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XIII

Zwischen Weihnachten und Neujahr wurde Jons am späten Abend zur Gräfin gerufen.

Die Gräfin hatte einen der riesigen Besitze der Landschaft, der sich wie ein kleines Fürstentum über Felder, Forste und Seen erstreckte und wie ein sagenhafter Rest aus dunklen Kolonialzeiten in die eingeengte Gegenwart hineinragte. Es hieß, daß ihr Geschlecht pruzzischen Ursprungs sei, weit über die Jahrhunderte zurückreichend, in denen der Deutsche Ritterorden unter dem Zeichen der himmlischen Jungfrau mit Feuer und Schwert ein Volk ausgerottet hatte, dessen Götter Bernsteinkronen getragen hatten und das nicht davon zu überzeugen gewesen war, daß eine Dornenkrone göttlicher sei als eine aus dem goldenen Harz versunkener Wälder. Auch der Name deutete darauf hin, daß Kalns in der verschollenen Ursprache soviel wie Berg bedeutete.

Und wenn auch der Lauf der Jahrhunderte diesen Ursprung ausgelöscht oder doch ausgeglichen haben mochte, so war an diesem Geschlecht doch immer etwas Besonderes haften geblieben, etwas, das es von anderen Geschlechtern abhob und abgrenzte, sei es durch eine besondere Unbeugsamkeit seiner Träger in Fragen des Rechtes oder der Sitte, durch eine besondere Eigentümlichkeit oder Unabhängigkeit seiner Lebensformen, oder nur durch eine auffällige Schwermut ihrer Seele, die wie ein uralter Schatten über den aufgehellten Wegen der Zeit zu liegen schien.

Der Graf war aus dem Großen Krieg nicht heimgekehrt, und die Einzelheiten seines Todes waren von der Legende einer kühnen und phantastischen reiterlichen Unternehmung zugedeckt worden. Die Witwe, aus demselben Geschlecht stammend, hatte das riesige Erbe angetreten, hatte es mit fester Hand durch die Zeiten der Revolution geführt und galt bei ihren Standesgenossen als eine sehr achtenswerte, aber bedenkliche Erscheinung, da die ungeschriebenen Gesetze des östlichen Adels nicht diejenige unverletzliche und geheiligte Macht über sie besaßen, die ihnen sonst schweigend zugebilligt wurde, und man sich bei ihr niemals in Fragen der Weltanschauung, der Politik oder der sozialen Haltung auf eine vorauszuwissende Meinung verlassen konnte. Es hieß, daß sie mit Schärfe über den letzten Kaiser urteile und mit einem kühlen Spott über die Memoiren aller Generäle und Admiräle, die seit dem verlorenen Kriege erschienen waren, und die sie »Kesselflicker-Memoiren« nannte. Alle ihre Leute hingen ihr wie einer ungekrönten Königin an, und es wurde erzählt, daß zu Beginn der Revolution ein städtischer Streikausschuß, der das Schloß lärmend betreten hatte, von ihren Hausmädchen mit Holzpantoffeln in eine schmähliche Flucht gejagt worden war.

Sie hatte gefragt, ob sie Jons im geschlossenen Schlitten holen lassen solle, aber er hatte gedankt und nur gefragt, worum es sich handle. Dazu bitte sie um seinen Besuch, hatte sie trocken erwidert, aber das könne sie ihm verraten, daß ihr Gesicht schmerze und daß sie im Munde einen Geschmack wie von einer Pestbeule habe. Das genüge vorläufig, hatte Jons lächelnd gesagt, und er werde gleich abfahren.

Die Wälder waren tief verschneit, aber aus den Schlägen war viel Holz gerückt worden, und die Bahn war glatt und eben. Die Sterne funkelten, und die Füchse bellten in den Dickungen. Der helle Mond hing weiß und tot über der Erde, und Jons, in den schweren Wolfspelz gewickelt, den der Herr von Balk ihm geschenkt hatte, hielt die Leine lose in der Hand, rauchte seine kurze Pfeife und dachte an die Kätnersfrau hinter dem Moor, die ihr siebentes Kind erwartete und mit der es nicht zum besten bestellt war.

Er wurde in einen großen, düsteren Bibliotheksraum geführt, und dort, vor dem Kamin, saß die Gräfin. Sie war groß und hager, von einer strengen, abweisenden Schönheit, und ihre dunklen Augen musterten ihn schweigend vom Kopf bis zu den Füßen, bis er ihren Platz erreicht hatte.

Sie deutete schweigend auf den Ledersessel, der ihr gegenüberstand, goß aus einer Steingutflasche eine helle Flüssigkeit in zwei Gläser, schob ihm Zigarren und Zigaretten hin und fuhr dann fort, ihn zu betrachten. Sie hatte graue Strähnen in ihrem dunklen Haar, eine breite, klare Stirn, und ihre furchtlosen Augen blickten auf ihn wie auf einen Gegenstand, den man zum Kauf in ihr Zimmer getragen hatte.

Wenn die Frau Gräfin ihn zur Genüge betrachtet hätte, sagte Jons nach einer Weile höflich, würde er gern wissen, worüber sie zu klagen habe.

Sie nickte ihm zu, als habe sie wohl gehört, aber als sei das Gehörte nicht so wichtig oder habe doch noch viel Zeit, und sagte dann: »Das sind Sie also ...«

Daran sei kein Zweifel, erwiderte Jons nun lächelnd.

»Ich habe Ihren Vater gekannt«, fuhr sie fort, ohne sein Lächeln zu erwidern. »Ihn und auch Ihren Großvater. Ich war immer überzeugt, daß sie aus unserem Blut waren, und bei Ihnen wird es mir noch klarer. Wir haben andere Götter, das ist es. Und auch Schulen, Universitäten und Kirchen ändern nichts daran. Kein Blut läßt sich ändern. Wahrscheinlich wissen Sie nichts davon, weil Sie zuviel arbeiten. Sie haben nicht Zeit genug, an Ihr Blut zu denken.«

Er habe an anderer Leute Blut mehr zu denken als an sein eigenes, erwiderte Jons.

Sie nickte wieder und sah in das Feuer. »Das war bei Ihrem Vater schon so«, sagte sie nach einer Weile, »und das ist auch recht so. Der Landrat denkt an seine Karriere, und Lustig denkt an seine Rechnungen, und die Standesgenossen denken an ›Deutschland über alles, und im Unglück nun erst recht!‹ Daß doch verlorene Kriege immer von schlechten Versen besungen werden müssen ... ja, und nun habe ich Sie hergebeten, weil ich einen schlechten Geschmack im Munde habe und auch Schmerzen. Und weil es nicht nötig ist, daß der schlechte Geschmack der Zeit noch durch etwas verstärkt wird, was aus dem eigenen Körper kommt.«

»Erzählen Sie nun, Frau Gräfin«, sagte Jons und sah sie aufmerksam an.

Es war kein Zweifel, daß es eine Kieferhöhleneiterung war, und Jons riet ihr, in die Hauptstadt zu fahren und es von einem Spezialisten in Ordnung bringen zu lassen. Er sei manches, aber er sei doch nicht der liebe Gott.

Sie habe nie gehört, daß die Spezialisten Götter seien, erwiderte sie. Außer wenn es göttlich sei, ein unschuldiges Kind mit einer Mittelohrentzündung in drei Tagen unter die Erde zu bringen und dafür ein paar tausend Mark einzustreichen.

Das erste könne bei den besten Ärzten vorkommen, sagte Jons, das zweite sei nun anscheinend das Kleid der Wissenschaft. Aber wenn sie darauf bestehe, wolle er es versuchen. Er nahm den Spiegel und das Kokainfläschchen aus der Tasche und saugte nach einer Weile mit dem Gummiball den Eiter aus der Kieferhöhle. Er betrachtete das kleine Glasrohr mit der gelblichen Flüssigkeit, schrieb zwei Namen und die Dosierung der Eleudron-Tabletten auf ein Rezept und bat sie dann, am nächsten Vormittag zu ihm zu kommen. Er müsse Röntgenbilder haben und wahrscheinlich die beiden Zähne ziehen. Er hoffe dann, daß es ohne Eröffnung der Kieferhöhle abgehen werde, aber er mache sie darauf aufmerksam, daß er erst sechsmal in seinem Leben einen Zahn extrahiert habe.

Sie winkte nur mit der Hand. »Ich glaube, daß Sie alles können«, sagte sie einfach. »Wenigstens was die Medizin betrifft, und ich bin auch nicht feige. Nicht mehr jedenfalls, als die Natur uns davon eingepflanzt hat.«

Aber sie bat ihn, noch etwas zu bleiben, wenn er nicht müde sei. Winternächte seien besonders lang, auch ohne Schmerzen, und sie möchte wohl gerne wissen, was ihre Vorfahren vor tausend Jahren in ihren Holzhäusern in solchen Nächten gedacht hätten.

Wahrscheinlich hätten sie geschlafen, erwiderte Jons, und den Medizinmännern überlassen zu denken oder die Schlafenden vor bösen Geistern zu bewahren.

»Vielleicht ...«, sagte sie. »Es ist eine alte Zunft, der Sie angehören, Jeromin, nur daß sie früher dichter bei den Göttern stand. Aber einige werden wohl trotzdem gedacht haben, weil keine Zeit ihre Kinder so bindet, daß sie nur die Gedanken der Götter denken und keine anderen. Das waren dann die, die auch ihre Götter weitergedacht haben, und die es von den Menschenopfern bis zu Brot und Wein gebracht haben ... Manchmal, in solchen Nächten, ist es mir, als könnte ich die große Linie sehen, die durch die Geschichte der Menschheit läuft, und als falle alles Gerede wie Zunder von der alten Weltenesche ab. Und als sei Perkunos gar nicht weniger als Buddha oder Christus, nur primitiver, wie die Menschen eben primitiver waren. Und dies alles, Bücher und Felder und Besitz und sogenannte Weltanschauungen, es erscheint mir dann alles wie Tand und Puppenspiele, und dahinter sehe ich die ernsten Augen der Ewigkeit, die schweigend zusieht, ob wir den kleinen Schritt unseres Lebens an der alten führenden Hand auch richtig und ordentlich machen, und ob wir dann so still abtreten, wie es sich für Kinder gehört.«

»Sie glauben nicht sehr an den Fortschritt, Frau Gräfin?«

Sie entzündete das Streichholz für eine neue Zigarette und sah ihn durch die Flamme hindurch an. »Es ist wie mit Kindern, Jeromin«, sagte sie. »Zuerst sind sie klein und unschuldig und sehr zu lieben. Und dann kommen sie in die Jahre, in denen sie unsympathisch werden, ein bißchen frech und ein bißchen widerspenstig, bis sie uns schließlich als ausrangiert betrachten, so wie ausgestopfte und vermottete Vögel. Und wenn sie sich beruhigt haben, kehren sie gehorsam an die alte Krippe zurück und essen denselben Hafer wie wir. Er wird ihnen nur ein bißchen anders eingeschüttet, und ihr Halfterriemen ist ein bißchen anders, und vielleicht haben sie auch elektrisches Licht in ihren Ställen. Aber das ist so ziemlich alles. Was fortschreitet, ist der Verstand, und was nicht fortschreitet, ist das Herz, und es kommt nur darauf an, was man für wichtiger hält auf dieser Erde.«

»Nur mit Ihrer Kieferhöhle würde es vor tausend Jahren schlechter bestellt gewesen sein, Frau Gräfin«, sagte Jons.

Aber sie schüttelte den Kopf. »Meine Kinderfrau zog sich jeden Zahn mit einem Bindfaden«, erwiderte sie. »Und wenn es schlimm war, band sie ihn an eine Türklinke. Was wir besiegen können, ist nicht der Zahn, sondern der Schmerz, und auch das ist natürlich eine Art von Fortschritt. Nur die Schmerzen der Seele hat noch niemand besiegt. Ich weiß noch nicht, ob Sie es schon wissen, aber Ihr Vater hat es gewußt: was für eine ungeheure, stille Tapferkeit dazu gehört, solch ein Menschenleben zu Ende zu leben. Nicht eines, das schon Trost darin findet, daß die Sonne am nächsten Morgen aufgehen wird, oder daß der Reichstag zusammentritt, oder daß jemand die Atomtheorie entwickelt. Sondern eines, das zusehen muß, wie junge Menschen singend in den Krieg ziehen, und keinen von ihnen habe ich noch singend zum Zahnarzt gehen sehen. Oder eines, das zusehen muß, wie uneheliche Mütter am Pranger stehen müssen, und kein Diener Gottes bindet sie los. Oder eines, das einmal in die Zellen eines Zuchthauses gesehen hat, und nachdem die letzte Zellentür zugefallen ist, steckt sich der Wärter eine Zigarre an und spielt ein bißchen mit seinem kleinen Mädchen. Und auch solch eines nur, das in einer solchen Winternacht am Feuer sitzt und sich Gedanken macht, die nicht in den Zeitungen stehen.«

»Ja, mein Vater hat das sehr wohl gewußt«, sagte Jons leise.

»Und ich denke, daß auch Sie es einmal wissen werden, Jeromin. Ja, wahrscheinlich wissen Sie schon eine Menge davon. Und deshalb habe ich gerade Sie zu mir gebeten. Die Tapferen vertrauen sich nicht gern den Windbeuteln an. Und noch weniger denen, die man die deutschen Eichen nennt. Die sogar in den Fingerspitzen Mark haben.«

»Aber sind wir tapfer, Frau Gräfin?«

»Wer nichts weiß, Jeromin, außer ein bißchen Kinderwissen, und doch ruhig in die Zukunft hineingeht, der ist tapfer. Schon der nächste Morgen ist Zukunft, ja, die nächste Minute, eine verhangene, undurchdringliche, eisigkalte Zukunft. Was ist ein Schlachtfeld gegen diese Zukunft? Soldaten sind keine Helden, Jeromin, und Gläubige sind keine. Für sie ist Zukunft nur eine ausgeweitete Gegenwart. Sie wissen nichts von den letzten Rätseln. Aber unsereiner, der vom Weibe geboren ist, der mit der leisen Traurigkeit und dem großen Nichtwissen, der Unbestechliche, der nicht Geimpfte, der mit dem nackten Herzen, der in das große Grauen still hineingeht, der ist tapfer, Jeromin! Und das Merkwürdige ist, daß er gar nichts daraus macht. Er nimmt ein Wort aus der Sprache und erfüllt es mit seinem Sinn. So wie die Bibel alte Worte neu gefüllt hat. Aber die meisten reichen nur die Hülsen weiter, von Geschlecht zu Geschlecht. So wie sie heute das Wort ›Vaterland‹ weiterreichen, oder wie viele Bekenntnisse das Wort ›Liebe‹ weiterreichen, und Luther war doch mit Gift so gefüllt wie eine Kreuzotter.«

»Aber seine Gegner waren nicht weniger damit gefüllt, Frau Gräfin. Das ist mit den meisten jungen Religionen so. Sie sind zu unsicher. Und das ist wohl überall so, wo es sich um das Nichtzuwissende handelt. Bei Tatsachen ist es schon anders. Das Gefährlichste auf der Welt sind eben die Weltanschauungen. Nicht Krankheiten, Seuchen und Katastrophen.«

Sie nickte und sah wieder ins Feuer. »Es läßt schon nach, Jeromin«, sagte sie. »Ich wußte doch, daß Sie eine heilende Hand haben. Aber wie ist's mit dem Heimgekehrten? Werden Sie ihn heilen?«

»Nein, Frau Gräfin. Was zu heilen war durch Menschenhand, haben Kiewitt getan und das Kind. Und auch sie waren nichts als Mittler. Das andere kann die Natur heilen oder nicht, wie es ihr gefällt.«

»Ja, er hat bezahlt. Einer, der ins Grauen hineinging, und es verschlang ihn ... die Öde verschlang ihn ... und die ihn geschickt haben, sitzen auf den goldenen Stühlen ... und nun bis morgen, Jeromin. Sie müssen schlafen, denn Sie haben schwere Tage. Ich danke Ihnen, denn es war mir leicht, zu Ihnen zu sprechen. Ich habe sonst niemanden als das Feuer, und das Feuer ist unruhig!«

Jons zog die beiden Zähne, mit nicht ganz ruhiger Hand, aber er zog sie. Und nach einer Reihe von Spülungen war die Gefahr behoben.

»Ich könnte Ihnen nun tausend Mark anbieten, Jeromin«, sagte die Gräfin vor seinem Kamin, »oder auch zehntausend, wie die ›Souveräne‹ das tun. Ich bin so reich, daß es eben nicht mehr anständig ist. Aber ich möchte lieber, daß Sie sich etwas wünschen. Ich möchte Ihnen gern eine Freude machen, und ich weiß, daß Geld Ihnen so wenig ist, wie es Ihrem Vater war. Alte Geschlechter kennen noch kein Geld.«

Jons bedankte sich und bat, es sich überlegen zu dürfen. Mit den Wünschen sei es wie im Märchen, und das habe er von der Kinderzeit her noch sehr gut im Gedächtnis.

Aber dann fuhr er doch noch im Winter hinüber und sagte, daß er sich bedacht habe. Es sei ein sehr großer Wunsch, aber nicht eigentlich für ihn, sondern für das Dorf. Und sie könne ruhig nein sagen. Und wenn sie nein sage, so werde er sich ein Fernrohr wünschen, ein großes, vor dem sogar der Schleier der Andromeda sich enthülle, oder einen Steinbaukasten, denn den habe er sich sein Leben lang gewünscht und nie bekommen.

Sie lächelte auch jetzt nicht und wollte es nun also wissen.

Ja, ob sie dem Dorf eine Kirche schenken wolle. Eine aus Holz, aus dem Holz ihrer eigenen Wälder, und auch nicht größer als die alte. Sie wisse ja, was es mit der alten für eine Bewandtnis habe und daß mit ihr mehr versunken sei als nur ein Gebäude.

Die Gräfin war nun doch überrascht, und sie sah ihn lange an. »Sie müssen nicht meinen, daß ich an das Geld denke, Jeromin«, sagte sie. »Weshalb sollte ich nicht Kirchen bauen, statt Porzellan zu sammeln? Aber daß Sie es sind und daß Sie es als Arzt für Ihr Dorf wünschen ...«

»Gerade deshalb, Frau Gräfin. Oder sollte ich für Sowirog einen Lautsprecher wünschen?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Es ist nur so, Jeromin«, sagte sie, »daß man eine Kirche bauen kann, wie man will. Aber mit den Pfarrern kann man das nicht. Man muß sie fertig nehmen, und mit ihren Bauplätzen, von wo sie herkommen, ist es nicht so ganz einfach beschaffen. Das sind staatliche Bauplätze heute, Jeromin.«

»Der, an den ich denke, kommt von keinem staatlichen Bauplatz, Frau Gräfin. Andere würden sagen, daß er von Gottes Füßen kommt.«

»Das ist weit von hier, Jeromin«, sagte die Gräfin nachdenklich. »Vielleicht zu weit. Aber das Dorf Sowirog ist vielleicht noch so, daß es das vertragen kann. Auch der tote Pfarrer kam von Gottes Füßen. Das konnten Sie daran sehen, wie die anderen von ihm dachten. Außer dem, der ihm die Grabrede hielt. Alle Pfarrer sind mit Gottes Wort erfüllt, aber nicht alle mit Christi Liebe. Wir haben noch Hände genug, um Scheiterhaufen anzuzünden, Jeromin. Wir machen es nur nicht mehr mit Holz, wir machen es diskreter.«

»Niemand wird ihn verbrennen, Frau Gräfin. Kinder verbrennt man nicht.«

»Wissen Sie das so genau, Jeromin?«

Er erzählte ihr von Tobias, und sie hörte zu. »Was Sie an ihm lieben, Jeromin, ist, daß er aus einem anderen Zeitalter stammt. So wie wir beide. Wir wollen es also versuchen mit ihm, und mein Einfluß wird wohl ausreichen, um ihn fortzubekommen von dort. Wie es ausgehen wird, weiß ich nicht. Wer als Kind durch diese Welt geht, ist ebenso gefährdet wie Christus. Er ist dicht am Kreuz, und daran haben wir keinen Mangel. Und nun lassen Sie die alten Pläne hier und sprechen Sie noch nicht darüber.«

Sie kam bis zu seinem Schlitten herunter und sah zu, wie er sich in seine Pelzdecke wickelte. »Ein anderer würde sich ein Ultramikroskop gewünscht haben«, sagte sie nachdenklich. »Oder einen Achtzylinderwagen ... Sie werden es wohl nie zu etwas bringen, Jeromin. Wenigstens nicht zu dem, was die Leute ›etwas‹ nennen.«

»Nein, Frau Gräfin. Aber vielleicht zu dem, was wir ›viel‹ nennen. ›Viel‹ kann weniger als ›etwas‹ sein.«

Sie nickte ihm zu und sah ihm nach, wie er in die Dämmerung hineinfuhr. Schneewolken hingen am Himmel, und das weite Land sah wie gestorben aus.

Gleich nach der Schneeschmelze begannen sie mit dem Bau, und zu Füßen des Hügels, dicht über dem Ufer, ließ die Gräfin ein kleines Holzhaus für den Pfarrer bauen. »Wir wollen es vollständig machen, Jeromin«, sagte sie. »Auch Pfarrer müssen zu Hause sein. Schon vor ihrem Tode.«

Das Dorf war wie ein Ameisenhaufen. Die alte Zeit war wieder aufgestiegen aus Schutt und Brand, und noch einmal glaubten die Leute von Sowirog, daß Gott eine Nacht lang auf ihrem Ackerrain gesessen und über ihre Rohrdächer hingeblickt habe. »Du hast ihn gesehen, Jons«, sagten sie »und du hast ihn am Mantel festgehalten, bis er es versprochen hat.« Aber Jons schüttelte den Kopf. Er hatte ihn nicht gesehen. Er hatte nur das Dorf gesehen und ein bißchen von den Herzen der Armen. Und er hatte sich erinnert, daß jemand ihm gesagt hatte, er werde mehr sein müssen als ein Armenarzt.

Nur zwei von ihnen machten ernste Gesichter, Kiewitt und der Herr von Balk. Kiewitt kam von seinem Acker herüber, als sie die ersten Balken auf das alte Fundament legten, in seinem langschößigen Rock, den Stock in der Hand. Er stand auf dem Hügel, neben dem ›toten Pfarrer‹, und sah den Leuten zu. Er stand viele Stunden dort, und die Zimmerleute riefen ihm zu Anfang ein Scherzwort zu, aber unter seinen hellen, schweigenden Augen verstummten sie bald, und es würde ihnen lieber gewesen sein, er wäre gegangen. Erst als Jons, der über Land gewesen war, am Fuße des Hügels aus dem Wagen stieg und zu ihm heraufkam, drehte er sich um und schüttelte den Kopf. »Das habt ihr vergessen, Jons«, sagte er, »daß sie das gehörnte Tier aus dem See gezogen haben. Und daß niemand kaufen oder verkaufen wird, der nicht das Malzeichen an der Stirn oder den Händen hat. Und auch nicht bauen oder niederreißen ...«

»Kiewitt«, sagte Jons, »du sollst ihnen nicht die Freude nehmen. Für sie ist es, als ob Christus noch einmal auferstanden wäre.«

Kiewitt nickte. »Auferstehen wird es«, erwiderte er. »Aber weißt du, was es sein wird?«

Und dann ging er langsam wieder den Hügel hinunter, und der Seewind bewegte die Schöße seines langen Rockes.

Herr von Balk aber saß am Abend auf den geschnittenen Balken, die Hände mit dem Reitstock um die mageren Knie gefaltet, und blickte nachdenklich auf den wachsenden Bau. »Da hast du nun wieder eine Idee gehabt, Jons«, sagte er, »eine von diesen gefährlichen Sachen auf dieser Welt. Du hast nicht einen bösen Finger geschnitten oder einem Kätnerkind auf die Erde geholfen, sondern hast eine Idee gehabt. Keine von der Gerechtigkeit auf dem Acker, aber eine ähnliche. Du bist einen Schritt abseits gegangen von deinem Wege, und da hat die Idee dich überfallen. Sie stehen immer abseits vom Wege. Es ist nichts dagegen zu sagen. Weshalb soll der Eulenwinkel nicht wieder eine Kirche haben? Die erste war eine gestohlene, und die zweite ist eine geschenkte. Aber weißt du, daß ich ein komisches Gefühl zwischen den Schultern habe, Jons? Auf Patrouille hast du das manchmal, wenn du durch einen Wald reitest ...«

»Sie dürfen das nicht aussprechen, Herr von Balk«, sagte Jons leise. »Der Krieg hat nicht nur unsre Kirche genommen, sondern viele im Land. Und alle sind wieder aufgebaut worden. Wir sind doch nicht schlechter hier als anderswo.«

»Nein, nein, Jons, das ist es auch nicht. Mir ist nur so, als sollten wir nicht so weit in die Zukunft planen. Ich habe so ein unsicheres Gefühl in den Knien. Wie auf einer Eisfläche, die nicht recht hält. Wahrscheinlich bin ich nur alt, und das wird es sein. Alte Leute bauen keine Häuser mehr.«

»Für die Kinder bauen auch alte Leute, Herr von Balk, und Kinder denken immer, daß es für die Ewigkeit sei.«

»Möchtest du recht haben, Jons«, sagte Balk und stand seufzend auf. »Sonst pflegen ja auch nur Hirten das Zweite Gesicht zu haben. Kleine Leute wenigstens. Und von uns sagt man ja, daß wir große Leute sind, nicht wahr? Wenigstens von dir sagt man es, und auch mit Recht.«

Sie gingen langsam den Hügel hinunter, wo Balk das Pferd angebunden hatte. »Aber wie ist es mit den Fenstern, Jons?« fragte er, als er die Zügel ordnete, und das alte Lächeln erschien wieder um seinen schmalen Mund. »Das ist doch nun eigentlich meine Sache, was? Mit dem Kranich war es nichts, das war zu symbolisch und ist danebengegangen. Wie wäre es mit einem Eulenfenster? Das würde doch passen für das Dorf? Aber ich weiß nicht, ob einer der Heiligen eine Eule bei sich gehabt hat ...«

Jons wußte es auch nicht, aber er hielt es für möglich.

»Und noch eines würde gehen«, sagte Balk und beugte sich lächelnd aus dem Sattel herunter. »Wenn es nicht eine Eule, sondern ein Phönix wäre. Der aus der Asche aufsteigt, nicht wahr? Man kann ihm ja jedes beliebige Gesicht geben. Auch Vögel haben ihre Gesichter ...«

Und nach einem Jahr, zum Osterfest, weihten die Leute von Sowirog zum zweitenmal ihre Kirche ein. Sie war nicht prächtiger als die erste, ja, die alten Leute sagten, daß man nicht wissen könne, ob es nun die alte oder eine neue wäre. Wieder hing ein Kruzifix über dem Altar, und wieder leuchteten die bunten Fenster. Es waren die gleichen Heiligen, die ihre Hände hoben, nur unten stand wirklich kein Kranich, sondern ein glänzender Vogel hob sich aus einem Feuer auf, und Christean stand lange davor, auf seine Krücken gestützt, und fragte Jons leise, ob er nicht meine, daß es Ginas Gesicht sei. Aber Jons schüttelte den Kopf. Gina hatte eine schöne geschnitzte Kanzel geschenkt, und der Herr von Balk hatte mit zwinkernden Augen davorgestanden. »Wenn dein junger Tobias das nun wüßte«, sagte er, »wie all das schöne Geld dafür eingekommen ist ...«

»Er würde lächeln wie jetzt, Herr von Balk«, erwiderte Jons. »Wer so viel Liebe hat wie er, lächelt gern zu unseren Torheiten.«

Es waren nicht weniger Gäste da als beim erstenmal, aber es schien Jons, als hätten die Gesichter sich schneller verändert als die Zeit. Die Welt war noch weiter fortgerückt in diesen Jahren, und sie blickte mit noch kühleren Augen auf dieses dörfliche Schauspiel. Sie lächelte nicht, aber es erschien ihr doch wohl wie ein Kinderspiel. Alte Leute, alte Bräuche, alte Verse aus der Kinderzeit. Draußen aber wuchsen die Sorgen wie Unkraut. Hunger, Arbeitslosigkeit, Schulden, Streiks und das leise Grollen, das unter den Sesseln entlanglief und dessen Bedeutung sie wohl erkannten. Der Regierungspräsident sprach behutsam vom »Allmächtigen« und der Landrat noch behutsamer von den »Ewigen Mächten«.

Dann wurde Tobias in sein Amt eingeführt, und dann sprach er selbst. Immer noch stand er über dem Kanzelrand wie über einem verschütteten Graben, und seine Hände hielt er immer noch so wie damals. Aber die Leute von Sowirog wußten nun, daß sie den ersten fröhlichen Pfarrer hatten, denn sein Gesicht leuchtete. Er sprach über den Vers aus dem Brief an die Philipper: »Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorne ist.« Und die Männer und Frauen des Dorfes fühlten, daß dieser nicht ein Grübelnder und Leidender und Suchender war wie Agricola, sondern daß er ein Kind war, das gefunden hatte. Er sprach keine großen Worte, und diejenigen, die er sprach, hallten nicht von den Holzwänden wider wie die eines Mannes, der ein Echo suchte. Und sie fühlten, daß er nur für sie da sein würde, nicht für sich, seinen Glauben, seinen Ehrgeiz, sein Behagen. Auch er würde alles verschenken, aber er würde dem Geschenkten nicht nachsehen wie Agricola, ob Gott es auch annehme. Er würde nicht zürnen oder fluchen oder treiben, wie die Eiferer taten. Er würde still auf der Schwelle seiner Kirche sitzen, und wenn einer käme, der Herzeleid trug oder Armut oder Sünde, so würde er still beiseite rücken und lächelnd sagen: »Gott hat für uns beide Platz, und für dich wahrscheinlich mehr, denn du hast mehr zu tragen.«

Er reichte das Abendmahl, und als die Leute aus der Kirche traten und die Lerchen über den Feldern hörten, glänzten ihre Gesichter. Sie hatten vergessen, daß ein junger Pfarrer aus einer fremden Landschaft zu ihnen gesprochen hatte. Sie hatten gemeint, daß Christus zu ihnen gesprochen habe.

Der alte Oberkonsistorialrat, der nun nicht mehr im Amt war, hatte still neben dem Altar gesessen und kein Auge von Tobias gewendet. Nun stand er in der Sakristei, legte ihm beide Hände auf die Schultern und sagte: »Ich habe bei dem Toten gesessen, als er von Gott fortgegangen war, und bei dem Toten gestanden, als er wieder zurückgekehrt war zu ihm. Er war nicht schlechter darum, weil er seinen Glauben verloren hatte, und die Leute liebten ihn. Aber er war ihnen keine Stütze, denn sie mußten ihn stützen. Nun sehe ich, daß Gott es wieder gut mit ihnen meint. Ein Liebender ist eingekehrt, und ein Liebender ist mehr als ein Pfarrer.«

Die Gräfin aber, die neben Jons auf dem Hügel stand, sah zu dem Holzturm hinauf, in dem die Glocken schwangen, und sagte: »Er ist noch viel älter als wir, Jeromin. Er stammt aus der Zeit, in der das Wort nicht gedruckt, sondern gesprochen wurde. Ja, vielleicht sogar aus der, in der es gelebt wurde. Und das ist eine sehr alte Zeit, Jeromin ...«

Das Dorf gab den Gästen auch diesmal kein Festessen, aber Balk hatte sich ein Frühstück ausgedacht. »Für starke Seelen, Jons, und das sind sie doch alle, die aus der großen Stadt kommen.« So hatten sie die Tische vor das Jeromin-Haus gestellt wie zur Erntefeier, und es gab nur Krebse und geräucherten Fisch, Aale und Maränen. Dazu wurde aus großen Steinkrügen Wacholderschnaps eingeschenkt, den sie selbst gebrannt hatten. Es war ein dörfliches Mahl, und nach dem ersten lächelnden Erstaunen fanden die Gäste, daß es ein wunderbares Mahl war. Sie hielten noch mehr Reden, in denen nun nicht mehr von den »Ewigen Mächten« gesprochen wurde, sondern von dem »treuen Sinn des arbeitenden Volkes«, und die Leute von Sowirog hörten still zu, wie sie immer zugehört hatten, wenn der Staat die Lehren seiner Weisheit an sie gewendet hatte. Sie sahen nur ab und zu den Herrn von Balk an, aber der saß behaglich auf seinem Stuhl, ein Lächeln um seine schmalen Mundwinkel, und die Ostersonne schimmerte in den Knöpfen seiner Ulanka.

»Als ich herkam«, sagte die Frau des Regierungspräsidenten leise zu ihm, »habe ich gedacht, es sei ein Heidenvolk, zu dem wir den ersten Missionar brachten. Aber nun sind sie doch fast wie andere Menschen.«

»Ja«, erwiderte Balk ernsthaft, »wenigstens zahlen sie Steuern und ziehen in den Krieg, wenn es befohlen wird, und darin sind sie ganz menschlich. Aber im übrigen sind sie vollendete Heiden, denn sie glauben noch an Gott.«

Sie sah ihn von der Seite an, aber dann schwieg sie lieber. Auch der Adel war etwas merkwürdig in dieser Landschaft.

Dasselbe fand ihr Mann, der neben der Gräfin saß und sie vorsichtig fragte, ob nicht ein großes Kreiskrankenhaus den Bedürfnissen der Landschaft mehr entsprochen haben würde als eine kleine Kirche. Oder eine Volkshochschule etwa, wo die Saat des Wissens in einen etwas dumpfen Acker hätte gestreut werden können.

Die Gräfin ließ sich ihr Glas von Erdmuthe wieder füllen, sagte »Danke schön« und blickte dann an dem Regierungspräsidenten vorbei zum Turm der Kirche hinauf. Was das Kreiskrankenhaus betreffe, erwiderte sie dann langsam, so hätten sie einen Arzt hier, der kein staatlich bezahlter Stümper sei, sondern ein Mann mit einer Meisterhand und mit einem unbezahlten und unbezahlbaren Herzen für die Armen. Und was die Saat des Wissens betreffe, so sei sie eine der verfluchtesten Saaten, die jemals ausgestreut worden seien. Und in den Zeiten, die nun kommen würden, werde diese kleine Kirche wahrscheinlich das letzte Stückchen Brot bedeuten, das man den Armen in die Hand geben werde. Das Seelenbrot, und das sei ja wohl eines, um das sich die Märchen, aber nicht der Staat zu kümmern pflegten.

An was für Zeiten sie denn denke, fragte der Präsident erstaunt.

An die Zeiten, in denen er von Glück sagen könne, wenn er mit einem Stock in der Hand und einem Stück Brot im Taschentuch aus seinem Arbeitszimmer werde gehen können.

Auch er sah sie von der Seite an und schwieg dann lieber. Der Schnaps war gut, aber für Frauen war er doch wohl ein bißchen zu stark. Und diese Latifundienbesitzer aus verschollenen Zeitaltern hätten immer Meinungen gehabt, als ob die Bernsteinwälder hier immer noch wüchsen. Die Revolution hatte vieles versäumt, und die Enteignung und Aufteilung der großen Güter war das größte Versäumnis gewesen. Aber was wußten die Leute in der Reichshauptstadt von diesem östlichen Schattenland? Für sie war es die »Insel im Reich«, und Inseln sollten vorsichtig behandelt werden. Er nahm noch ein Stück von dem Aal, der von Fett triefte und leise nach den Kiefernzapfen schmeckte, über denen er geräuchert worden war. Dieses jedenfalls wollte er nicht versäumen, soviel auch die Revolution versäumt haben mochte.

Und dann fuhren die Wagen wieder ab, und die Gäste waren etwas lauter und redseliger als bei ihrer Ankunft.

Die Leute von Sowirog aber gingen nachmittags über ihre Felder, auf denen das Korn wuchs, und die bunten Schürzen und Kopftücher der Frauen leuchteten weithin über die grüne Saat. Und dann saßen sie bis zum Abend im Gras des Kirchenhügels, tranken dort ihren Kaffee und aßen ihren Osterkuchen, indes die Kinder die gefärbten Eier den Hang hinunterrollen ließen oder sie im Moos unter dem »toten Pfarrer« versteckten. Die Kirche war eingegangen in das Leben des Dorfes, und jede Stunde läuteten die Glocken, als könnten sie sich nicht genug tun, die feierlichen Töne über den See und den Wald zu schicken, über dem der Fischadler kreiste wie sonst und aus dem die Drosseln ihr Abendlied sangen.

Jons saß auf der Bank vor dem Doktorhaus, hatte die Hände im Nacken gefaltet und sah zu, wie der Abendrauch aus den Schornsteinen stieg. Ein neuer Anfang, dachte er, aber immer noch die alte Erde. Trotz allen Stürmen, aller Mißernte und allem Blutvergießen – die alte Erde. Die Menschen bebauten sie, die Menschen erhielten sie, und sie erhielt die Menschen. Das älteste Gesetz, und in ihm ließ sich ruhen, trotz alledem.

»Weißt du noch, Tobias«, sagte er leise, »unser Korporal? Er war aus der großen Stadt, und wahrscheinlich war er ein Heide. Aber es wäre schön für ihn gewesen, hier zu sitzen und das alles zu sehen. Und wahrscheinlich würde er sich gewundert haben, was aus uns beiden ›Steckkissenkindern‹ geworden ist ...«

Tobias nickte mit gefalteten Händen. »Ich sehe ihn vor mir«, erwiderte er ebenso leise. »Und ich höre, was er von den kleinen Leuten sagte, die Gott um sich versammeln sollte. Aber ich sehe auch die Schornsteine über den schwärzlichen Straßen, und wie sie nun dasitzen mögen in ihren erstorbenen Gärten ... und auch den Leutnant sehe ich, wie er in seinem Trichter lag und ein bißchen lächelte und zu dir sagte: ›Wie ist es nun mit der Wahrheit, Jeromin?‹«

Jons seufzte. »Ich weiß es wohl immer noch nicht, Tobias.«

»Es war eine falsche Frage, Jons, eine Menschenfrage. ›Wie ist es nun mit der Liebe, Jeromin?‹ hätte er fragen sollen. Und darauf hättest du nicht zu seufzen brauchen.«

Im Schatten des Hochwaldes aber stand Kiewitt, an eine alte Kiefer gelehnt und die Hände über dem Stock gefaltet. Er blickte unbeweglich auf den stumpfen Holzturm der Kirche, der schwarz vor dem Abendrot stand, und als die Glocken zum letztenmal läuteten, konnte er sie in den Schallöchern schwingen sehen, wie dunkle Eimer, die das Abendrot schöpften. Unter ihnen stand der ›tote Pfarrer‹. Er war so gewachsen, daß der schmale Wipfel bis unter den Dachfirst reichte.

Kiewitt stand so still, daß die Eule über ihm zu rufen begann, als sei sie allein im Walde. Sein Gesicht war so grau wie die Rinde des alten Baumes und ebenso tief gefurcht. Seine Lippen bewegten sich leise, aber es war nicht zu hören, was er sagte. Nur eine nicht zu messende Traurigkeit war um seinen Mund gebreitet, seine Schultern waren tief gebeugt, und die Spitze seines Stockes senkte sich immer tiefer durch das Moos in den weißen Sand.

Ein alter, uralter Mann, der in das Schicksal sah.


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