Georg Wegener
Erinnerungen eines Weltreisenden
Georg Wegener

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20. Die Drachenbucht in Tongking

Wenn man sich zur See der Mündung des Flusses von Haiphong nähert und auf der Höhe der Norweg-Inseln über die Wasser des Golfs von Tongking nach Nordwesten schaut, so begrenzt in noch dämmeriger Ferne eine dunkle, niedrige Felsenküste von merkwürdigen Formen den Horizont. Sie scheint sehr steil zu sein und von einem wirren Haufwerk von dichtgedrängten Zacken, Spitzen, Blöcken und Türmen gebildet zu werden, die ziemlich gleichmäßig hoch sind.

Nimmt man eine Seekarte dieser Gegend zur Hand, so sieht man, daß hier ein Streifen dichtgedrängter Eilande, bestehend aus der großen Insel Cacba und einer nach Nordosten sich an sie anschließenden Reihe kleinerer Inseln, entlang zieht, der die Küste Tongkings bis zur chinesischen Grenze begleitet. Zwischen ihm und dem Festlande und um ihn herum ist überdies eine geradezu unglaubliche Masse allerkleinster Inselchen und Klippen ausgesät, ähnlich wie die Schären der finnischen oder schwedischen Küste. Hier bilden sie lange Schnüre, wie Körner, die der kühne Handwurf eines Sämanns über den Acker gestreut hat, dort ein regelloses Labyrinth, zwischen das sich gewundene Kanäle hindurchschlängeln; an dieser Stelle drängen sie sich in dichten Haufen, wie die Sterne der Milchstraße, aneinander, an jener umgeben sie in Bogenlinien weite freie Wasserflächen, aus deren Mitte da und dort nur vereinzelte Klippen emportauchen.

Eine der freieren, von Inseln rings umschränkten Wasserflächen trägt auf der französischen Seekarte die Bezeichnung Baie d'Along, das heißt die »Drachenbucht«; so getauft nach dem Namen, den die chinesischen Seefahrer einem darin emporragenden phantastisch geformten Inselchen gegeben haben. Mehrere andere, ähnlich gebildete Wasserflächen schließen sich an sie an: sie ist nur die am meisten genannte, weil sie Haiphong am nächsten liegt und darum am häufigsten besucht wird. Eine benachbarte, ganz ebenso gestaltete Bucht heißt z. B. Baie de Faitsilong – ebenfalls nach einem chinesischen Inselnamen, der »Eßstäbchen« bedeutet. Diese, sowie die Fülle noch anderer phantastischer Bezeichnungen, mit denen die einzelnen Eilande und Klippen auf der Seekarte benannt sind, weisen uns darauf hin, daß wir es hier mit höchst absonderlichen Gebilden zu tun haben müssen. Da gibt es die Insel der Wunder ( île des merveilles) und die Insel der Überraschung ( île de la surprise); andere Eilande oder Klippen heißen: die Marionetten, die Arche, der durchbohrte Fels, die Leiter, die phrygische Mütze, die Kröte, die Blattlaus, der Schleier, die Kerze, der Sampan, die Pickelhaube, der Elefant, der Pierrot, der Polichinell, das Tintenfaß usw. Letzteres sind meist Namen, die die französischen Schiffsoffiziere den verschiedenen Felsgebilden gegeben haben, als sie in den achtziger Jahren dies dädalische Wirrsal vermaßen.

Einer liebenswürdigen persönlichen Empfehlung an den Generalgouverneur von Indochina, Herrn Paul Beau, verdanke ich es, daß mir in Haiphong eine Schaluppe der Regierung für einen mehrtägigen Besuch der Inselwelt zur Verfügung gestellt wurde; eine kleine, zierliche, hübsch eingerichtete Dampfjacht, geführt von einem anamitischen, aber französisch sprechenden Kapitän, der aufs genaueste mit der Gegend vertraut war.

In der Morgenfrühe brach ich von Haiphong auf. Mein Schiffchen durchmaß erst in fünfstündiger Fahrt das Geflecht der Deltakanäle. Dann gewannen wir das Meer und hielten auf die Insel Cacba zu. Je näher wir ihr kamen, um so mächtiger und düsterer wuchs sie empor, für das Auge von ihrer Umgebung untrennbar; die gesamten Felswände vor uns erschienen wie ein einziger, ungeheurer, schwarzblauer Block. Schwere Wolkenmassen lagen geballt über ihrer Oberfläche; die höheren Teile verschwanden in ihnen. Beim Näherkommen sahen wir, daß dieser Felswall sich mit gegen 200 Fuß hohen Abstürzen fast oder ganz senkrecht aus der See erhob. Auch jetzt noch erschien er starr geschlossen, ohne irgendeinen Durchlaß anzuzeigen; es war, als wollte unser Schiffchen mit dem Kopf durch die Wand rennen. Erst als wir ganz dicht heran waren, begann das Gebilde sich zu gliedern; wie hohe Torpfeiler traten am Westende der Insel Cacba die Felsen auseinander und gaben einigen engen fjordartigen Kanälen Raum. Wir tauchten hinein in eine der gewundenen Gassen, und alsbald schlossen sich hinter uns die Wände; auf stillem, dunkelm Wasser glitten wir dahin zwischen hohen, schweigenden Mauern, die bald so dicht zusammentraten, daß man glauben konnte, die Schaluppe müsse sie auf beiden Seiten streifen, bald wieder rechts und links zurückwichen und kesselförmige Buchten und Winkel oder felsumkränzte Weiher bildeten. Das Gestein der Wände bestand aus einem silbergrauen Kalk, dessen regelmäßige, meist in ungefähr 45 Grad geneigte Schichtung klar, wie mit einem Messer abgeschnitten, zutage trat. Manchmal standen die Schichten auch fast senkrecht und waren dann durch das von oben zwischen ihnen eindringende Regenwasser in wunderlicher Weise zerblättert und verwittert, so daß sie aussahen wie altes zusammenstürzendes Gemäuer. Wo es irgend möglich war, hatte niedriges tropisches Buschwerk, insbesondere eine schmalblättrige Yukka-Art, an dem Gefels sich eingenistet. Der Fuß der Wände zeigte überall, wo er dem Meere entstieg, eine vom Wasser eingeschliffene, äußerst gleichmäßig verlaufende Hohlkehle. Ihre Oberkante wurde zur Flutzeit von dem Meer erreicht; dann war die Hohlkehle verschwunden. Zur Ebbezeit lag die Kante 2-3 Meter über dem Wasser, und die Felsen hatten dann die Form jener mittelalterlichen Hausfronten, bei denen das obere Stockwerk über das untere vorspringt. Bei kleineren, freistehenden Gebilden sah das oft höchst sonderbar aus; sie erhoben sich mit einem verdünnten Fuß wie auf einem Stiel über dem Meer. Die Tiefe der Hohlkehle war verschieden; stellenweise dehnte sie sich weiter, als man schauen konnte, ins Innere. Oben waren die Felsen von der Verwitterung in der Art des Kalks zu wilden und äußerst scharfen Scharren und Schratten zernagt, denen man von unten schon ansah, daß eine Wanderung auf ihrer Oberfläche unmöglich sein mußte. Dies Ganze schien während des Durchfahrens von einem geheimnisvollen Leben erfüllt, denn unaufhörlich verschoben und wandelten sich die Formen und Ausblicke; keinen Augenblick bot sich dasselbe Bild, Spalten und Kanäle öffneten sich mit grünlich dämmernden Hintergründen und schlossen sich wieder, schroffe Felsennasen schoben sich vor. oder wichen zurück, um neuen Gebilden Raum zu geben. Oftmals begegneten wir kleinen einheimischen, fremdartig aussehenden Fischerbooten, die an den senkrechten Wänden rudernd entlang glitten, hinter den Ecken auftauchten oder wieder verschwanden. Zeitweilig türmte sich auf den Höhen der Wände eine wilde Felsenwelt übereinander, die in düsterem Gewölk verschwand; zeitweilig bot sich am Ende längerer Korridore, zwischen blauer und blauer werdenden Bergkulissen rasch vorübergleitend, eine Aussicht aus dem Felslabyrinth auf weite, lichtblaue Wasserflächen, aus denen sich einzelne Klippen mit scharfgezeichneten Umrissen erhoben. Das Befremdendste war, daß nirgends herabgefallenes Blockgetrümmer den Fuß der senkrechten Wände umgab, wie man doch von der Arbeit uralter Verwitterung, wenn sie dies Labyrinth geschaffen, hätte erwarten müssen; glatt und reinlich entstiegen die Felsen überall dem Wasserspiegel wie die Mauern venezianischer Paläste, so daß es aussah, als sei dies ganze phantastische Gassengewirr in der gegenwärtigen Form mit einem Male fertig von der Natur so hingestellt worden. Auch hatte der Kapitän keinerlei Sorge vor unter Wasser liegenden Klippen im Fahrwasser; solche gäbe es hier nicht, sondern überall bilde ein weicher, gleichmäßiger Schlamm den Grund der meist nur wenige Meter tiefen Kanäle und Wasserflächen. Wie das Meer die langen Hohlkehlen am Fuß der Felsen augenscheinlich nur durch chemische Auflösung des Kalkes eingeschliffen hat, so scheint es auch alles hineinstürzende Gefels restlos aufzulösen. Unser Auge war noch weit entfernt davon, in dem dichtgedrängten Gewirr von Felsen und Kanälen die Grundzüge ihrer Anordnung zu erfassen, als sie mit einem Male wieder auseinandertraten und wir auf eine große, freie Wasserfläche hinausschwammen. Der äußere Inselgürtel, der sich an die Insel Cacba anschließt, war durchquert: vor uns lag die Drachenbucht. Ein blauer See von wunderbarer Schönheit, etwa 10 Kilometer breit, im Norden von den weichgeformten Bergen des Festlandes begrenzt, auf allen übrigen Seiten aber von endlosen Scharen von Inseln derselben Art eingeschlossen, wie wir sie soeben hinter uns gelassen. In der Lufttönung der Ferne schimmerten sie tiefblau und geheimnisvoll herüber. Sie zeigten, daß das Felsenlabyrinth, das wir soeben durchmessen hatten, nur ein ganz geringer Teil, ein bescheidener Anfang der Wunderwelt gewesen war, die sich hier ausbreitet.

Eine Welt der Naturwunder ist es wirklich. Den heutigen und noch zwei volle Tage durchkreuzte ich sie mit einer Jacht nach verschiedenen Richtungen unter der kundigen und unermüdlichen Führung meines Kapitäns, legte an, wo er mir riet oder wo eine Seltsamkeit mich selbst dazu reizte, durchstöberte das Gefels der Inseln, erklomm auf merkwürdigsten Pfaden ihre Oberflächen, durchkroch ihre Höhlen oder ließ vom ruhig gleitenden Schiffe aus die wunderlichen Gebilde über den hellen Wassern an mir vorüberziehen. Und immer Neues und überraschendes bot sich dar. Mit vollem Recht trägt die »Insel der Wunder« ihren Namen, denn sie birgt in ihrem Innern eine der großartigsten und schönsten Tropfsteinhöhlen, die ich je gesehen habe. Im Hintergrund eines kleinen halbrunden Felsenzirkels liegt der vom Gestrüpp überwachsene Eingang zu ihr, auf etwa einem Drittel der Höhe der Felswand über dem Wasserspiegel, von weitem kaum bemerkbar. Im Innern aber wölbt sich ein wunderbarer Dom von reinem, bläulichweißem Gestein, dessen Decke von den riesigen, schlanken Tropfsteinsäulen getragen zu werden scheint. Das stille, bläuliche Licht, das wie eine kühle Flut alles umfließt, taucht ihn in einen märchenhaften Schimmer. Zauberisch wirkt dies Licht, wenn man aus den mehrere 100 Meter noch ins dunkle Berginnere sich fortsetzenden Klüften, die wir mit Fackeln bis zu ihrem Ende durchklettern, wieder zurückkehrt. Im Innern der hohen, reinlichen und trockenen Höhle hat der unberührte Tropfstein, der in der Form von gefrorenen Kaskaden überall die Wände bedeckt oder wie Büschel versteinerten Frauenhaars herniederhängt, im Fackellicht ein wunderbar reines, von einem rötlichen Hauch getöntes Cremeweiß.

Mit gleichem Recht trägt ihren Namen auch die »Insel der Überraschung«. Hier wölbt sich hinter ganz ähnlich unscheinbarem und mit Gestrüpp verhülltem Eingang, den nur der Kundige findet, eine ebensolche Höhle. Doch sie öffnet sich nicht mit einem Male dem Besucher, sondern er betritt erst ein kleineres, verhältnismäßig unbedeutendes Vorgemach. Dann aber geht es durch einen dunkeln Spalt im Hintergrunde, so eng und niedrig, daß er kaum den Durchlaß gewährt. Plötzlich weitet er sich wieder, und nun stehen wir in einem wahren Riesengewölbe, das vielleicht nicht ganz so hoch wie die Eingangshalle der Grotte des merveilles, aber noch viel weiter gespannt ist. Ein einziger mächtiger Tropfsteinpfeiler von ungeheurer Dicke hilft hier heut das Gewölbe tragen. Es ist von einer so kühnen Weite und Flachheit, daß man kaum versteht, wie es sich halten konnte, ehe jener Pfeiler gebildet war. Durch Öffnung flutet auch hier das Tageslicht hinein und erfüllt die Grotte mit dem magisch bläulichen Glanz. Und auch hier setzt sie sich in Spalten ins Innere des Berges fort. Ich folgte einem solchen ins Dunkel, bis nach einiger Zeit ein ferner Lichtschimmer einen zweiten Ausgang andeutete. Der Spalt führte schräg aufwärts. Auf äußerst schwierigem, schlotartig engem Kletterpfade ging es empor. Endlich öffnete er sich über meinem Haupte. Ich schwang mich hinaus und befand mich nun oben auf der Oberfläche der Insel. Oder vielmehr sah ich mich in einem trichterförmigen Felsringe, dessen Boden von den messerscharfen und stahlharten Kalkschratten gebildet war, die ein Weiterklettern ausschlossen. Eine üppige Wildnis von Busch- und Rankenwerk erfüllte den Kessel, über ihm wölbte sich die blaue Glocke des Himmels, eine fremdartige, totenstille, wunderbare Welteinsamkeit.

Aber eine noch größere Überraschung birgt dieselbe Insel. An einer andern Stelle ihrer vielgewundenen Ufer erscheint die Hohlkehle über dem Wasserspiegel, die auch hier wie überall die senkrechten Wände umsäumt, schon von weitem etwas geräumiger und dunkler als sonst. Näher kommend sieht man, daß hier in der Höhe der Meeresfläche eine tiefere Kohle in den Fels hineingeht; und ist man gerade davor, so gewahrt man mit Erstaunen, daß sie nach kurzer Strecke auf der andern Seite wieder zum Licht führt. Wir setzten unser Beiboot aus und ruderten durch diese etwa 30–40 Meter lange Höhlung hindurch, deren Decke durchschnittlich 5–8 Meter über dem Wasserspiegel lag. Sie führte in den wunderbarsten natürlichen Hafen, den die Phantasie ersinnen könnte, in einen großen, mit Wasser erfüllten Felsenzirkus von 150–200 Meter Durchmesser, den 80–90 Meter hohe, senkrechte, bebuschte Wände rings umgaben; es gibt keinen andern Eingang in diesen im Innern der Insel gelegenen See als die eine Öffnung, die zur Flutzeit fast geschlossen sein muß.

Geradezu unerschöpflich ist die Fülle der Formen jener kleinen und kleinsten Inseln und Klippen, die auf den französischen Seekarten so wunderliche Namen erhalten haben. Wirklich ragen sie in den sonderbarsten Gestalten empor, an Türme, Säulen, Obelisken, Mützen, allerhand Tiere und Fabelgebilde erinnernd. Hier sind sie dicht zusammengedrängt, dort stehen sie frei und einzeln auf ihrem schmalen Sockel über der Flut. Ein solches Inselchen, La Voile, erhebt sich ganz vereinzelt inmitten der weiten Buchtfläche; als eine hohe und schmale Felswand steigt es auf und sieht von unten aus wie das Segel eines Eingeborenenfahrzeugs. Wer diese ganze Formenwelt auch nur einigermaßen vollständig kennen lernen wollte, würde, auch wenn er eine Dampfschaluppe zur Verfügung hat, mindestens acht Tage dazu gebrauchen.

Das merkwürdigste und rätselhafteste Naturspiel ist aber doch wohl das Gebilde, das man den »Tunnel« nennt. Es lag im Hintergründe der Eßstäbchen-Bucht, die ich am letzten Tage meiner Reise durchkreuzte. Wieder einmal fuhren wir hier geradewegs auf eine mächtige, steile, anscheinend undurchdringliche Bergwand los. Diesmal wollte sie sich aber auch bei nahem Herankommen nicht lösen und gliedern; sie blieb eine starr geschlossene Riesenmauer, die fast senkrecht vor uns aus dem Meere emporstieg. In kurzer Entfernung von ihr ließ der Kapitän unsere Jacht halten und lud mich ein, das diesmal von ihm selbst und den besten seiner Leute geführte Beiboot zu besteigen. Ein großes Bündel Fackeln lag am Boden des Fahrzeuges. Wir ruderten auf eine Stelle der Wand zu, wo auf einer niedrigen vorspringenden Klippe ein kleines Gebäude stand, ein unbewohntes, von Fischern aus Bambus und Palmblattgeflecht errichtetes Tempelchen. Hier wurden die langen Streichruder niedergelegt, und mit kurzem Paddeln ging es weiter, in eine ganz schmale und niedrige Höhlung am Fuß der Felsenwand hinein. Und nun kam das Merkwürdigste, was sich denken läßt. Die Höhlung setzte sich fort in das Innere des Berges, in der Gestalt eines richtigen, aber doch völlig natürlich gebildeten Tunnels von nahezu unveränderter Breite und Höhe, der gerade in Meereshöhe verlief. Die Breite betrug durchschnittlich etwa 6, die Höhe vom Grund bis zur Decke 3–4 Meter, wovon zur Zeit durchschnittlich 1 ½ Meter mit Wasser bedeckt waren. Wir zündeten zwei unserer aus zersplissenen Bambusstäben gebildeten Fackeln an und fuhren in das Dunkel hinein. Minute um Minute verrann, fünf, zehn, fünfzehn Minuten; unbeirrt strebte unser Boot in rascher Fahrt voraus. Zwei Mann stakten, der Kapitän saß am Steuer, rechts und links im Vorderteil erleuchtete je ein Mann den Weg mit der Fackel, und an der Spitze stand einer, der den Kahn mit einer langen Stange von den Felswänden abhielt oder von den hier und dort aus dem Grunde ragenden Felsblöcken. Diese entsprachen in der Regel Höhlungen an der Decke und schienen von dort herabgestürzt zu sein.

Welch eine geheimnisvolle Reise in diesem seltsamen, festgeschlossenen Stollen, dessen Decke genau wagerecht dem Meeresspiegel folgte! Stellenweise machte er Winkel, zeigte auch hier und dort eine Ausbuchtung, in deren Dunkel sich das tanzende Licht der Fackeln verlor; im allgemeinen aber war er von einer Regelmäßigkeit, die sich durch natürliche Kräfte schwer erklären ließ. Und doch kann an eine andere Erklärung nicht gedacht werden. Es war warm in dem horizontalen Schacht, aber nicht stickig, so daß eine Luftzirkulation stattfinden mußte, und wenn auch in dem Wasser keine Bewegung sichtbar wurde, so bewiesen doch frische Baumblätter, die auf der Oberfläche schwammen, daß auch eine Strömung da war. Die Wände zeigten das rötliche Weiß des Tropfsteinüberzugs. Bis zu einer gewissen Höhe über dem Wasser waren sie von Muscheln bedeckt; an einigen Stellen hing die Decke so tief hernieder, daß auch sie mit Muscheln besetzt war; d. h. zur Flutzeit reicht hier das Meerwasser, dessen Ebbe- und Flutunterschied über 2 ½ Meter beträgt, bis an die Decke des Tunnels, und ein Weiterkommen ist dann nicht möglich. Ein Boot würde, wenn es sich an einer solchen Stelle befände und nicht eine benachbarte geräumigere gewinnen könnte, gegen die Decke gedrückt werden. Es war ein beklemmender Gedanke, sich vorzustellen, daß hier irgendeine Unvorsichtigkeit der Steuerer oder ein herabfallender Stein unserm Boot einen Schaden zufügen könnte; oder auch nur, daß unsere Fackeln zu Ende gingen, ehe wir wieder heraus waren.

Schon hatten wir gut anderthalb Kilometer im Herzen des Berges zurückgelegt, da drang ein kühler Luftzug über meine Stirn, und unmittelbar darauf wurde vor uns auf dem Wasser ein matter Lichtschimmer sichtbar. Nach genau 20 Minuten Fahrt glitten wir wieder ins Freie; wir hatten die Bergwand durchfahren und befanden uns nun auf der andern Seite, in einem Wasser, das zwischen dieser und dem Festlande sich ausbreitete. Nach den Angaben des Kapitäns kommt man von hier in geringer Entfernung zu einigen chinesischen Fischerdörfern am Strande; allein der Ebbestand war zu niedrig, um diesen Weg gegenwärtig zu gestatten. Wir kehrten hier um und mußten, um zu unserm Schiff zu gelangen, noch einmal rückwärts den unterirdischen Meeresweg durchfahren, der die Fabeln des Märchens vom Sindbad dem Seefahrer zur Wahrheit macht.

Hier hat das chinesische Piratentum noch bis vor kurzem üppig geblüht und die Gunst der Verhältnisse ausgenutzt. Es ist den älteren Leuten der Gegend noch wohlbekannt, wie auf der Bai von Faitsilong lange Zeit hindurch solche Seeräuber auf unerklärliche Weise zu erscheinen und, wenn die französische Behörde sie nach einem räuberischen Überfall verfolgte, mit ebensolcher Unbegreiflichkeit fast vor ihren Augen wieder zu verschwinden wußten. Die Seeräuber waren Einwohner jener Stranddörfer in der Nähe des großen natürlichen Wassertunnels, dessen Vorhandensein der Behörde damals noch unbekannt war und den sie benutzten. Heut, nach genauer Erkundung und kartographischer Aufnahme des Gebiets, ist die französische Verwaltung dieser menschenfreundlichen Tätigkeit ebenso vollständig Herr geworden wie des Räuberwesens zu Lande.

Wie die natürliche Entstehung all dieser Gebilde zu denken ist, bleibt noch zu erforschen. Auf den ersten Blick könnte man geneigt sein, die spülende Arbeit des Meerwassers allein für alles daran verantwortlich zu machen, denn der Bereich dieser Formen schließt genau mit dem heutigen Ufer des Meeres ab; nur soweit wie das Meerwasser reicht, finden wir die steilen Inseln und Felsenwände; auf dem Festlande daneben treten sofort weiche Bergformen mit schwachgeneigten Gehängen auf, obwohl der Kalkstein auch weiter landein herrscht. Allein diese Beobachtung verliert ihre Beweiskraft dadurch, daß anderswo doch auch im festländischen Innern Tongkings ganz dieselben Gebilde vorkommen. Wenn man mit der Bahn von Hanoi nach Langson fährt, so sieht man nach etwa vierstündiger Fahrt von links her eine 100–150 Meter hohe Bergkette an die Bahnlinie herantreten und sie lange Zeit begleiten, die die ausgeprägteste Ähnlichkeit mit den Gebilden der Drachenbucht hat. Eine fortlaufende Kalkwand von der äußersten Schroffheit, die unvermittelt und nahezu senkrecht aus dem flachen Talboden aufschießt; auf der Höhe mit Gipfeln versehen, die auf weite Strecken hin in nahezu der gleichen Ebene liegen, im einzelnen aber zu scharfen Zacken und Zähnen ausgenagt sind. Zuweilen treten auch vorgelagerte Felsberge mitten im Tale auf, in ihrer Isolierung, Steilheit und ihrer Formengebung überhaupt aufs lebhafteste an die Inseln der Bai erinnernd. Besonders tritt diese Ähnlichkeit hervor in der großen, durch die Kämpfe der Franzosen mit den Chinesen berühmten Talebene von Langson selbst, wo ich mehrere Gruppen solcher Inselberge sah, die ganz ähnliche bizarre Naturspiele aufwiesen. Unter anderm auch eine Reihe von Höhlen, die an Größe wohl etwas hinter der Insel der Wunder und der Insel der Überraschung zurückbleiben, der Art nach aber genau ebenso gebildet sind. Die größte dieser Höhlen hatte, ganz wie die Insel der Wunder, ihren überwachsenen Eingang im Hintergrund eines großen Halbrunds von Bergen, die sich um eine flache Talebene herumschließen. Würde Wasser die Ebene von Langson überfluten, so würden wir genau das Bild der Inseln der Baie d'Along haben. Sollte das Meer allein die phantastische Formenwelt der letzteren verursacht haben, dann müßte man das gleiche auch für die Berge von Langson annehmen und sich vorstellen, daß auch diese einmal ähnlich wie die heutige Inselwelt der tongkinesischen Küste aus dem Meer aufgeragt haben.

In der Drachenbucht und ihrer Umgebung liegt eine Aufgabe für einen Geologen vor, wie sie sich anziehender und genußreicher nicht leicht denken läßt.


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