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VII

Mit diesem Tod ging es Jons anders als mit des Vaters Tod. Beim Vater hatte er nichts versäumt, oder es hatte ihm doch so geschienen. Er hatte nicht alles an Liebe gesagt, was sein Herz erfüllte, aber auch der Vater hatte es nicht getan. Es lag nicht in ihrer Art, und es bedurfte dessen auch gar nicht.

Und dem Vater gegenüber hatte Jons seine Pflicht getan. Von jener Nacht an, als er versprochen hatte, das Los der Fremde auf sich zu nehmen, bis zu jener Stunde, als sie für immer Abschied voneinander genommen hatten. Es war ihm schwer gewesen, vieles, bei Tag und bei Nacht, aber er war nicht fahnenflüchtig geworden. Kein Tadel war an des Vaters Ohr gekommen, keine Erschütterung des Glaubens und der Zuversicht, und als er in der Fremde gefallen war, starb er in der Gewißheit, daß sein Leben nicht vertan war und daß aus dem dunklen Hause das Licht kommen würde, von dem Geschlechter geträumt hatten, daß es einmal über dem Dorfe scheinen würde.

Aber bei der Mutter hatten sie vieles versäumt, und es nahm ihnen nichts von ihrer Schuld, daß auch Frau Marthe versäumt hatte. Der Tod hatte ihnen gezeigt, daß ihr Herz von Liebe erfüllt gewesen war, so erfüllt, daß sie das Herz verzehrt hatte. Denn ihr Mund war versiegelt gewesen ihr Leben lang, und die Liebe, die hatte schweigen müssen, hatte nach einem Ausweg gesucht aus den Kammern des Herzens und sie zerbrochen. »Wandte sein Roß und ritt davon ...« Das würden sie nun nie mehr vergessen.

Der eine von ihnen hatte ihr ein Badezimmer angeboten, und selbst eine Todkranke konnte nur ein Lächeln dafür haben. Aber die anderen hatten nichts angeboten. Sie waren es müde geworden, und auch Jons hatte vieles vergessen. Er hatte an seine Operationen gedacht und an die kommenden Stationen des Staatsexamens, und er erkannte, daß jeder Beruf seine Sünde in sich trug, die der Vergeßlichkeit für andere. Es war der langsame, unaufhaltsame Gang von einer anderen Generation in die eigene, das Versinken der alten Küsten und das Auftauchen der neuen. Das Leben riß nicht ab, es setzte sich fort, Tag und Nacht, aber vielen verdämmerte, was einmal in der Sonne gewesen war: Eltern, Geschwister, der stille Acker, den man verließ und auf dem es leise zu welken begann. Der neue Acker war zu bestellen, jede Stunde, und vor den Begriff des Eigenen schob sich langsam der des Allgemeinen: das Dorf, das Land, die Welt.

Arbeit war ein Segen und kein Fluch. Niemand wußte es besser als Jons. Aber das Herz blieb immer etwas im Schatten. Das Herz hatte keine Zeit. Es hatte ein paar Minuten der Erinnerung und des zärtlichen Gedenkens, aber dann wurde die Hand gerufen oder das Auge, der prüfende Verstand, der Entschluß, an dem so oft Leben oder Tod hing. Es war ein gefährdetes Leben, und Jons erkannte es nach dem Tode der Mutter ohne Beschönigung. Er mußte sich noch mehr beeilen, noch schneller gehen, damit er heimkehren konnte zum Dorf. Und dort würde der Atem stiller werden. Er würde ein Meister geworden sein, soweit es solche gab in der ärztlichen Kunst, und ein Meister hatte Zeit. Ein Meister konnte es auswägen, Verstand und Herz. Er konnte eine halbe Stunde mit Kindern spielen und eine halbe Stunde am Moor liegen und eine halbe Stunde bei den Geschwistern sitzen. Er konnte Feiertage haben, und ein Feiertag war nicht ein Tag des Vergnügens oder des Genusses, sondern ein Tag des Herzens. Für jeden, der so schwer gearbeitet hatte wie Jons, war es ein Tag, an dem die Waagschalen wieder im Gleichgewicht stehen würden. Wie beim Vater und Großvater, bei denen das Leben noch nicht gefährdet war, weil sie noch in der alten Ordnung lebten. In einer sich erhaltenden und nicht in einer schon zerfallenen Welt.

Er sprach mit Gina darüber, die auf ihrer Heimreise zu ihm gekommen war. Sie saß in Jumbos Sofaecke, die Hände im Schoß gefaltet, wie ein fremdes Götterbild, das man aufgehoben und in einem ärmlichen Raum niedergesetzt hatte. Sie lächelte ein bißchen und blickte zu dem Kinderpferd auf, das über Buddhas Werken stand. »Du kannst es nicht aufhalten, Jons«, sagte sie. »Du kannst nicht mehr mit dem da spielen. Du kannst dich höchstens erinnern, daß du einmal damit gespielt hast. Kannst dich sogar zärtlich erinnern, aber eben doch nur erinnern. Früher schloß sich Generation an Generation. Sie blieben im selben Ring. Es gab nur Unterschiede der Individuen. Heute aber ist eine tiefe Kluft zwischen zwei Geschlechterfolgen, manchmal so tief, als wären hundert Jahre vergangen. Der Vater und der Großvater waren noch eins, wir und der Vater sind zwei Welten. Ja, auch du. Wer heute hinausgeht aus den kleinen Dörfern, kommt auf einen anderen Stern. Ich weiß nicht, woran es liegt, und ich zerbreche mir auch nicht den Kopf darüber. Vielleicht liegt es daran, daß wir Gott verlieren, vielleicht daran, daß wir den »Geist« gewinnen. Beides ist schlimm und folgenreich. Wenn ich die Leute vor meinem Bartisch ansehe, ist es mir, als rasen sie durch die Zeit. Entweder nimmt die Zeit sie mit oder sie die Zeit. Und ich habe keinen Zweifel, daß sie in den Abgrund rasen. Aber ich weiß nicht, wie dieser Abgrund ist oder was er ist. Etwas Eiskaltes, Erbarmungsloses und Tödliches. Und ich sammle Gold und Devisen, damit ich einmal fort kann. Dorthin, wo es noch keinen Abgrund gibt. Nicht nach Sowirog, denn auch dorthin wird es kommen, aber vielleicht in den Stillen Ozean, auf eine Insel, wo große Blumen blühen und Vögel wie Edelsteine in den Blumen sitzen.«

Nun mußte Jons doch lächeln. »Liebe Schwester«, sagte er, »wohin will es dich treiben aus unserem stillen Kinderland? Erinnerst du dich noch, wie er hier saß und dich fragte, was du suchtest? Und du sagtest: die Macht?«

Sie nickte, und ihr Gesicht blieb ganz ernst. »Und es war die Wahrheit, Jons. Aber du mußt dich auch daran erinnern, was er weiter sagte. Daß, wer in der Macht ist, das Lächeln verlernt. Macht habe ich gewonnen, aber nicht das andere. Und ich bin ihrer nun müde, so müde ...«

Er sah sie voller Mitleid an, dieses schöne Menschenkind, in dem das Erbteil der Mutter einen so schweren Nebenweg gegangen war. »Du hättest eine Bäuerin werden sollen«, sagte er. »Jumbo hat es schon damals gewußt. Wir müssen etwas zum Sorgen haben, Schwester, für Menschen oder Tiere oder einen Acker, sonst werden wir unfruchtbar. Wir müssen es haben, weil unsere Leute jahrhundertelang davon gelebt haben. Wir bringen es nicht aus dem Blut, und vielleicht rasen deine Bargäste in den Abgrund, weil sie es nicht mehr haben. Der Geist hat uns zerstört, Schwester, das, was sie das ›Westliche‹ nennen, und sie nennen es voller Stolz so. Sie sind mißtrauisch gegen alles ›Östliche‹, weil sie nur eine Oberfläche sehen, das Dumpfe, Chaotische und so oft Blutige, aber ihre Augen sind schon blind geworden für das, was auf dem Grunde liegt. Vielleicht sind die ›Gottlosen‹ des Ostens näher an Gottes Füßen als alle unsere Kirchen. Ich weiß es nicht, aber oft, wenn es über mir zusammenschlagen will, diese ganze gerühmte Kultur, denke ich daran, wie der Großvater mich gesegnet hat, als ich auszog, und wie er sagte: ›Gehe nun, Enkelkind ...‹ Und wie seine einfachen Augen vielleicht mehr von der Zukunft gewußt haben als wir mit Fernrohren und Mikroskopen und Atomforschungen. Du hast gelesen, daß einer Quecksilber zertrümmert hat, aber ihre Sorge ist nur, ob sie Gold daraus gewinnen können. Der Großvater hat nie gewußt, was ein Atom ist. Er hat nur gewußt, daß er ein Kind Gottes war, und das war eine große Weisheit.«

Gina wandte ihre Augen von dem Kinderpferd nach dem Fenster, hinter dem ein Schimmer der Sonne lag. »Wir sind schon seltsame Leute, wir aus dem Walde, Jons«, sagte sie lächelnd. »Wir sind ihnen unheimlich, den anderen, und sie möchten gern, daß wir nicht da wären, oder nur ein Spuk oder Traum, wie Dichter sie erzeugen. Aber wir sind eben da, sehr sogar, und wenn wir noch so leise auftreten. Wir erinnern sie an längst vergangene Zeiten, und das mögen sie nicht. Der Vater, wie er am Meiler war. Oder die Mutter, wie sie ihr eigenes Herz zerbrach. Oder der Großvater, wie er dich segnete. Es nimmt ihnen etwas von ihrer prahlerischen Sicherheit. Es sind Gespenster für sie, aber Gespenster, die eine Hand aufheben, und es ist schrecklich, auf diese Hand zu blicken. Sie deutet auf das Sinnlose, in dem sie atmen, auf das Böse, in dem sie zu Hause sind, und die Gespenster waren nicht im Bösen zu Hause. Es gab Dumpfheit bei ihnen, und auch Härte und Gewalttat, wie in deinem ›Osten‹, aber nicht das Böse. Sie ruhten in Gott wie dein Doktor, und das ist schrecklich für die Heutigen. Sowohl das Ruhen wie auch Gott ...

Ich hatte einen, den ich die Grenze überschreiten ließ. Nicht den Grafen im Zylinder. Einen von der italienischen Botschaft. Der war jung und klug und sehr schön. Aber er war das Böse. Er war alles in einer einzigen Person, was die anderen zusammen waren. Ohne Ruhe, ohne Gott, ja ohne den einfachsten Anstand, den Piontek noch haben würde. Er glaubte an nichts. Ich denke, daß er nicht einmal an die Sonne glaubte. Und doch lag ein Glanz in ihm. Eben der Glanz des Bösen. Das völlig Entfesselte und an nichts Gebundene, was sonst die Menschen bindet. Es zog wie ein Strudel. Ich habe ein Jahr gebraucht, bis ich ihn aus dem Herzen reißen konnte, und damals beschloß ich, nach dem Stillen Ozean zu gehen ...«

Sie sah nach ihrer Armbanduhr und seufzte. »Es wird Zeit, Jons«, sagte sie. »Wir wollen zu Fuß gehen ..., es erinnert mich so an damals.«

Sie stand auf und legte ihre Sachen zusammen. Als sie vor Jumbos Büchern stand und die schweigenden Reihen entlang blickte, schüttelte sie leise den Kopf. »Ein Mädchen müßtest du haben, Jons«, sagte sie ernst. »Ein ganz einfaches aus dem Volk. Das ein bißchen für dich sorgt und dir gibt, was sie geben kann. Du lebst nicht im Gleichgewicht, Bruder. Wir alle nicht. Aber du am wenigsten.«

Sein Gesicht verzog sich in einem plötzlichen Schmerz. »Später, Schwester«, sagte er leise. »Später ... ich habe keine Zeit.«

Sie sah ihn schnell von der Seite an und nahm dann ihren Mantel.

Als er unter dem hohen, grauen Glasdach stand und zu ihrem Fenster hinaufsprach, war es ihm nun wieder, als hörte er die Zeit unter seinen Füßen mit einem hohlen Brausen in einen Strudel stürzen. Die Schatten kamen und gingen, von einem fahlen Traumlicht beglänzt: er selbst mit der Holzkiste und Stilling mit Hohenzollernmantel und Zylinder, das Bauer mit dem Buchfinken in der Hand; Schwester und Bruder, wie sie hinausfuhren in die unbekannte, große Welt, und er blieb zurück wie ein kleiner Waldpilz unter einem hohen Dach; Jumbos ernstes, von der Zukunft schon beschattetes Gesicht, wie es sich aus dem Fenster beugte und ihm zurief, die ›dreißig Morgen‹ nicht zu vergessen; und wieder er selbst, wie er aus dem Laden mit Wachspuppen gekommen war, ohne Mädchen, ohne Glück, und Gott hatte seine Hüfte verrenkt ...

»Leb wohl, lieber Bruder«, sagte Gina. Sie war noch einmal aus ihrem Abteil gestiegen und hatte beide Arme um seine Schultern gelegt. Er fühlte ihre zärtlichen Lippen und spürte wieder den fremdartigen Duft, der wie ein Hauch um ihren Körper lag. Wie im Stillen Ozean ..., dachte er. Dann glitt die Wagenreihe langsam an ihm vorüber, in das helle Tor der Glashalle hinaus, und er stand noch eine Weile da, als alles verschwunden war und der dreifache Hebel am fernen Signalmast mit einem leisen Beben wieder in die Waagerechte zurückfiel.

Ja, und nun dachte er an die Mutter, in allen Pausen, die die Arbeit ihm ließ. Er wollte es nicht, denn er wußte, daß sie im Frieden war, ein sich langsam auflösender und zerfallender Körper, und von ihrer Seele wußte niemand. Man konnte glauben, aber man würde nie wissen. Und doch mußte er an sie denken, auch in den Träumen, die über den erschöpften Schlaf gingen, wie Nebel über ein ruhendes Wasser. Ein schweres Leben, und sie alle hatten ihre Schuld daran. Der Vater, die Geschwister, er selbst. Und auch sie. Verstrickt und verschlungen wie ein verwirrtes Gewebe. Und doch war das Lied am Ende gewesen, von dem Liebsten, der sein Pferd wendete und »ritt davon«. Und die Bewegung der erkaltenden Hand über seine linke Wange. Der Tod hatte es freigemacht. Lied und Bewegung. Er hatte die Decke aufgehoben, und das Heimliche war sichtbar geworden. Wie groß mußte seine Kraft sein, daß er sie aufheben konnte, die Decke aus Stolz und Qual, aus Irrtum und Schuld ... und was wußte er vom Leben und Tod, wenn er nicht einmal dieses gewußt hatte? Er, ein angehender Meister über beides?

Wieder verschlang ihn die Arbeit, Tag und Nacht. Lawrenz sah ihm nun still zu, wenn er das Messer vorsichtig und ohne Zittern durch die Decke eines kranken Leibes führte, aber Schwester Monikas sanfte Augen folgten ihm voller Sorge, und einmal, als er sich von einem Totenbett aufrichtete, Verzweiflung in seinen Augen, glitt sie vorsichtig mit ihrer Hand über den Ärmel seines weißen Mantels und sagte mit ihrer leisen, fast unirdischen Stimme: »Wir fallen nicht heraus aus seiner Hand, Herr Jons, wir bleiben immer in ihr beschlossen.«

Er sah sie an mit seinen müden Augen, ihr regelmäßiges, stilles, von Frieden erfülltes Gesicht, um das die Flügel der großen weißen Haube standen, und es war ihm, als müßte es gut sein, die Wange an eine Brust zu legen, die nichts von der Liebe wußte, aber die von Arbeit, Erbarmen und Gott wußte, wie er von den Nerven und Muskeln der Körper wußte, die er zu heilen und zu retten versuchte.

Bald darauf begann er, wie Lawrenz ihm vorgeschlagen hatte, mit seiner Doktorarbeit, und der Professor hatte den Kopf zu dem Thema geschüttelt, einem Thema über die Unterschiede in der seelischen Nachwirkung allgemeiner und lokaler Narkosen. Das sei eine Dissertation für Leute mit langer klinischer Erfahrung, sagte er endlich, aber er sagte es mit einer Art von Vorsicht, weil man nie wußte, was man bei diesem merkwürdigen Köhlerssohn zu erwarten hatte.

Er habe Tabellen über alle Operationen geführt, erwiderte Jons, an denen er teilgenommen oder die er selbst ausgeführt habe, und diese Tabellen enthielten Material genug, um eine selbständige Arbeit darauf zu gründen.

»Operieren Sie denn?« fragte der Professor erstaunt.

Er habe Gelegenheit dazu gehabt, erwiderte Jons, in einer Privatklinik, unter Aufsicht, aber er möchte nicht, daß davon gesprochen werde.

»Ein merkwürdiger Mensch sind Sie, Jeromin«, sagte der Professor und spielte mit seinem Bleistift, »und sicherlich werden Sie auch eine merkwürdige Arbeit abgeben. Aber ich will einverstanden sein. Und wie ist es mit dem Armenarzt? Wollen Sie immer noch nach Ihrem Eulenwinkel oder wie das Nest sonst heißt?«

Ja, das wollte er.

Der Professor sah nach seiner Uhr und seufzte. »Vielleicht haben Sie den besseren Weg erwählt, Jeromin«, sagte er. »Wenn man alt wird, erscheint einem so vieles gebrechlich, was man für ein steinernes Fundament ansah.«

So begann Jons mit seiner Arbeit, und erst beim Arbeiten merkte er, daß eigentlich schon alles fertig war und er es nur zu ordnen und zu formen brauchte. Zum erstenmal war ihm, als fiele ihm eine Frucht in den Schoß, die er nicht hatte reifen sehen.

Lawrenz liebte es, hin und wieder am Abend die fertigen Blätter zu lesen und sie mit seinen Bemerkungen zu versehen. »Sie dürfen nicht denken, daß ich Ihnen helfe, Jeromin«, sagte er und ließ mit seiner gewohnten Bewegung den Kneifer fallen. »Viel eher ist es so, daß Sie mir helfen. Ich habe Ihnen nun eine lange Weile zugesehen, so wie ich Ihnen früher zusah, wenn Sie in die Schule gingen, ordentlich und brav, und immer wie ein Mann, der auszieht, um einen Berg abzutragen. Und so sind Sie geblieben. Aber langsam kommt nun der tragende Grund bei Ihnen zum Vorschein, der Urgrund sozusagen, und seit ich die paar Tage in Ihrem Dorf war, weiß ich auch ein bißchen mehr davon. Es ist nämlich ein Unterschied, ob wir auf dem Mistbeet der Zivilisation aufwachsen oder dort. Das Mistbeet gibt uns vieles mit, was Sie nicht haben und erst erwerben müssen. Aber das Erworbene ist anders als das Mitgegebene. Und die Erbschaft, die Sie auf Ihren Weg bekommen haben, läßt sich nun gar nicht mit der unserigen vergleichen. Mit mir ist es noch anders, weil ich von meiner Mutter und einer alten Rasse herkomme. Aber was hier so aufwächst, in Beamten- oder Professorenfamilien, und dann in den Arztberuf hineingleitet, ist nicht mehr echt, Jeromin. Es ist durch ein Medium gegangen, ein brechendes Medium, und auch die Kranken erscheinen ihnen in einem gebrochenen Licht.«

»Bin ich denn echt?« fragte Jons.

»Sie sind zunächst einmal anders, Jeromin, ganz anders. ›Von gestern her‹, wie der alte Mann am Grabe sagte, und darin sind Sie ohne Zweifel echt. Ungebrochen, trotz Schule und Universität und Krieg, weil das Alte sich nicht brechen läßt vom Geist. Und deshalb gehen Sie nicht zurück in Ihren Eulenwinkel, weil Ihr Herz oder Gewissen es Ihnen befiehlt, sondern weil Ihr Daimonion es Ihnen befiehlt. Es weiß, daß Sie hier ein großer Arzt werden würden, aber daß etwas in Ihnen brechen würde, was Sie trägt. Ihr Sohn vielleicht wird schon so weit gedüngt sein von der Zeit, daß er nicht mehr zurückkehren würde, nicht mehr zurückzukehren brauchte. Aber Sie müssen das. Es ruft Sie, und Sie gehorchen noch. Und deshalb müssen Sie auch ganz ruhig sein, wenn die Tore dort hinter Ihnen zufallen. Es wird Ihnen nicht immer leicht sein, wenn Sie von Entdeckungen und den sogenannten Fortschritten lesen werden. Ich weiß das. Sie werden so eine Art von Heimweh bekommen. Nach der Luft der Laboratorien oder den großen Operationssälen. Aber für Sie ist es ein falsches Heimweh. Was zu entdecken ist, wird schon entdeckt werden, da können Sie ganz beruhigt sein. Die Natur sorgt schon dafür, daß die rechten Hände zur rechten Zeit da sind, für das Gute wie für das Böse. Denn auch an bösen Entdeckungen ist kein Mangel. Aber sie will nicht, daß Sie das tun. Sie ist weise, und sie will, daß Sie in Ihrem Dorfe brennen wie ein Licht in der Nacht. Sie wollte zum Beispiel, daß Sie da waren, als Ihre Mutter starb. Eine Ätherspritze kann jeder Pfuscher geben, der etwas gelernt hat. Aber das andere kann er nicht geben, das, was ein Gesicht friedlich macht nach dem Tode, und das brauchen wir mehr als alle Wissenschaft. Und das wächst nicht hier, Jeromin, das wächst nur im Alten. Im ›Östlichen‹, denn der Westen hat es verloren.«

Er drehte wieder an dem Fuß seines Glases, und Jons sah, daß er alt geworden war, und manchmal war ihm, als hinge sein Gesicht nur wie eine Maske vor einem Abgrund von Schmerzen. »Sie sollten einmal zu einer Generaluntersuchung gehen, Herr Doktor«, sagte er. »Ich denke manchmal, daß nicht alles bei Ihnen in Ordnung ist.«

Lawrenz lächelte und sah zu dem Bilde seiner Mutter auf. »Manchmal?« wiederholte er. »Ich denke es immer, nicht manchmal ..., aber es kommt auch von außen, Jeromin, von dem Gefühl für das Gefährliche, was geschieht. Das Bedenkenlose, das Herrschaft gewinnt. Das Besessene, das aus der sittlichen Ordnung heraustritt und sich für eine neue Sittlichkeit erklärt ... Damals, als sie den ersten Minister erschossen, enthüllte es sich schon. Und dann war der Putsch, wie sie es nennen, und Sie brauchten nur die Gesichter Ihrer Kommilitonen anzusehen, wie sie hinter der Fahne hermarschierten. Auch Mediziner waren darunter, viele, die ich kannte. Und nun ist es der zweite Minister, und das Heimtückische ist es, das Banditenmäßige, die Rechtfertigung des Mordes durch die Formeln der Sittlichkeit. Und daß es junge Leute sind, alles junge Leute. Von einer Mutter geboren, wie der Minister von einer Mutter geboren wurde ... Das Leben, Jeromin, daß es keine Ehrfurcht vor dem Leben gibt. Vor diesem wunderbarsten Geheimnis aller Weltalle. Und die Wissenschaft ist nicht unschuldig daran. Die Verwandlung in Begriffe, das ist die Sünde des Geistes. Und davor werden Sie Ihre Hand halten im Eulenwinkel, Jeromin, davor vor allem!«

Alles das nahm Jons auf, wie es gesagt wurde. Er hatte niemals einen Zweifel an dem, was Lawrenz sagte. Weder bei einer Diagnose noch am Operationstisch, noch in dem stillen Raum mit den grünen Sesseln. Und wenn er einmal zu widersprechen geneigt war, und besonders bei Diagnosen war er es zuweilen, so hatte er noch jedesmal erkennen müssen, daß er sich geirrt hatte. Er hatte das Deutliche gesehen, die Oberfläche, aber der Doktor hatte hindurchgesehen bis in den Grund der Gewebe, mit einer Art von zweitem Gesicht, und es hatte sich gezeigt, daß das Deutliche eine Täuschung gewesen war, ein Schleier, den die Natur vor das Kranke geschoben hatte. Schwester Monika nahm es wie eine Offenbarung, und Jons schüttelte bewundernd den Kopf. »Ich werde immer ein Stümper bleiben, Herr Doktor«, sagte er.

»Ach nein, Jeromin«, erwiderte Lawrenz. »Als ich so alt war wie Sie, hab' ich mich häufiger geirrt als Sie. Wissen Sie, was man am langsamsten erwirbt? Skepsis. Nicht gegen die Weltordnung, sondern gegen das Augenscheinliche, das Sichtbare, das Deutliche. Und sehr langsam lernt man, daß es eine Art von Deutlichkeit gibt, der man mißtrauen muß. Und deshalb gibt es heute so viele Fehldiagnosen, weil die Leute nicht gern am Augenscheinlichen zweifeln.«

Und trotz allem blieb eine leise Unruhe in Jons. So wie er früher eine ganze Nacht gegrübelt hatte, ob er eine Naht richtig genäht hätte oder ob es nicht besser gewesen wäre, die ganz leise verdächtige Stelle im Zwölffingerdarm mit unter das Messer zu nehmen. Aber Lawrenz hatte den Kopf geschüttelt, den Puls der bewußtlosen Frau gehalten und sich über den langsamer werdenden Atem gebeugt. Schwester Monika hatte die Maske fortgenommen, und es hatte eine Minute dunkler, wilder Angst für ihn gegeben, als Lawrenz »Schneller!« geflüstert hatte. Dann war es vorübergegangen, und alles war gut geworden.

Wahrscheinlich kam es von der Mutter Tod her, und er dachte oft an das, was Lawrenz von der Naht gesagt hatte.

Im September fuhren sie noch einmal für zwei Wochen nach Sowirog. Jons wollte etwas bei den Geschwistern sein, und der Doktor wollte ihn gern begleiten. »Es kam uns damals etwas viel über den Kopf«, sagte er, »und vor dem Winter möchte ich es gern noch einmal ein bißchen still haben. Sonst bin ich ans Meer gefahren, auf die Nehrung meistens, aber es gibt da eine Schwermut, Jeromin, die gefährlich ist. Das Unbegrenzte, wissen Sie. Schon das Meer hat es in sich, das aus sich Lebende, für das wir nur Spielzeug sind. Aber dann sind da der Sand und die Leuchtfeuer an der kurischen Küste. Und wenn Sie auf der Düne sitzen, um die Abendzeit, und der Sand rieselt über ihre Füße, und die Feuerarme des Leuchtturms fegen über Sie dahin, dann ist mir immer, als fegten sie den Rest von Zuversicht und Sicherheit aus meinem Leben. Eine erbarmungslose Natur, und es könnte gut ein Sphinxbild dort im Sande stehen statt eines Elches, der nach Osten blickt. Bei euch ist alles näher und wärmer, und die Pirole rufen statt der heiseren Möwen. Und daß es dunkler ist, das macht mir nichts aus. Wir ruhen ja alle auf dem Dunklen wie der Lotos der Inder.«

»Und doch müßte es Ihnen im Blute liegen«, sagte Jons nachdenklich. »Von der Weite der Wüste her, wo die Engel erschienen und die Feuersäulen.«

Aber der Doktor schüttelte den Kopf. »Sie vergessen die vier- oder fünftausend Jahre, Jeromin«, sagte er. »Eine lange Zeit, auch für eine Rasse. Zumal für eine heimatlose. Alle Wanderer verlieren die Wurzeln und werden veränderlich. Die Anpassung ist eine große Erscheinung. Nur Gott geht immer mit, und Gott ist an keine Landschaft gebunden. Eine Synagoge ist für ihn soviel wie ein Wüstenzelt. Nur daß die Toren unseres Jahrhunderts denken, daß sich mit einer Synagoge auch Gott zerstören lasse. Alle Toren haben das übrigens gedacht, schon zu Alexandrias Zeiten. Nur war es damals berechtigter, weil es aus dem Primitiven kam. Aus der Zeit der Götzenbilder. Und die sind doch heute verschwunden, Jeromin, nicht wahr?«

Er blickte lächelnd aus dem Rauch seiner Zigarre heraus, und auch Jons lächelte. »Sie sind umgänglicher geworden«, erwiderte er. »Früher stellte man sie auf Sockel oder Zinnen, und heute trägt man sie auf dem Rockaufschlag.«

Sie wußten beide, woran sie dachten.

Es war ein schöner Herbst über Sowirog, und Lawrenz meinte, stiller könnte es in der ganzen Welt nicht sein. Er wohnte wieder auf der Insel, aber er war viele Stunden des Tages unterwegs. Manchmal suchte er Pflanzen und manchmal Pilze oder Brombeeren, aber oft tat er nichts anderes, als daß er nur vor sich hin ging, ein zweckloser Wanderer, der eine Weile am Moor saß oder am hohen Waldrand über den Schilfbuchten, und sich dann wieder aufmachte, in das Schweigen hinein, wo nur die Schwarzspechte riefen, oder die Kraniche, die sich auf den Stoppelfeldern sammelten.

Die Leute von Sowirog wußten nun, daß er Jons' Lehrer war, ein Arzt für die Armen, und sie sahen ihm mit Bewunderung und Achtung zu, wie er auf ihren Ackerrainen saß, den Blick auf das glühende Laub der wilden Birnbäume gerichtet und eine seiner schwarzen Zigarren rauchend. Sie wußten nicht, was in seiner Seele vorging, aber sie dachten, daß es etwas Besonderes sein müsse, weil noch keiner von ihnen sein Lebtag dort müßig gesessen und über das Land geblickt hatte.

Am häufigsten aber saß er bei Piontek am Moorrand, vor dem kleinen Feuer, auf das der Hirte die späten Pilze legte, und hörte seinen alten Geschichten zu. Für ihn lag nichts Erfundenes oder nur Abergläubisches in diesen dunklen Berichten, sondern eine tiefe Weisheit, verschüttet schon und verändert, aber er konnte sie noch erkennen, das uralte, magische Bild, das unberührt auf dem Grunde lag. Er zweifelte nie, er nickte nur, wenn es zu Ende war, und Piontek erzählte im Dorf, noch niemals sei ein so kluger Mann bei ihnen gewesen, und alle Studierten seien nichts dagegen. Auch sei er so etwas wie ein Zauberer, denn er habe ihn nach seinen Schmerzen in der rechten Seite gefragt und ihm alles beschrieben, obwohl er selbst nicht ein Wort von diesen Schmerzen gesagt habe.

Auch unter den grauen Dächern war Lawrenz zu Hause. Er saß oft auf den Stühlen, die mit der Schürze sauber gewischt wurden, sah sich um, strich den Kindern über das Haar und kam dann wieder, ein paar Kräuter in der Hand oder eine Flasche mit einer selbstbereiteten Medizin, auf die er mit seiner kleinen deutlichen Handschrift eine Anweisung geschrieben hatte.

Sogar Korsanke erzählte ihm von seinem Schmerz unter dem Koppelschloß, und Lawrenz sah ihn mit seinen traurigen Augen tröstlich an. Wenn Jons erst da wäre, sagte er, in einem Jahr vielleicht, wollten sie ihn beide einmal vornehmen. Bis dahin werde es schon vorhalten, und wenn es schlimmer käme, so sollte er Urlaub nehmen und in seine Klinik kommen.

Aber als er das kleine Haus verlassen hatte, seufzte er am Gartenzaun bei den Dahlien ein bißchen auf und blickte eine Weile die Dorfstraße entlang, wo an den niedrigen Zäunen noch die Nelken blühten, die Kapuzinerkresse und die Goldraute. Auch in die stillsten Dörfer kam der Tod, ganz leise und ganz langsam, und auch in den tiefsten Wäldern war kein Kraut gegen ihn gewachsen.

Am liebsten aber saß er bei Stilling, wenn die späte Nachmittagssonne auf die Weltkugel schien und die blauen Ozeane vergoldete. Er wußte nun viel von ihm, und er konnte nicht ohne eine leise Rührung auf die abgegriffenen Bände blicken, aus denen Jons die erste Nachricht von einer anderen Welt als der des Dorfes gekommen war. »Er zog aus wie Saul«, sagte der Lehrer, »und nun wissen wir, daß er ein Königreich gewinnen wird.«

Lawrenz schüttelte leise den Kopf. »Kein Königreich, Herr Stilling«, erwiderte er. »Nur die Toren unter uns halten sich für Könige. Aber ein großer und treuer Diener kann er wohl werden. Wer nach dem Eulenwinkel geht statt auf einen Lehrstuhl, ist groß in meinen Augen, denn wir haben verlernt, füreinander zu leben. Die jungen Leute besonders haben es verlernt.«

»Ist es die neue Zeit, Herr Doktor?«

»Ich weiß nicht, Herr Stilling, ob es eine neue Zeit gibt. Alles wächst im Menschengeschlecht wie in einem dunklen Wald. Und nur manchmal, wenn ein Sturm hineinfährt, bricht ein offener Hang zusammen, und man sieht die Wurzeln. Das Aufgerissene und Auseinanderklaffende. Es ist nicht immer schön zu sehen. Ein Krieg kann ein solcher Sturmwind sein, eine Revolution, ein Glaubenskampf. Aber er beschleunigt nur. Es muß lange dagewesen sein. Es geht seit dem Mittelalter. Die Kirche wußte sehr gut, weshalb sie die Fernrohre verbot. Nicht nur, weil es mit der Bibel nicht mehr ganz stimmen wollte. Das ließ sich schon in Ordnung bringen. Die Dogmatiker bringen alles in Ordnung. Sondern das Prinzip war es. Der Geist, der den Meißel nahm und die Geheimnisse aufbrach. Scientes bonum et malum. Wissen, was gut und böse ist. Mein Volk war sehr klug, als es das der Schlange in den Mund legte. Vor Tausenden von Jahren schon. Denn bei dem Wissen bleibt es nicht. An das Wissen schließt sich das Nichtachten. Jedes Lot Wissen ist eine neue Zeit, Herr Stilling. Früher glaubten die Söhne, was die Väter glaubten. Heute wissen die Söhne, was die Väter noch nicht wußten. Von allen Rätseln ist der Geist das dunkelste. Forschen und zerstören. Ein Kind, dem man eine Dynamitpatrone in die Hand gibt.«

»So habe ich unrecht getan?« fragte Stilling leise.

»Ach nein, Herr Stilling. Einmal liegt dies alles nicht in unserer Hand. Wir sind immer geneigt, das zu denken. Auch daß die Natur in unserer Hand liege. Es ist nämlich immer eine Hand da, und wenn es nicht die Ihrige gewesen wäre, so würde es eine andere gewesen sein. Was fliegen will, findet immer einen Hügel. Und dann ist es mit Jons anders. Er hat das Gleichgewicht, verstehen Sie? Er hat das, was ihn bindet. Die anderen sind ungebunden, und das ist das Gefährliche. Das, was mit einem Herzschlag in die Zerstörung umlenken kann. Aber er hat seinen Vater und auch seine Mutter. Er hat den Großvater und viele vor ihm. Und er hat das Dorf. Mit solchem Erbe ist man nicht ungebunden. Die kleinen Leute haben nie zerstört, sie haben immer nur gerodet und gepflügt und gesät. Und er hat das alte Buch. Wenn sie ihn fragen, wird er vielleicht die Achseln zucken, aber ich weiß, daß er es hat. Wer es im Konfirmandensaal bekommt, verliert es leicht, aber wer es am Meiler bekommt, behält es. Er braucht es gar nicht zu wissen, aber das Buch weiß es. Und wenn es nötig ist, blättert es eine Seite um, immer die richtige Seite. Wir können nicht das verspotten, Herr Stilling, wovor wir unsere Eltern haben knien sehen. Die anderen können es, und sie denken, daß das die ›Freiheit des Geistes‹ sei, aber wir können es nicht.«

»Auch dort verspotten sie«, sagte Stilling bekümmert und deutete auf das Schulhaus.

Lawrenz war schon aufgestanden und blickte in Gedanken wieder auf die Weltkugel. »Sie werden noch mehr verspotten«, erwiderte er nach einer Weile. »Die Bank, auf der die Spötter sitzen, wird ein gutes Stück über diese Kugel reichen ...«

Auch den Herrn von Balk ließen sie nicht aus, und Lawrenz gab zu, daß er eine kleine Schwäche für diese Art von Edelleuten habe. »Sehen Sie, Jeromin«, sagte er, als sie langsam zwischen den großen Ackerbreiten auf den Park zugingen, der die Linie des Horizontes dunkel unterbrach, »wer kann es wissen, ob nicht in früheren Jahrhunderten einer meiner Vorfahren diesen Weg gegangen ist, ein Bündel auf dem Rücken und einen Stab mit einer Eisenspitze in der Hand? Damals gab es sicherlich noch Wölfe hier, auch unter den Menschen, und er mußte handeln, um sein Brot zu verdienen. Dann stand der Edelmann auf der Treppe, von seinen Hunden umgeben, und der Vorfahre neigte sich tief zur Erde und nahm sein Käppchen ab. Nicht weil er geringer war vor Gott, sondern weil er ärmer war. Und wenn wir nun heute so dahingehen, ohne einen Stab mit der Eisenspitze und ohne ein Bündel auf dem Rücken, so bin ich manchmal geneigt, an das zu glauben, was wir Fortschritt nennen. Aber nur manchmal, Jeromin. Morgen können sie wieder auf der Treppe stehen und sich die Seiten halten, wenn wir für fünfzig Pfennige ein Stück Seife vor ihren Augen aufessen.«

»Aber nicht Herr von Balk«, widersprach Jons.

»Sicherlich nicht der Herr von Balk. Aber der Herr von X und der Herr von Y. Und auch die Herren ohne von und zu. Die Herren eben. Ich wundere mich, Jeromin, daß die Sprachforscher auf solche Dinge so wenig achten. Früher hieß nur einer der ›Herr‹, und das war Gott. Können Sie sich denken, daß man ›Herr Moses‹ oder ›Herr Abraham‹ sagte? Und dann ging es auf die Könige über, und dann auf den Edelmann, und heute ist der Pedell an der Alma mater ein Herr. Und wenn Sie ein Geheimrat sind, ein Koryphäe, dürfen Sie ihn bei seinem Namen nennen und das ›Herr‹ fortlassen. Und auch dann noch wird er wahrscheinlich denken, daß Sie leise übergeschnappt sind. Es gibt zuviel Herren auf dieser Erde, Jeromin. Deshalb ist sie so herrlich, und deshalb wird es kein gutes Ende mit ihr nehmen.«

Sie saßen auf der Terrasse über dem Park, und die Septembersonne glühte in den großen Staudenbeeten. »Die Mark ist fest!« schrie der Papagei aus der Bibliothek, und Lawrenz ließ den Kneifer fallen und hörte zu.

»Ein gelehriger Vogel«, sagte Herr von Balk und schob dem Doktor den alten Römer mit dem goldfarbenen Wein zu. »Ich habe versucht, ihm eine Artikeländerung beizubringen, ›das Mark‹, statt ›die Mark‹, aber er will nicht. Er ist in das Alter gekommen, wo auch Vögel mißtrauisch werden.«

»Die ganze Geschichte der letzten Jahre liegt darin«, sagte Lawrenz nachdenklich. »Wieviel muß davon gesprochen worden sein, wenn es diesen Niederschlag in ihm gefunden hat ...«

»Nicht ganz wenig«, erwiderte Balk lächelnd. »Und statt ›Guten Morgen‹ sagte jeder, der hereinkam: ›die Mark ist fest‹. Eine unsichere Erde, auf der solche Dinge betont werden müssen. Nicht wahr, Jons?«

Jons seufzte ein bißchen. »Sie haben es mich vergessen lassen, Herr von Balk«, sagte er.

Balk winkte mit der Hand. »Wolltest du, daß Herr Stilling seine Weltkugel verkauft? Ich brauchte nur Roggen oder Wald zu verkaufen, und beides wächst nach. Weltkugeln tun das nicht ... ja, nun ist sie also fest, und der Bürger kann beruhigt schlafen. Sein Kalbsbraten läuft ihm nicht weg. Er kann ihn auch morgen essen, weil er morgen nicht teurer geworden ist. Aber wir sind nicht beruhigt, Doktor, was?«

Nein, Lawrenz war gar nicht beruhigt.

»Wenn ich mich hier so umsehe«, fuhr Balk fort, »bei meinen sogenannten Standesgenossen, dann wundere ich mich doch ein bißchen. Auf jeder Klitsche finden Sie ein halb Dutzend oder ein Dutzend Artamanen oder Schamanen, oder wie die Brüder heißen. Zackige Burschen, wie es heute heißt, und jeder von ihnen würde Sie ohne Wimperzucken ›umlegen‹, Doktor, wenn es befohlen wird. Was sie tun, weiß kein Mensch. Wahrscheinlich essen sie Zuckererbsen. Früher nie gemerkt, was für Sehnsucht nach dem Osten in unserer Jugend steckt.«

»Es wird viel gesprochen«, sagte Lawrenz zögernd.

»Klar. Wo etwas zu verschweigen ist, wird immer viel gesprochen. Mit dem ersten Putsch war es nichts. Daneben geraten. Aber deswegen kann es ja mit dem zweiten etwas werden oder dem dritten. Ein zäher Menschenschlag hier, Doktor. Ohrfeigen einstecken geht bei den Studenten gegen den Komment. Auch verdiente. Ist in der Weltgeschichte nicht anders. Und die Republik ist hierzulande nur etwas zum Beinaufheben. Kenne einen, der das Bild des Außenministers auf die Innenseite des Klosettdeckels geklebt hat. Finden das witzig, die Leute hier.«

»Auch zu Sokrates' Zeiten würden sie es witzig gefunden haben«, sagte Lawrenz, »wenn es damals schon Spülklosetts gegeben hätte.«

Balk nickte. »Aber meinen Sie, daß die Leute es in England witzig finden? Oder in Amerika? Denke, daß der liebe Gott mit seinem Firnis so ziemlich zu Ende war, als er das deutsche Volk anstrich. Ist zu dünn geraten. Was unter dem Firnis steckt, mag überall gleich sein, wenn ich es auch nicht immer glaube. Aber den anderen ist es schwerer gemacht, den alten Adam durchbrechen zu lassen. Glaube, daß Kultur nichts anderes ist als die Bändigung dieser Urbestie. Meinen immer, daß die sogenannte Zivilisation das besorge, aber Zivilisation besorgt nur 42-cm-Mörser und Gelbkreuz. Der Vater dieses jungen Mannes hier wußte nicht, was ein Telephon ist, aber wenn Sie ihm eines Tages gesagt hätten, daß es keine Gesetze mehr gebe, weder die Zehn Gebote noch das Strafgesetzbuch, so würde er genau so weitergelebt haben wie bisher. Kein Unterschied, nicht der geringste. Wohingegen unsere Standesgenossen mit ihren Schamanen aufhören würden, Zuckererbsen zu essen, um sich einer anderen Beschäftigung zuzuwenden.«

»Und das Dorf Sowirog, Herr von Balk?«

»Schwer zu sagen, lieber Doktor, was solche Dörfer anfangen würden, wenn es einem Urteutonen einfiele, den Firnis zu lockern. Hatte eine Scharwerkerfrau hier, nicht besser und nicht schlechter als andere. Eine, die nie aufgefallen war, weder durch besondere Faulheit noch durch ein besonderes Mundwerk. Hatte zwei Söhne verloren wie die anderen auch, und einen Mann, der sich am Sonnabend betrank, wie eben die anderen auch. Aber als das Heilige Deutsche Reich zu Ende war, damals im November, und ich wiederkam, den Arm noch in der Binde, harkte sie die Blätter hier an der Terrasse zusammen. Sah mich so komisch an wie einen zugelaufenen Köter. ›Na, Balduhnsche‹, sage ich, ›willst du mir nicht guten Morgen sagen?‹ Stützt sich auf ihren Harkenstiel, die Gute, besieht mich vom Kopf bis zu den Füßen und sagt: ›Nu sagen Sie man zuerst ›guten Morgen‹, Herr von Balk. Nu sind wir die Herrens hier!‹ Ja, das war die Balduhnsche, aufgewachsen hier und seit vierzig Jahren in meinen Diensten ...«

»Und?« fragte Lawrenz.

»Ja, was wollten Sie machen, Doktor? Ich ließ die Mädchen kommen und ihr eines der Staatskleider von der verflossenen Gnädigen anziehen. Mit Gewalt. Setzte sie in eine offene Kalesche, band sie ein bißchen an, nur so ganz leise, und ließ sie im Kreise um den Hof fahren. Christoph hatte dazu die Staatslivree an. Und an der Kalesche hing ein großes Schild: ›Dies ist die Balduhnsche, und sie ist jetzt die Herrin hier.‹ War ein großes Publikum versammelt, ein dankbares Publikum, und als die Rundfahrt zu Ende war, schnallte er, Balduhn, den Leibriemen ab und bekundete seine Meinung von der Sache. Schwer zu sagen, lieber Doktor, was solche Dörfer anfangen würden. Glaube, daß es davon abhängt, was sie für einen Lehrer gehabt haben, oder was für einen Pfarrer, oder ob sie einen Mann wie Jakob Jeromin gehabt haben. Die Wächter über den alten Adam eben. Die Balduhnsche hatte einen schlechten Wächter gehabt. Bin nicht sehr dafür, mich um anderer Leute Seelenheil zu kümmern.«

Der Doktor nickte Jons zu. »Ja, Jeromin«, sagte er, »auch kleine Dörfer können ein Königreich sein ... Ich glaube nicht, daß unser großer Chirurg sich um das Seelenheil seiner Studenten kümmert.«

Balk begleitete sie noch bis zu der Höhe, von wo man alle seine Felder sehen konnte. Die ersten Kartoffelfeuer brannten schon, und die wilden Gänse zogen in langen Keilen nach Süden. Balk stützte sich auf seinen Stock und blickte mit seinen verlassenen Augen über die fernen bunten Wälder hin. »Eine schwankende Erde, Doktor«, sagte er, »und sie sieht so fest aus ...«

Als sie wieder in der Bahn saßen und das herbstliche Land an den Fenstern vorüberglitt, zog Lawrenz ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und reichte es Jons. »Ich habe Ihnen hier ein bißchen aufgeschrieben, Jeromin«, sagte er, »was mir so aufgefallen ist. Ganz flüchtige Diagnosen, nur so aus der Ferne sozusagen. Die Leute von Sowirog, bei denen ich ab und zu gesessen habe. Die Witwe Kroll, Gina Bojar, Korsanke, und so weiter. Damit Sie es etwas leichter haben, wenn Sie in ein oder zwei Jahren herkommen und die ersten Patienten bei Ihnen antreten. Es ist gut, wenn man am Anfang unfehlbar erscheint. Es gibt sich nachher schon ...«

Jons wollte etwas sagen, weil es ihn rührte, aber Lawrenz war schon in Rauchwolken gehüllt und hatte den Kneifer aufgesetzt, um den letzten Bericht der Schwester Monika noch einmal zu lesen.

Vom Bahnhof aus fuhr er gleich in seine Klinik.


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