich auch der Tod abkaufen, und daß die Ärzte sie in diesem Glauben bestärken. Unsere Hand und unser Auge, das sind schöne Dinge, wunderbare Dinge sogar, aber ohne das Herz sind sie dem Fluch zugänglich, dem Ruhm, dem Gold. Wir sollten alle umsonst lehren und helfen, Jeromin. Ärzte und Lehrer, Dichter und besonders die Pfarrer. Und daneben ein kleines Handwerk treiben oder die Herden hüten, wie David oder die Erzväter. Oder wie Ihr Vater am Meiler. Der Geist verdirbt uns, Jeromin, die ratio. Wir sind wie eine Termitenkönigin, unförmlich, immer gebärend. Wir hassen die Natur, weil sie keinen Geist hat, und wie die Termitenarbeiter höhlen wir die Balken der Schöpfung aus, damit die Königin Speise bekomme. Die Primitiven wissen es noch, was das Magische ist, vielleicht noch die östlichen Völker. Aber das Abendland ist schon wie eine Puppenhülle, aus der der Schmetterling sich aufgehoben hat. Dort können Sie ihn noch sehen« – und er wies auf die dunklen Bücherreihen –, »unter Glas und Stecknadeln, und für manche von uns lebt er noch. Aber langsam fällt der Staub auch auf seine Flügel. Was Sie heute um sich sehen, Jeromin, Arbeiter und Studenten, Beamte und Offiziere, das lebt nicht mehr für das Magische. Das lebt nur noch für den Stoff, die Karriere, das Geld. Vielleicht nennen sie es noch das Leben, aber es ist ein entzaubertes Leben. Bei Ihnen im Dorf, da kann es noch sein. Der Großvater wußte es noch, nein, er wußte es nicht, er hatte es, Euer alter Hirt vielleicht, und auch Kiewitt. Die Klugen hier würden sagen, es sei eine ungesunde Welt, eine der Bescheidung, des Sichbeugens, eben eine östliche Welt. Aber was wissen diese Klugen von der wahren Welt? Die Chinesen wußten es, und die Märchen wissen es noch. Aber von den Chinesen wissen die Klugen nur, daß sie einen Zopf tragen oder trugen, daß sie Porzellan und Pulver gemacht haben und daß sie Opium rauchen. Und von den Märchen wissen sie, daß sie für Kinder sind. Sie selbst leben in Zeitungen, über oder unter dem Strich, in Kinos und am Radio. Lemuren auf einem sinkenden Kontinent, und es wird keinen Berg Ararat mehr für sie geben.«

»Aber wenn man so denkt, Herr Doktor«, sagte Jons, »kann man dann leben und arbeiten?«

»Gerade dann, Jeromin«, erwiderte Lawrenz, »und eigentlich nur dann. Der Mensch, der in der Karriere lebt, im Gewissen, im Verbürgten, er wird nur gelebt. Die Karriere lebt ihn. Erst in der Resignation lebt man. Ihr geht die Erkenntnis voraus. Sie zerstört die Trugbilder, und sie gibt die wahre Tapferkeit. Die ohne Orden und ohne Rausch. Der Mann, der auf dem sinkenden Schiff bleibt, weil es seine Pflicht ist. Lassen Sie die anderen von Fortschritt und Kultur reden. Sie aber sollen ein fleißiges, sauberes und tapferes Leben führen! Ihr Fortschritt ist eine bessere Diagnose, eine bessere Operation, ein immer liebevolleres Herz. Ihre Kultur ist, daß Sie die Form Ihres Vaters erfüllen, Ihres Geschlechtes. Panzerkreuzer und Tanks sind weder Fortschritt noch Kultur. Sie sind Lemurenträume unter einem wechselnden Mond. Einmal gab es Dinosaurier, heute gibt es Tanks. Aber das Herz eines Mannes und eines Arztes ist auch heute nicht mehr als das Herz Davids, der die Harfe schlug, oder das Mose, als er auf dem Berge Nebo stand.«

»Aber die jungen Menschen, Herr Doktor? Die Arbeitslosen, die Kriegsgefangenen, die die Niederlage enterbt hat?«

»Wer ist enterbt?« fragte Lawrenz und beugte sich in seinem Sessel vor. »Wer ist arbeitslos? Daß die Sprache doch ein so gehorsames Werkzeug unserer Irrtümer ist! Haben Sie jemals einen Menschen gesehen, den Gott enterbt hätte? Ein Vater, eine Mutter kann enterben, und auch sie nur Geld und Besitz. Das Blut schon nicht mehr. Aber Gott enterbt nicht. Nicht einmal die Ungläubigen. Er zieht uns nicht die Erde unter den Füßen fort, das Licht der Sonne, das stille Bild der Blumen. Und wenn er uns an Krücken gehen und erblinden läßt, dann gibt er uns immer noch die Kraft zur Schöpfung einer neuen Welt. In unserem Geiste.

Wenn wir ein Vermögen verlieren, sagen wir, wir seien enterbt. Die Zeitungen und die Zeitungsherzen sagen es. Aber wenn wir die Liebe aus dem Herzen verlieren, sagen sie, wir hätten Erfolg gehabt und seien Männer der Tat.

Und wer ist arbeitslos, Jeromin? Es gibt Zeiten mit zu vielen Händen und zu wenigen Herzen. Herzlose Zeiten, aber nicht arbeitslose. Wenn eine Zeit krank ist und nicht für alle Hände Arbeit hat, dann spricht sie eine stille Mahnung aus, die Mahnung, mit den Herzen zu arbeiten statt mit den Händen. Und ich habe noch keine Zeit gekannt, die nicht für alle Herzen Arbeit gehabt hätte.

Auch meinen sie das gar nicht, wenn sie ›arbeitslos‹ sagen. Sie meinen geldlos, lohnlos. Arbeit ist für uns zu Geld geworden, und das ist eine prostituierte Arbeit, so wie Liebe zu Geld werden kann. Wenig braucht der Mensch, Jeromin, und so war es ihm bestimmt. Kein Palast und kein Auto war ihm bestimmt, sondern ein niedriges Dach über dem Kopf, ein Kleid gegen die Kälte, ein Mahl gegen den Hunger. Jesaias hatte nicht mehr, aber noch heute tönt der Donner aus seinem Wort. Kommen sie zu euch, nach Sowirog, die Arbeitslosen, und sagen: ›Laßt uns euren Acker umgraben, denn uns verlangt nach Arbeit‹? Kommen sie in die Klinik, um den Armen die Füße zu waschen? Gehen sie zu den Kindern und sagen: ›Hört zu, ich will euch ein Märchen erzählen oder eure Aufgaben zu morgen mit euch machen‹? Sie sehen auf eure Hand, und wenn in der Hand etwas liegt, dann werden sie arbeiten. So wie das Straßenmädchen auf die Hand blickt, wieviel in ihr liegt.

Ohne Götter, ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Arbeit. Das ist das Lied der neuen Zeit. Aber es ist ein altes Lied, Jeromin. Schon Hiob sang es und die Juden an den Ufern Babylons. Es ist nicht ein Lied der alten Zeiten, sondern der alten Herzen. Keine Zeit ist ohne Gott, ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Arbeit. Nur die Herzen sind es, und sie sind es meistens, wenn ihnen etwas zerbrochen ist, was sie zu Göttern gemacht haben. Das sogenannte Vaterland, oder die sogenannte Ehre, oder die sogenannten Ideale. Aber haben Sie gesehen, daß ein Vaterland zerbricht? Die Macht und die Grenzen eines Vaterlandes können zerbrechen, und dann ist es meistens ein Zeichen, daß es eine falsche Macht und falsche Grenzen waren. Daß das Vaterland neu erfüllt werden muß, die zerbrochene Macht und die zerbrochenen Grenzen. Nicht mit neuen Panzerkreuzern, sondern mit neuen Herzen.

Aber sehen Sie sich Ihre Kommilitonen an, mit Mensuren und Fackelzügen! Sie haben die Schrift gelesen an der weißen Wand, das Menetekel, aber sie hängen die alten Bilder darüber und stellen die Steine zur neuen Partie auf. Und bis sie anfängt, klagen sie, daß sie keine Arbeit und keine Zukunft haben.

Wer aber gibt ihnen ein Beispiel? Wer streckt ihnen die Hand hin? Ein Gestrauchelter braucht keine Vorwürfe, sondern eine Hand. Und gestrauchelt sind sie, weil ihre Erzieher strauchelten. Ihre Lehrer, ihre Pfarrer, ihre Vorgesetzten, eben ihre Väter. Und hinter ihren Vätern der Staat, und hinter dem Staat das Abendland. Wer gibt ein Beispiel, Jeromin? Unter den Armen sind einige, unter den Frommen sind einige. Ihr Vater war ein Beispiel, denn er war ein leuchtender Mensch, am Meiler wie in seiner Kompanie. Der Landrat wird wohl über ihn gelächelt haben, und unsere Professoren würden dasselbe tun, weil sie meinen, daß sie zum Leuchten bestellt seien. Und die Zeitungsschreiber würden über ihn lächeln und beweisen, daß es ein falsches Leuchten gewesen sei, zu demütig, zu altmodisch, zu östlich, eben nicht zeitgemäß. Aber Sie haben nicht gelächelt, Jeromin, als er das Alte Testament vor Ihnen aufschlug, oder die Schönheit seines armen, tapferen Lebens, oder als er aus dem Dorf ging, und er war schon seines Todes gewiß.

Und dasselbe sollen Sie werden, Jeromin, und das war es, was ich gedacht habe, als ich Sie zum erstenmal sah, mit Eisen unter den Absätzen und mit Hunger in den Augen. Sie könnten wahrscheinlich ein großer Arzt werden, das weiß ich heute schon. Eine ›Kapazität‹, wie es heute heißt. Aber ich hoffe, daß Sie nur ein kleiner Arzt werden, wie ich einer geworden bin. Ein kleiner Chirurg, ein kleiner Internist und ein kleiner Geburtshelfer. Und einer, bei dem die Menschen gern sterben, wenn ich ihnen sage, daß gestorben werden muß. In den großen Kliniken sterben sie nicht gern, Jeromin. Es ist da ein bißchen Massenbetrieb, vom Chefarzt bis zur jüngsten Schwester. Exitus-Betriebsgenossenschaft. Ich sehe mir immer die Totenkammern an, wenn ich in ein solches ›Institut‹ komme. Totenkammern und Polikliniken sind Waagschalen unserer Wissenschaft, Jeromin! Und Amtsärzte! Diese drei! Ich werde Sie besuchen, Jeromin, wenn Sie Ihr Schild in Sowirog angemacht haben. Ich werde mir ansehen, wie die armen Leute hereinkommen und wie sie wieder hinausgehen. Mehr brauche ich nicht zu wissen. Ein Arzt ist eine Brücke, Jeromin. Alle Wissenschaften sind Brücken, aber die ärztliche ist die gebrechlichste. Sie führt zum Lächeln oder zur Verzweiflung. Das heißt, sie führt zu Gott oder zum Teufel.«

Er trank sein Glas leer und behielt es noch eine Weile in der Hand. »Wir denken zuviel, Jeromin«, sagte er mit seinem schönen, traurigen Lächeln. »Auch auf uns liegt der Fluch der Zeit. Wir sind nicht unverwundbar ...«

Hier also, unter dem Bild der Frau mit dem bunten Vogel auf ihrer Hand, und in der ärmlichen Klinik im Armenviertel erwarb Jons Tag für Tag dasjenige, worauf bei den Übungen Professoren und Studenten mit Überraschung und Neid blickten. Nicht nur das sogenannte ärztliche Rüstzeug, sondern das geheimnisvolle Gefühl in Augen und Händen, mit dem er einen kranken Körper sich entkleiden und offenbaren sah. Und er gewann dort auch das Kostbarere: die immer wache und fast fromme Neugier des Herzens vor jeder Veränderung der Natur. Die Bewahrung vor der abstumpfenden Macht der Wiederholung, der Gewohnheit. Und die Bewahrung vor dem Hochmut des Gesellen, der sich ein Meister zu sein dünkt. Bei Lawrenz gab es keine Meisterschaft. Es gab nur Dienst bei ihm, und aller Dienst war unvollkommen. War gehorsam und voller Hingabe, aber doch unvollkommen. Stückwerk, das man im Laufe eines langen Lebens zusammensetzen konnte, aber es wurde nie das Ganze daraus. Es blieb immer »von gestern her«, wie es im Buche Hiob stand.

Dort, unter den stillen Schwestern, die wie sanfte und frohe Abgeschiedene von Bett zu Bett glitten, lernte Jons, was sich in den großen Hörsälen und Kliniken nur unvollkommen lernen ließ: Diagnosen stellen, operieren und an den weißen Betten sitzen. Er lernte es unter Irrtümern und Enttäuschungen und Verzagtheit, aber er lernte es. Die stillen Augen des Arztes sahen ihm zu, immer geduldig, immer unbestechlich, immer tröstlich. Und wenn etwas mißlang, war er immer da, das Mißlungene zu heilen, und immer war die Hand einer der Schwestern da, die leise über seinen weißen Mantel glitt, wortlos, aber mit einem zarten Trost erfüllt. Er konnte lange Zeit ihre Namen nicht unterscheiden und behalten, altertümliche und fromme lateinische Namen, Maxima oder Perpetua, und er konnte auch ihre Gesichter lange nicht unterscheiden, weil sie alle auf gleiche Weise aus dem Besonderen zu einem Allgemeinen geformt worden waren. Durch denselben Glauben, dieselbe Tätigkeit, dieselbe Hingabe und Liebe. Zu sanften, stillen, fast schattenhaften Gesichtern, in denen der Mund entsagt hatte, und in denen nur die Augen den Glanz des Lebens bewahrt und vertieft hatten. Den Glanz eines dienenden Lebens, das sich hingab, entäußerte und verströmte, weil Christus oder die Jungfrau es so wollten.

Dort saß nun Jons an den schmalen Betten und blickte in die blassen und verhärmten Gesichter der Frauen oder Kinder, und nachdem das Messer das seinige getan hatte, versuchte er nun, mit dem Herzen zu heilen, was das Messer zerschnitten hatte. Er blickte auf die blutlosen Hände der Frauen, deren Finger sich oft bewegten, als zählten sie die Pfennige zusammen, die nun verloren waren in den Wochen der Krankheit oder verlorengehen würden, da der Körper nicht mehr leisten würde, was er bis dahin geleistet hatte, ein müder, erschöpfter und freudeleerer Körper. Und er begann, von seinem Dorfe zu erzählen, dem armen Dorfe Sowirog an den östlichen Grenzen des Reiches, von den Frauen und Kindern, die jahrhundertelang unter der Fron gelebt hatten, gebeugt und von den großen Katastrophen der Geschichte geschlagen, und doch ungebrochen und einer kleinen Zukunft immer gewiß. Von seinem Vater, der die Kohle gebrannt hatte; von Kiewitt und seinem alten, fahlen Pferd; von Stilling, von Balk, von Jumbo, und von der ganzen beschränkten und doch großen Welt des Dorfes, wo die Mütter das Los aller Mütter trugen, das schwere, immer gleichmäßige, immer schmerzenvolle und doch so große Los: das Dorf, das Leben, ja die Welt zu erhalten und trotz Armut und Schmerzen doch mit einem Lächeln zu sterben, weil sie wußten, daß mit ihrem Tod nicht mehr dahinging als ein zerbrechliches Glied einer unzerbrechlichen Kette.

Sie hörten ihm gerne zu. Aus seinen von Arbeit und Entbehrung ermüdeten Augen konnte soviel Trost ausgehen, und sie fühlten, daß er trotz Studium und Kunst einer der Ihrigen war. Einer, dem es gelungen war, aus Dumpfheit und Bedrückung aufzustehen, durch die Kraft seines Herzens, und der das Erworbene und Erlernte nicht an die Reichen wendete, um selbst reich zu werden, sondern der es für sie erworben hatte. Und am tiefsten verband es sie mit ihm, daß er zurückgehen wollte in dieses arme Dorf hinter dem Monde, um zu helfen und zu heilen, in einer Welt, in der ihre eigenen Söhne und Töchter an nichts als an sich dachten, um den anderen zu entreißen, was jene besaßen und diese sich ersehnten: Geld und Kleider und was sie den Glanz des Lebens nannten.

Nur einmal sprach Lawrenz mit Jons von seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Rasse. Er stand vor Jumbos Büchern und blätterte in einem der schmalen Bände, die das Werk des jungen Hofmannsthal enthielten. »Sehen Sie, Jeromin«, sagte er und ließ den Kneifer an der schwarzen Schnur herunterfallen, »das ist nur eines der Beispiele, an denen sich ein ganzes Gesetz ablesen läßt. Der Weg eines heimatlosen Volkes, das unter einer Verheißung und unter einem Fluch steht. Die einen retten sich in die Schönheit und die anderen in die Macht. Und ihr Fluch ist, daß sie fast alle Macht in Gold verwandeln. Auch die Macht des Geistes. Es ist ein entscheidender Augenblick in der Geschichte des Abendlandes, in dem Geist zum erstenmal in Gold verwandelt wurde. Das heißt, in dem er verkauft wird und also auch gekauft werden kann. Die Propheten kannten das nicht, und Salomon nahm kein Geld für seine Urteile. Aber die jüdischen Rechtsanwälte heute tun das um so mehr. Die anderen tun das auch, aber bei diesen fällt es mehr auf, weil sie klüger sind. Und auch bedenkenloser. Und so ist es wohl auch bei vielen Ärzten und Bankleuten und Zeitungsmännern. Haben Sie einmal darüber nachgedacht, Jeromin?«

Nein, Jons hatte das nicht getan. Studenten und Professoren waren ihm fremd geblieben, außer ihrer Arbeit, und in Sowirog hatte es nur einen Juden gegeben, einen alten Hausierer mit weißen Locken, der zweimal im Jahr von Haus zu Haus gegangen war, um Bänder, Ringe, Messer und mitunter eine Uhr zu verkaufen. Und da er ehrlicher verkaufte als der Gastwirt Czwallinna und er immer eine Stunde beim Vater am Meiler gesessen hatte, der nicht müde wurde, ihn nach den Menschen und Geschehnissen des Alten Testaments zu fragen, so hatte Jons nur eine stille Erinnerung an ihn, als an etwas Seltenes und leise Fremdartiges, und wenn manches ihn zum Lächeln hatte bewegen wollen, so zeigten des Vaters ernste Augen doch an, daß das nicht passend sei, und immer hatte Jons etwas Besonderes aus dem Wunderkasten bekommen, ein heimliches Geschenk, und der alte Hirsch hatte ihm die Hand auf das Haar gelegt und gesagt: »Achte und ehre ihn, junger Sohn, denn er ist mehr als das ganze Dorf vor des Herrn Zebaoth Augen.«

Nein, er hatte nicht darüber nachgedacht. Er hatte ab und zu Roheit und Niedrigkeit gegen die jüdischen Studenten gesehen, und meistens von Mitgliedern der farbentragenden Verbindungen, aber er hatte es gesehen wie so vieles andere Rohe und Niedrige, außerhalb seiner Welt, und er hatte nicht Zeit gehabt, sich darum zu kümmern. Auch nahm der Staat sich der so Bedrängten mehr als früher an, und damit schien es Jons genug zu sein.

»Man muß einmal darüber nachdenken, Jeromin«, fuhr Lawrenz fort und ließ sich in die Ecke des alten Sofas sinken. »Nicht um unsretwillen, sondern weil es das ganze Volk angeht und darüber hinaus vielleicht noch mehr. Ich bin nur ein Mischling, wie es so heißt, und wie alles ›so Heißende‹ ist das nicht wahr. Ich glaube, daß ich nur ihr Blut habe und nicht seines. Aber vielleicht irre ich mich auch.

Gleichviel, aber über diese Dinge habe ich viel nachgedacht. Sie begegnen mir bei Krankenvisiten, bei Kongressen, in den Zeitungen, auf der Straße. Und ich habe das Gefühl, daß sie schärfer werden, von Tag zu Tag, ja, daß sie bedrohlich werden. Kranke Menschen sind reizbar, kranke Völker noch mehr. Enttäuschungen, Leiden, Niederlagen lädt man gern auf andere Schultern. Und die Frage ist, ob es zu Recht geschieht oder zu Unrecht.

›Odium generis humani‹ ... ein Gegenstand des Hasses für das Menschengeschlecht: so hat Tacitus uns genannt, schon vor zweitausend Jahren. Und es muß seine Gründe haben. Tausendjährige Urteile sind nie grundlos. Ist Ihnen aufgefallen, daß wir klug sind, Jeromin?«

Ja, das war Jons natürlich aufgefallen.

»Ist Ihnen auch aufgefallen, daß wir keine Phantasie haben?«

Dieses konnte Jons nun schon nicht mehr beantworten.

»Und doch ist es so«, sagte Lawrenz. »Die sogenannte communio aeterna zwischen Vernunft und Phantasie, die ewige Verbindung, sie ist bei uns gestört oder gefährdet, sie ist nicht ewig für uns. So fleißig, so ordentlich, so gewissenhaft Sie sind, Jeromin, doch sind Sie im Reich der Phantasie ebenso zu Hause wie in dem der Vernunft. Von Ihrem Vater, Ihrem Großvater, Ihrem Dorf ganz zu schweigen. Sie können Ihr Leben aus ganz anderen Wurzeln speisen als ich, und aus diesen anderen Wurzeln wachsen auch andere Früchte.

Sie schütteln den Kopf, aber es ist so, und nur Ihre Zuneigung zu mir läßt Sie das übersehen. Wenn statt dieser Zuneigung Abneigung da wäre, würden Sie es sehr scharf sehen.

Wir haben auch keine Beziehung zur Natur, Jeromin. Unsre Vorfahren wenigstens hatten sie nicht. Im Alten Testament werden Sie vergeblich danach suchen. Meine Mutter hatte sie, viele haben sie heute, aber sie ist erworben, sie ist künstlich.

Wir haben Verstand, wir haben eine ungeheure Lebenskraft, trotz Pogromen und Massenmorden, aber wir haben keine Phantasie. Das ist es. Wir haben ein gewaltiges Buch geschaffen und eine gewaltige Religion, und nun ist unsere Schöpferkraft erschöpft, wie die Sprache so schön sagt. Wir sind gute Mathematiker, gute Schachspieler, gute Kaufleute, Rechtsanwälte, Ärzte, Schauspieler. Aber wir sind nicht mehr. Und weil wir alle diese Dinge so gut können, werden wir gehaßt. Nicht allein deshalb, aber für die Primitiven genügt es. Und manchmal selbst für die, die gar nicht primitiv waren. Für Richard Wagner zum Beispiel.

Ich sehe die Dinge weitertreiben, Jeromin. Nach einer Revolution treiben sie besonders schnell. Und ich habe es Ihnen eigentlich nur gesagt, damit Sie Ihren Umgang mit mir einstellen können, wenn er Ihnen ›belastend‹ erscheint.«

Er schwieg und blickte den Wolken seiner schwarzen Zigarre nach, aber Jons sah, daß seine Hände fast unmerklich zitterten und daß er mehr getan hatte, als ein paar Bemerkungen über Rassenunterschiede zu machen. Jons blickte über Jumbos Bücher hin, weil es ihm schwer war, das leidbeschattete Gesicht anzusehen, und plötzlich, während seine Augen an dem Kinderpferd haften blieben, war es ihm, als sei ein Teil seines Vaters in dieser schweigenden Gestalt wieder auferstanden, alles Gütige, Stille und Fromme des einsamen Mannes, des Edelmannes, wie Herr von Balk ihn genannt hatte. Der von den Klugen verspottet und verlacht wurde, aber der für das »Reich Gottes« wahrscheinlich mehr getan hatte als die meisten ihrer Bücher und Zeitungen, die den Fortschritt predigten.

Aber, wie unter den Augen des Vaters, war es ihm nicht möglich zu sagen, was in seinem Herzen war, unter den Augen dieses Mannes, die auf keine Antwort zu warten schienen, aber von dem er wußte, daß sein Herz darauf wartete.

»Ich werde immer« sagte er endlich leise, »auf alles, was Sie sagen und tun, so sehen, als ob mein Vater es gesagt oder getan hätte ...«

Der Doktor nickte nur, ohne ihn anzusehen, und nach einer Weile, in der nichts gesprochen wurde, stand er auf, ließ sich in den abgetragenen Mantel helfen, und gab Jons verlegen die Hand. »Noch etwas habe ich vergessen«, sagte er mit einem Lächeln, »daß zuviel geredet wird in unserer Rasse ... Sie müssen es hinnehmen wie das andere.«


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