Georg Wegener
Erinnerungen eines Weltreisenden
Georg Wegener

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17. Bauerntheater in Birma

Das Schiff liegt still mitten auf dem mächtigen Irrawadi, der leise gurgelnd an dem Bug vorüberzieht. Morgen soll ich Bhamo erreichen, den entlegenen Grenzort Birmas, von wo die uralte Handelsstraße über die Gebirge nach China hinübergeht. Wundervolle Weltferne atmet alles um mich herum.

Ich sitze nach dem Abendessen, das wir wenigen Reisenden mit dem Kapitän zusammen eingenommen, draußen auf dem Verdeck und schaue in die tiefe Nacht hinaus.

Nur so viel läßt der matte Flimmer der Sterne erkennen, daß die beiden Ufer des Stroms einander näher als früher liegen und daß sie höher sind als zuvor. Wir nahen uns den Bergen. Sonst ist nichts zu unterscheiden. Zwei oder drei kleine Lichter etwas stromabwärts am Uferrande verraten, daß dort menschliches Leben ist. Verworrenes Geräusch, Musik von Eingeborenen-Instrumenten und einzelne, zusammenhanglose Töne von Gesang klingen aus dem Dunkel herüber.

Das Geheimnisvolle dieser verlorenen Klänge reizt mich. Ich frage den Kapitän, was sie wohl zu bedeuten haben. »Oh,« meint er, »wahrscheinlich nichts von besonderem Interesse. Vielleicht sitzen nur ein paar Leute um ein Feuer und musizieren sich was. Vielleicht ist es auch ein Begräbnis, bei dem sie immer Spektakel machen.«

»Ist es wohl möglich, daß ich einmal hinüberrudere und mir die Sache ansehe?«

»Aber gewiß. Ich gebe Ihnen gern ein Boot. Und ich kann Ihnen auch meinen birmanischen Schiffsklerk mitschicken, damit er für Sie dolmetscht.«

Ich fragte unter den Passagieren, ob jemand Lust habe, mitzukommen. Niemand wollte. Nur der zweite Offizier, ein junger, frischer Mensch, entschloß sich, mich zu begleiten.

Ein Boot wurde zu Wasser gelassen, und wir kletterten hinein. In diesem Augenblick hatte der Kapitän die Liebenswürdigkeit, den Scheinwerfer anzustellen, um unsern Pfad zu beleuchten.

Wie wunderschön das war! In seinem Licht trat plötzlich, wie durch Zauberei, ein kleines Dorf auf einer Anhöhe am Ufer aus dem Nachtdunkel hervor; wieder, wie ich es im vorhergehenden Abschnitt schilderte, in jener unnatürlichen, theaterhaft grellen Art, die der elektrische Scheinwerfer den Dingen in der Nacht verleiht; wo alle Farben bengalisch bunt sind und die scharfen Schlagschatten die Bäume und Häuser flach, wie aus Pappe geschnittene Kulissen, erscheinen lassen.

Binnen kurzem waren wir am Ufer und sprangen auf den weißen Sand. Wunderliche Gebilde lagen dort herum, in der fremdartigen Beleuchtung zunächst nicht zu erkennen. Waren es dicke, graue Baumstämme? Waren es große runde Steine? Oder waren es rätselhafte Lebewesen von unbekannten Formen? Schwerfällig erhoben sie sich erst, eines nach dem andern, als wir fast auf sie traten. Es waren mächtige graue Wasserbüffel, verdutzt von dem blendenden Schein, die wir hier aufscheuchten. Mit plumpen Sprüngen, in den großen Augen das fremde Licht, entfernten sie sich.

Zwischen Holzlagern und auf den Strand gezogenen Kanus erklommen wir den Uferrand und betraten den Eingang der von zwei Häuserreihen eingefaßten Dorfstraße. Wie feurige Finger griffen die Strahlen des Scheinwerfers zwischen den einzelnen Hütten und den Pfählen der hohen Plattformen hindurch, auf denen sie standen. Menschen sahen wir zunächst nicht; wohl aber hörten wir die Dorfhunde, die rebellisch wurden und uns wütend von nah und fern anbellten. Eine unbehagliche Lage. Wir faßten unsere Stöcke fester und schritten vorwärts, einem Lichtschimmer zu, der in einiger Entfernung vor uns durch die Bäume fiel und von woher die Musik, jetzt aus größerer Nähe, kam. In diesem Lichtschimmer nahten sich einige menschliche Gestalten. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, wohl aber erkannte ich, daß man uns mit Freundlichkeit begrüßte.

Nur ein paar Schritte weiter und wir waren auf dem kleinen Hauptplatz des Dorfes angelangt, den ein paar riesige Bäume überwölbten und einige Hütten im Viereck umgaben. Hier sah die ganze Bewohnerschaft des Dorfes, um einzelne Feuer gruppiert: Männer, Frauen und Kinder, bis zu ganz kleinen herunter. Einige geflochtene Matten bedeckten die Mitte des Platzes, und ein paar an Bambusstangen aufgehängte Öllampen beleuchteten diesen Raum.

Es war hier – und nichts anderes war der Grund der Musik – ein pwé im Gange, die Aufführung eines jener volkstümlichen Dramen, mit Königen, Helden und Dämonen, die dem ganzen birmanischen Volke von Jugend auf vertraut sind, die es schwärmerisch liebt und auswendig weiß, und die bei Festlichkeiten irgendwelcher Art von den Dörflern selbst dargestellt werden. Die Kosten bestreitet entweder ein reicher Gönner oder eine Sammlung Haus bei Haus im Dorfe.

Die Handlung stockte, als wir den Dorfplatz betraten. Eine Respektsperson, ein Dorfältester oder Dorfschulze, trat uns entgegen und begrüßte uns verbindlich; auf seinen Wink wurden aus den benachbarten Häusern zwei Lehnstühle europäischer Form herbeigeschafft, auf denen wir Platz nahmen; dann ging, ohne daß viel mehr geredet wurde, das Spiel weiter. Der birmanische Dolmetscher, den wir mit uns hatten, stand neben uns und gab uns Erklärungen der Vorgänge. Leider war seine Geschicklichkeit sehr beschränkt, so daß ich nur in ganz allgemeinen Zügen erfassen konnte, um was es sich handelte. Im Mittelgrunde des Vorgangs saß ein Mann auf einem Stuhl und stellte einen König vor; in gemessener Entfernung von ihm standen drei andere, die Minister waren. In singender, feierlich getragener Sprechweise befragte sie der König um den Stand der Dinge in seinem Lande, und zwar schien ihm dabei ganz besonders daran zu liegen, zu erfahren, ob auch die Klöster und Pagoden gut imstande, ob die Mönche und Priester wohlgehalten seien und es ihnen an nichts fehle. Das war nicht unbezeichnend, denn diese Dramen, obschon weltlichen Inhalts, sind doch von den Priestern, wenn nicht verfaßt, so doch wesentlich beeinflußt, da sie Träger und Bewahrer der gesamten Bildung des Volkes sind. In ähnlich singendem Tone antworteten die einzelnen Minister und versicherten, daß die Priester höchst zufrieden und daher das Land sehr glücklich sei. All das wurde in endlosen, offenbar höchst blumigen Reden vorgebracht, unter gelegentlicher Begleitung einer kleinen, im Dunkel des Hintergrundes für mich unsichtbaren Musikbande, ähnlich wie bei dem Secco-Rezitativ unserer alten Oper. Besondere Trachten trugen die Schauspieler nicht, nur extra saubere und neue seidene Kleidung. Es war eben ein ganz kleines und armes Dorf, das auch seine Freude haben wollte, ohne viel Aufwand treiben zu können. Jetzt trat eine »Prinzessin« auf, ein niedliches junges Mädel, mit ihrer Gefolgsdame, einem ein wenig älteren Mädchen. Das Prinzeßchen trug nun doch ein, wenn auch bescheidenes, Theaterkostüm; ihr eng anliegendes Jäckchen über dem seidenen Sarong war vorn mit bunten Metallflittern besetzt und unten am Rande war es durch irgendwelche Drahteinlage zu jenen phantastischen, nach oben strebenden Schwingungen aufgebogen, die so eigentümlich für die Tracht birmanischer Götter, Helden und Hofpersonen sind, die man auf all den stilisierten Schnitzereien der Birmanen findet und die den Hoftrachten aus der letzten Zeit des burmesischen Königtums, wie sie im Palast von Mandalay aufbewahrt werden, ein Aussehen geben, als beständen sie aus lauter nach oben flackernden Flammen. Auf dem Kopfe trug sie eine der zu dem Putz gehörigen spitzen Kegelmützen. Die junge Dame wurde von lebhafterer Musik des unsichtbaren Orchesters und einem Gesangschor, der ebenfalls im Dunkel hinter der Szene hockte, begrüßt und begann mit ihrer Gefährtin nun einen der birmanischen Tänze, die aus einem langsamen Hinundwiederschreiten, einem Hinundherwerfen der Hüften und merkwürdigen Biegungen der Arme, Hände und Finger bestehen. Der Körper nimmt dabei jene aus den landesüblichen Bildwerken bekannten Haltungen an, die Hüfte weit rechts oder links herausgebogen, den Kopf entsprechend geneigt, so daß die ganze Gestalt eine geschlängelte Linie bekommt, während die Arme in streng stilisierten rechtwinkligen Beugungen davon abstehen. Das junge Ding, in ihrem gewöhnlichen Dasein gewiß arbeitsame Haustochter des Dorfhauptes, bot sicherlich keine erstklassige Leistung, aber sie war doch graziös und jugendlich anmutig und übte ihr Amt mit ruhiger Sicherheit, ohne sich durch die unerwartete Anwesenheit der Fremden beeinflussen zu lassen. Das andere Mädchen ahmte alle ihre Bewegungen nach, auch nicht übel, und es war ein allerliebstes Schauspiel. Nur daß es, wie all diese Dinge für den ungeduldigen Europäer, endlos lange dauerte. Endlich traten die Mädchen ab, d. h. sie mischten sich unter das Publikum, an einem der Feuerchen sich niederhockend, ohne daß ich recht begriff, was sie eigentlich gewollt hatten. – Nun kam von der andern Seite her ein »Prinz«, ein schlanker, junger Bursche, begleitet von einigen andern, und hielt eine längere Ansprache, unterbrochen von seinen Freunden, deren Zwischenreden, wie es schien, höchst humoristisch, wahrscheinlich sogar recht derb waren, denn homerisches Gelächter der Zuschauermenge begleitete sie jedesmal. Hierauf nahte sich ein älterer Mann und nahm Platz auf dem einzigen auf der Bühne stehenden Stuhl, der je nach Bedürfnis Thron oder Altar oder sonst etwas zu bedeuten schien. Er wurde mit großen Ehrenbezeugungen von den anwesenden Darstellern begrüßt und sollte einen höheren Priester vorstellen. In der Tat hielt er, wie es schien, höchst erbauliche Ermahnungen, die die andern ehrerbietig, zur Erde niedergeworfen, anhörten. Im weiteren Verlauf der Sache vermählte dieser Priester den Prinzen mit der wieder auftretenden Prinzessin, die beide vor ihm knieten. Dann zog er sich, samt dem übrigen Gefolge, diskret zurück, und es erfolgte nun ein Wechselgesang der beiden, eine Liebesszene, wie mir der Dolmetscher versicherte.

Auch ich hielt es allmählich an der Zeit, mich zurückzuziehen. Aber der Dorfälteste ließ mir sagen, ich solle doch noch etwas warten, es käme gleich noch eine zweite Prinzessin. Richtig, nach einiger Zeit trat ein neues junges Mädchen auf, ähnlich in Flitter gekleidet, und begann in ähnlicher Weise wie die erste Gesang und Tanz. Wie es schien, hatte sie ältere Ansprüche an den Prinzen geltend zu machen, kam jedoch augenscheinlich zu spät mit ihnen. Dies junge Ding hatte entweder schlecht gelernt oder sie zierte sich vor uns Fremden. Sie lachte, drehte sich verlegen ab, statt zu antworten, wenn an sie die Reihe im Wechselgesang kam, bewegte sich ungeschickt im Tanz und blieb zuletzt ganz stecken. Unwillig sagten ihr die Umsitzenden, die das Stück alle auswendig konnten, zu; aber sie war das richtige alberne Gör, es war nichts mit ihr zu machen. Um so wohlgefälliger ließ sich ihre Partnerin hören, es schien, als ob sie im Stolz wüchse; sie sang noch einmal so laut und drehte ihr Körperchen im Takt noch einmal so geschmeidig wie vorher und rettete die Lage.

All das war, ich wiederhole es, außerordentlich bescheiden, aber gerade darum von einem ganz besonderen Reiz. Wie hübsch war es, daß es so etwas überhaupt auf der Welt noch gab wie diese einfachen Bauersleute, die nach des Tages Arbeit sich hier in warmer Nacht zusammentaten, um sich hochtönende und feierliche Verse vorzudeklamieren. Wie drollig waren diese kleinen menschlichen Leistungen und Eitelkeiten, die sich dabei, wie anderswo auch, entfalteten. Wie phantastisch die Lichtstimmung des Bildes: diese kleinen Feuerchen, um die, halbbeleuchtet, ernsthaft scheinende oder lachende und kichernde Gestalten herumsaßen. Von Zeit zu Zeit flackerten sie höher auf, wenn einer der Buben ein neues Holzscheit hineintat. Wie fremdartig die seltsame Musik, die aus dem Dunkel hervortönte! Wie reizend diese ruhige, natürliche Gastfreundschaft, die ich hier in so später Stunde und so völlig fremder Umgebung genoß!

Ich erhob mich jetzt, nach Verständigung mit meinem Begleiter, trat auf den Dorfältesten zu, ließ durch unsern Dolmetscher unsern Dank und unsere höchste Zufriedenheit mit den Leistungen, die wir gesehen, aussprechen, und bekräftigte diese Gefühle durch Überreichung einiger Rupien. Das Theaterspiel hatte so lange innegehalten. Der alte Herr verneigte sich mit gemessenem Anstand und ebenso die ganze Schauspielergesellschaft, und wir schritten von dannen, denselben Pfad, den wir gekommen waren, zu unserm Boot. Der Scheinwerfer hatte seine Tätigkeit längst eingestellt, da wir zu lange blieben, doch die gewöhnlichen Lichter unseres Dampfers leiteten uns ohne Mühe zu ihm zurück.

Wenige Minuten später saß ich wieder genau wie vorhin auf dem Verdeck über dem dunklen Strom; nur ein paar kleine Lichtpunkte am Ufer zeigten die Stelle, wo ich gewesen, und ein paar verworrene Klänge, wie vorher, deuteten an, daß das Schauspiel dort seinen Fortgang nahm. Für mich war der Vorhang wieder gefallen über jener merkwürdigen kleinen Welt, in die ich, wie in einem Märchen, einen einzigen Blick hatte tun dürfen.


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