Georg Wegener
Erinnerungen eines Weltreisenden
Georg Wegener

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18. Die sieben Pagoden

Gegen ½ 9 Uhr abends setzt sich das Boot südwärts von Madras in Bewegung, einen langen, schmalen, von einförmigen Sandufern eingefaßten Kanal entlang. Einer meiner Leute zieht das Boot, auf einem Treidelpfade dahinschreitend, ein anderer schiebt an einer langen, am Hinterteil angebrachten Bambusquerstange.

Um ½ 2 Uhr nach Mitternacht langen wir an einer Schleuse an, mittels deren der Kanal in die Lagunen der Koromandelküste mündet. Ein dumpfes Rauschen wie das eines mächtigen, ganz nahen Wasserfalls klingt an mein Ohr. Ich vermag zunächst nicht klug daraus zu werden, bis ich merke, daß es das Brausen des Meeres hinter den Dünen ist, die seewärts die Lagunen begleiten. Bald schwimmen wir auf dem breiten, flachen Wasser dieser Lagunen, die nur ein schmaler Sandhügelzug von dem unsichtbaren Meere zu trennen scheint, denn mächtig tönt das Brausen durch die stille Nacht herüber und begleitet mich nun während der ganzen Fahrt. Meine Leute waten jetzt einfach durch das flache Wasser. Sie haben sich, der Nachtkühle halber, weiße Tücher um die Schultern gelegt und sehen in dem flimmernden Mondlicht über der Flut aus wie Gespenster. –

Um ½ 7 Uhr früh weckt mich mein Diener mit fertigem Tee, Jam, Bananen und frischem süßen Backwerk. Die Sonne ist aufgegangen und gießt Freude und Lebenslust in die Seele. Ein angenehmer Morgenwind hat sich aufgemacht, meine Leute hocken am Bordrand und haben ein Segel aufgezogen, in dessen Schatten ich nun an Deck sitze und nach den wunderbaren Tempelruinen ausspähe, die ich in dieser weiten Einsamkeit finden soll; Bauten, von denen niemand mehr weiß, wer sie einst aufgerichtet hat.

Endlich, gegen 10 Uhr, hält mein Boot an, und ich werde bedeutet, wir seien zur Stelle. Verwundert sehe ich auf dem östlichen Ufer, wo die Stätte liegen soll, nichts als riesenhaftes Granitblockgeröll, das in wirren Massen zwischen Palmyrapalmen und Pandanusgestrüpp emporragt. Ich springe aus dem Boot an den flachen Strand und eile auf einem schmalen Damm zwischen Reisfeldern auf den nächsten dieser Granitblöcke zu. Je näher ich komme, eine um so merkwürdigere Form erhält er. Angelangt, sehe ich zu meinem Staunen, daß der ganze mächtige Block durch Meißelstriche zu dem Abbilde eines Tempelchens umgeformt ist. Einen Innenraum besitzt er allerdings nicht, die Außenseite aber zeigt die übereinandersteigenden Terrassen mit Pfeilern und Dächern wie eine indische Tempelanlage. Nischen mit Ornamenten und Figuren sind hineingehauen; alles aus dem härtesten Gneisgranit herausgearbeitet.

Ähnlich zubehauene Granitblöcke, ganz regellos neben unbearbeiteten liegend, sind noch mehrfach in der Nähe des Kanals zu sehen. Ein weit dichteres und mächtigeres Blockgeröll winkt aber auf der Höhe des, hier 2 ½ Kilometer breiten, Landstreifens, der die Lagunen vom Bengalischen Meerbusen trennt.

Die gegenwärtige Siedelung, die Mahavellipur heißt, ist ein ganz armseliges Eingeborenendorf, das ziemlich weit von der Ruinenstätte entfernt liegt; man sieht es hier gar nicht. Alles rings ist nur Dünensand und wildes, prachtvolles Granitgetrümmer. Die Blöcke haben hier riesenhafte Größe und sind teilweise zu wirklichen Tempeln ausgehauen, in die man durch ein säulengetragenes Tor hineintreten kann. Jeder einzelne ist mit allen Zieraten aus einem einzigen Block herausgearbeitet. Im Innern findet man an den Wänden Reliefbildwerke von wunderbarer Lebendigkeit, noch ohne die groteske Übertreibung der Hüften und Brüste und verrenkten Gliedmaßen, wie wir sie an den zeitlich viel späteren Tempelbauten der südindischen Nachbarschaft kennen. Überall sieht man noch die Meißelstriche: ja häufig genug hat man den Eindruck, als seien die Arbeiten nicht fertig geworden, als habe eine plötzlich hereinbrechende Katastrophe das Geschlecht vertrieben oder vernichtet, das in so seltsamer Felsenwildnis, in so öder Abgeschiedenheit am einsamen, hafenlosen Meere hier seine Kunstwerke aufführte.

Eines der merkwürdigsten Schaustücke Mahavellipurs ist ein uraltes Felsenrelief, das eine 27 Meter lange und 9 Meter hohe, senkrechte, aus zwei Riesenblöcken gebildete Granitwand völlig überdeckt mit Massen von menschlichen und mythologischen Figuren, vielarmigen Göttern, Elefanten, Affen, Löwen, Tigern, allerlei Vögeln und Schlangen, die schwer zu deuten sind, teilweise aber eine große Lebenswahrheit besitzen. So die gewaltigen Elefanten auf der unteren Hälfte des rechten Steines. Auch humoristische Darstellungen finden sich darauf. Ein Kater z. B., der vor Ratten eine Buße ablegt. In der Spalte zwischen den zwei Blöcken schweben heilige Schlangen-Gottheiten; oben eine Schlange mit Mannes-, unten eine mit Frauenkopf, zu unterst eine richtige Kobraschlange. Man erklärt das Relief als eine symbolische Darstellung der buddhistischen friedlichen Versöhnung und Verbrüderung der Kreatur.

Andere merkwürdige Bildwerke erreicht man etwas abseits auf einer höchst unerfreulichen Wanderung durch tiefen weißen Mahlsand, den nur einige Kriechgewächse nebst Kakteen und niedrigem Stachelgestrüpp überziehen. Fünf Tempelchen altertümlicher, dravidischer Form liegen hier beieinander, alle aus einem einzigen Felsrücken gehauen, der ehemals zusammenhängend sich über den Sand erhob. Ein trefflich gearbeiteter Steinelefant steht daneben, desgleichen ein weniger überzeugend gestalteter Löwe. An diese, zusammen sieben, Heiligtümer knüpft sich der üblich gewordene Name » Seven pagodas« (Sieben Pagoden) für die ganze Ruinenstätte an, der in Wahrheit aber viel zu wenig zählt.

Ein neuer Marterweg durch glühenden Sand führt mich an die Meeresküste, wo hart am Strande, den Meereswellen mit den Fronten zugekehrt, noch allerlei andere wunderliche Gebilde sich finden. Vor allem eine Pagode – die größte von allen –, die sich von den andern dadurch unterscheidet, daß sie nicht aus einem Stein gehauen, sondern aus Werkstücken aufgeführt ist. Seltsam sieht der einsame graue Tempel hier an stiller, vollkommen verlassener Meeresküste aus. Er steht so hart am Strande, daß bei Flut und Oststurm die Wellen in die Halle hineinspritzen müssen, die sich nach der Seeseite hin öffnet.

In einer dunklen Innenkammer dieses Tempels liegt ein schlafender Riese aus Stein von gewaltigen Verhältnissen; vor ihm eine Inschrift auf einer Steintafel. Vielleicht führte einst ein Vorbau zum Meere hinab: noch jetzt ragt aus den Wellen vor dem Tempel ein vierkantiger Steinpfeiler hervor, und allerlei Bauteile, Platten, Pfeiler und zerfallene Werkstücke liegen in regellosem Durcheinander im Wasser, überzogen mit schlüpfrigem Seetang.

Die Felsblöcke, die hier in der Nachbarschaft aus dem Seesande hervorragen, sind auf ihrer dem Meere zugekehrten Seite mit verwaschenen Steinschnitzereien bedeckt, in denen man einen Elefanten, ein Pferd oder Göttergestalten erkennt. An andern aufragenden riesigen Blockwülsten werden nur bei längerer Betrachtung, dann aber plötzlich wie Spuk, geformte Gestalten deutlich: ein Steinkopf, eine Menschenhand, das übrige roher Fels.

In ein paar Meilen Entfernung von der Stätte der »sieben Pagoden«, am Eingang des Eingeborenendorfes, sah ich noch ein Granitbildwerk, das, wie man aus der Abgeschliffenheit der Formen des harten Steins erkennt, sehr alt ist und vielleicht von seinem ursprünglichen Standort dorthin geschleppt wurde. Es ist eine lebensgroße Affengruppe aus Granit von großer, humorvoller Lebendigkeit. Hinten sitzt der männliche Affe und laust seine Gattin, die währenddem ein Junges säugt. Dieses, wie verschiedene andere Bildwerke in den Tempeln von Mahavellipur zeugen von einer ausgezeichneten Beobachtung der Natur und von einer erheblich größeren Künstlerschaft, als sie die spätere dravidische Kunst aufweist. Von Wert ist auch ein Vergleich der Trachten, die auf diesen Bildwerken dargestellt sind, mit den heutigen. Im allgemeinen ist die Wandlung im Lauf der Jahrhunderte überraschend gering. Die Kleidung der Männer ist noch fast ganz dieselbe wie gegenwärtig. Bei den Frauen erkennt man, daß sie ehedem viel mehr entblößt gingen als heute, fast nur mit Hüftschurz bekleidet. –

Der heiße Tag in den Ruinen der rätselvollen Stadt ging zu Ende. Ich bestieg mit Einbruch des Abends mein Schifflein wieder und fuhr zurück gen Norden, nach Madras.

Die Sonne war eben am Untergehen, als das Boot noch einmal am Ufer anlegte. Der Führer winkte mir, ihm durch ein raschelndes, staubiges Palmengestrüpp zu folgen. Nach wenigen Schritten tat es sich auseinander. »Die Tigerhöhle«, sagte der Inder leise, wie in einer Art abergläubischer Scheu, und vor mir sah ich fremdartiges Bildwerk unbekannter Herkunft, unbekannten Alters, bizarrer noch als alle die andern. In einen großen, flachrund aus dem Boden sich aufwölbenden Granitblock war vorn eine breite Höhle in der Form eines gähnenden Raubtierrachens von riesiger Größe hineingemeißelt; eine Reihe gefletschter Zähne schienen seinen oberen Rand zu umstarren. Jeder dieser Zähne war aber wiederum ein, ungefähr lebensgroßer, Tigerkopf mit aufgesperrtem, zähnefletschendem Rachen.

Rätselvoll, schauerlich stand dies Gebilde vergessener Menschenhand hier in seiner einsamen Wildnis.


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