Georg Wegener
Erinnerungen eines Weltreisenden
Georg Wegener

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15. Auf dem Gipfel des Adamspiks

Uralt und weitverbreitet auf der Erde ist die religiöse Verehrung hoher, auffallend gestalteter Berge. Und auch wohl verständlich. Sie sind doch die natürlichen Abbilder jener Altäre, die der Mensch sich unten für die Gottheit errichtet. Keinen zweiten Berg aber kenne ich, der so von der Natur vorherbestimmt erscheint, auf die gläubige Phantasie zu wirken, wie der Adamspik auf der Insel Ceylon. Einer Opferflamme gleich steigt sein Gipfel empor, eine so beispiellos regelmäßige Steilpyramide, daß sie aussieht, als hätten urweltliche Giganten sie mit dem Meißel zugehauen.

Aber die Schöpfung hat noch ein übriges getan, um ihm eine Anwartschaft auf Heiligkeit zu geben. Auf seiner obersten Kuppe findet sich, seit unbekannter Vorzeit schon bekannt, ein Naturspiel, ähnlich dem der Roßtrappe im Harz, das dem Abdruck einer riesigen menschlichen Fußsohle gleicht. Alle drei Religionen, die unter den Eingeborenen Ceylons vertreten sind, erklären sich diese Fußspur auf ihre Weise. Die mohammedanische als Fußspur Adams, der nach der Legende dort oben jahrhundertelang gestanden hat – auf einem Bein augenscheinlich –, weil er von da das versunkene Paradies noch sehen konnte; die buddhistische, die Hauptreligion Ceylons, als Fußabdruck Buddhas, der von diesem Gipfel aus in den Himmel schritt; die hinduistische als den Wischnus, der das gleiche tat. Die Anhänger aller drei Bekenntnisse finden also Ursache, den Berg in frommer Pilgerschaft zu ersteigen, und alljährlich besuchen ungezählte Tausende von ihnen den Gipfel, obwohl – oder vielleicht gerade weil – seine Ersteigung mit großen Schwierigkeiten verknüpft ist.

Es war kurz nach Mitternacht, als mich der braune Verwalter des kleinen Rasthauses von Laxapana, am Nordostfuß des Adamspiks, weckte. Man besteigt den 2241 Meter hohen Berg in der Nacht, um vor Tagesanbruch auf dem Gipfel zu sein und das Schauspiel des Sonnenaufgangs von dort zu genießen. Ein singhalesischer Führer mit einer Laterne war zur Stelle und zwei Tamil-Kulis, die das Gerät zur Bereitung von Tee auf dem Gipfel, meinen photographischen Apparat, etwas trockene Unterkleidung zum Wechseln für mich und meinen Sonnenhelm für den Rückweg trugen. Die Tropennacht war lau und schwül, der Himmel bedeckt, so daß der bereits aufgegangene Mond nicht sichtbar wurde; nur ein schwaches Licht durchdrang die Wolken und erfüllte rings die Gegend mit einem matten Dämmerschein. Undeutlich ließ sich erkennen, daß der Pfad, den wir gingen, langsam ansteigend durch Teepflanzungen aufwärts führte. Das vor mir tanzende Licht der Laterne, die der Führer nahe am Boden hielt, zeigte die Steine des Weges, hier und da ein Bachbett, das wir auf halbunterspülten Blöcken überschreiten mußten, im übrigen aber hinderte es mehr, etwas von der Gegend zu sehen; es wirkte wie eine Hypnose auf das Auge. Rauschen von Wasserstürzen war bald nah, bald fern zur Seite zu hören, sonst kein Laut in der schweigenden Nacht. Obwohl ich sehr ruhig ging, um die Kräfte zu sparen, brachte mich die dampfige Feuchte der Luft doch binnen kurzem in Schweiß. Und nicht lange, so regnete es auch.

Endlich hoben sich zur Seite des Weges riesige dunkle Felsblöcke aus dem Nachtdämmer, von seltsamen Formen. Hier waren die Teepflanzungen zu Ende. Wenn ich das Licht der Laterne mit meiner Mütze abblendete, konnte ich sehen, daß der Adamspik jetzt hinter den Vorhügeln, die ihn die letzte Zeit verborgen hatten, hervorgetreten war. Zunächst türmte sich vor uns eine mächtige Bergwand empor, der Gebirgsrücken, auf dem der eigentliche Gipfelkegel aufsitzt. Darüber stieg dann die erhabene Pyramide des letzteren wie ein wunderlicher Schatten in den mattleuchtenden Himmel auf.

»Way bad now« (Weg schlecht jetzt), sagte der Führer, und hatte unleugbar recht. Der Pfad, der bisher breit und bequem gewesen war, die moderne Anlage eines englischen Pflanzungsbesitzers, wurde plötzlich ein ganz enger Fußsteig von solcher Holprigkeit, daß Acht auf jeden Schritt geboten war. Wir stiegen zunächst abwärts, um an den Fuß der uns gegenüberliegenden Bergwand zu gelangen. Der Fußsteig wand sich in eine dichte Wildnis von Strauchwerk und niedrigem Dschungel hinein, die infolge des Regens von Nässe völlig troff. Unablässig streiften die von Feuchte schweren Halme und Zweige die Kleider, schlugen mir naßkalt ins Gesicht oder schütteten von oben einen Tropfenregen aus. Der Weg wurde schließlich so urtümlich, daß ich meinte, der Führer müsse ihn verloren haben. Doch dieser ging mit ruhiger Sicherheit weiter.

In der Tiefe rauscht ein Wasser; auf einer kleinen Holzbrücke überschreiten wir die Schlucht eines Baches, Sita Gangula, das »Kaltwasserfließ«, genannt. Der Bach ist heilige Flut; hier beginnt der eigentliche Anstieg. »Way now very hill« (Weg jetzt sehr Berg), sagt der Führer. Hinter der Brücke zieht er steil empor, ein Stufenpfad aus schmalen, roh übereinandergehäuften Steinblöcken, auf dem wir rasch in das tiefe Dunkel eines hohen, geschlossenen Urwaldes hineintauchen. Ist das überhaupt noch ein künstlich gebahnter Pfad, oder ist es ein natürliches Wildbachbett, oder vielleicht beides zugleich? Manchmal scheint es ein mehr als mannstief in den Boden eingeschnittner enger Graben zu sein, an dessen Seiten Moos und Farne wachsen, und dessen Grund feuchte, glitschige Blöcke bilden. Vorsichtig muß die Stelle jedes Trittes beleuchtet werden, damit die Sohle richtig fußt. Zuweilen erkenne ich roh in den Boden gehauene Lehmstaffeln, zuweilen sind die Staffeln nur federnde Baumwurzeln, die aus der einen Wand herauskommen und in der andern wieder verschwinden und abgeschliffen sind von dem Tritt Tausender nackter Sohlen. An besonders schwierigen Stellen hat hilfreicher, aber äußerst anspruchsloser Sinn kleine Leiterchen geschaffen, aus knorrigen Ästen, mit Faden zusammengebunden; Wurzeln und Baumstämme zur Seite dienen als Geländer.

Der Führer steht still und weist mir mit seiner Laterne zur Seite des Pfades einige große, mir zunächst unverständliche Klumpen. »Elephants, Master«, sagt er. Es ist die frische Losung wilder Elefanten. So interessant das nun freilich ist, eine nächtliche Begegnung mit ihnen hat doch ihre zwei Seiten. Sind sie auch im allgemeinen friedlich, so gibt es doch oft bösartige Griesgrame unter ihnen, von der Herde ausgestoßene Gesellen, die in ihrer Verbitterung sich geradezu ein Vergnügen daraus machen, den Wanderern im Urwald aufzulauern und sie zu zertrampeln.

Nun geht ein Rauschen über mir durch die Wipfel, es wird lichter zwischen ihnen, die mondbeleuchtete Wolkendecke kommt durch, und ein kühler Windschauer fährt über uns hin. Wir haben die Bergschneide erreicht, die Basis der Gipfelpyramide. Sie steigt jetzt unmittelbar vor mir auf – aber ach, leider ins graue Nichts hinein. Wolken haben von neuem den Gipfel umzogen!

Im Rechten liegt hier ein dürftiges Haus aus Lehm und Stroh. Auf das Rufen des Führers antwortet schlaftrunken jemand aus dem Innern; nach einiger Zeit wird eine Matte, die vor der Tür hängt, zur Seite geschoben, wir treten ein und sehen uns in einer Pilgerrasthütte von äußerster Dürftigkeit. Durch einen Teil des Daches gewahrt man den Himmel. Auf steinernen Pritschen rechts und links regen sich im Halbschlummer ein paar in Decken eingewickelte braune Gestalten; der Wärter des Hauses, ein verhutzelter alter Mann, wischt flüchtig einen der Steinsitze ab, damit ich mich niedersetzen kann.

Doch es ist vier Uhr, noch liegen etwa anderthalb Meilen bis zum Gipfel vor uns, also geht es nach wenigen Minuten weiter. Jetzt beginnt der Bereich jener uralten, schon von Marco Polo, dem venezianischen Reisenden zur Zeit der Kreuzzüge, erwähnten Anlagen, die allein die Besteigung der schroffen, oft ganz glatten Gneiswände ermöglichen. Der Pfad ist meist eine richtige Treppe. Roh und unregelmäßig ausgearbeitete Stufen, unmittelbar in den Felsen hineingemeißelt, folgen einander, bald lang und bald kurz, bald wagerecht und bald schräg; oft so steil emporführend, daß man hinter sich das Bodenlose zu fühlen glaubt. Die Myrten, Lorbeer, Magnolien und Rhododendren nur, die üppig zur Seite wuchern und sich zum Teil über uns wölben, schützen den Rückschauenden vor Schwindel. Aber es sind doch wirkliche Stufen, und an den schlimmsten Stellen laufen in den Fels eingelassene Eisengeländer nebenher; oder der Führer greift in den Busch nebenan und holt eine alte Eisenkette herauf, die dort liegt und an der man sich aufwärtshelfen kann. Wir tauchen hinein in die Nebelmassen, die den Gipfel umhüllen. Grauer Dampf streicht durch das Dschungel, das auch hier zu seiten des Pfades wuchert, und von neuem beginnt es zu regnen.

Nach wiederum mehr als einer Stunde gleichmäßigen Steigens im Wolkendunst treffen wir auf eine alte Zisterne, die zur Seite des Pfades über einer jäh abstürzenden Tiefe erbaut ist. »Adams Tränen« nennen die Eingeborenen den kleinen Teich. Meine Kulis machen halt und schöpfen daraus Wasser für die Teebereitung. Von hier sei es nur noch wenige Minuten bis zum Gipfel. Und wirklich, binnen kurzem treten über und in dem Nebel zwischen dem Gezweig die Dächer einiger kleiner Unterkunftshütten heraus. Wir sind unmittelbar unter der Plattform der eigentlichen Spitze angelangt, die ein heulender Wind umtobt. Ich schaudere in meiner durchnäßten Kleidung. Die Uhr ist fünf.

Der Führer pocht an die niedrige Tür einer der Hütten, aber gleichzeitig fällt sie schon mit Gepolter nach innen auf den Boden. Vor mir sehe ich einen leeren Raum zwischen vier rauchgeschwärzten, fensterlosen Lehmwänden und im Hintergrund drei braunhäutige Pilger, die um ein schwelendes Feuerchen aus nassen Ästen herumhocken und sich die Hände wärmen. Die Art unseres Eintritts scheint nicht weiter zu befremden; rasch wird die Tür wegen des kalten Zuges wieder angelehnt, meine Kulis packen die Sachen aus und sehen, ohne viel Worte zu den Anwesenden zu machen, unsern Teekessel mit über das Feuer. Ich wechsle im selben Raum meine durchnäßte Unterwäsche gegen frische und hocke mich dann ebenfalls auf den Boden, um nach Europäerart die in den nassen Stiefeln frierenden Füße, nicht wie die Eingeborenen die Hände, am Feuer zu wärmen.

Etwas nach 1/2 6 Uhr kommt der Führer, der zum Spähen hinausgegangen war, herein und sagt: »Master, nun komm, es ist Zeit.« Das heißt, die Sonne will aufgehen. Eine kurze Treppe führt von der Hütte zur Gipfelfläche des Adamspiks hinauf. Oben umschließt ein niedriges, weißgetünchtes Mäuerchen in unregelmäßigem Viereck eine kleine Plattform, die etwa neunzig meiner Schritte im Umfang mißt. An der Südwestseite des Gipfels sieht man die Stufen eines zweiten Pfades heraufkommen; das ist der andere Weg zum Adamspik, der von Ratnapura herführt. Er soll noch schwieriger sein als der Nordostpfad, den ich gekommen bin. Das Morgenlicht wird zusehends heller und mit ihm das Heiligtum auf dem Gipfel immer deutlicher sichtbar, über der kleinen Plattform erhebt sich in seiner Mitte noch ein Wulst von rundlichen Felsblöcken etwa vier Meter höher: die äußerste Spitze. Sie ist überbaut von einem offenen Pavillon mit vorspringendem Dach. Unter ihm liegt, von einem Holzgitter umgeben, die Fußspur Buddhas. Einige Treppenstufen führen hinauf.

Das Wunderzeichen stellt sich dar als eine flache Vertiefung in der umgebenden Steinfläche, in der nur die allerwilligste Phantasie den Abdruck eines menschlichen Fußes zu erkennen vermag. Sie bildet ein Rechteck von ungefähr 162 cm Länge und 74-79 cm Breite, dessen eine Schmalseite abgerundet ist. Letztere vertritt die Stelle des Absatzes. Die Zehenseite ist der Treppe zugekehrt und springt ein wenig unter dem umgebenden Gitter vor. Hier erkennt man die Formen von fünf eng nebeneinanderlegenden gleichmäßigen Feldern, die die fünf Zehen vorstellen. Die Reste einer alten Bemalung der Fußspur unterstützen wesentlich die Vorstellung. Wo der Balleneindruck sein müßte, findet sich aber eher eine Erhöhung als eine Vertiefung. Das Ganze ist somit nicht entfernt so täuschend, wie die Roßtrappe im Bodetal, und es würde überhaupt kaum als Fußspur hervortreten, wenn nicht ein glatter, einige Zoll hoch auf dem Felsen aufgemauerter Rand ringsherum liefe. Hier wenigstens hat also menschliche Kunst gütigst nachgeholfen.

Rings um den Gipfel schwimmt das weiße Nichts des Nebels. Aber im Osten wird es heller und heller. Und siehe, wie im ersten Alt des »Rheingold« der leuchtende Schein des Nibelungengoldes die Dämmerung durchbricht, so flammt dort in dem formlosen Gewog ein Glutschein auf – die Stelle der Sonne! Heller und heller wird sie, die Gestalten rotgesäumter Wolken formen sich im weißen Nichts und breiten sich weiter und weiter von dem Feuerkern aus. Augenscheinlich wird unter den Strahlen der jungen Tropensonne die Nebelhülle, die unsern Gipfel umlagert, dünner und dünner. Endlich – wie es geschehen, ich weiß es nicht, aber mit einem Male liegt der Berg völlig frei da und ringsum alles: Sonne, Berge, Täler, Seen, Wälder und Wolken; ein ungeheures Bild!

Indes bereits stürmen von unten durch die Waldwipfel, die den Berg umkleiden, wie weißgraue Wölfe in wilder Jagd die Vorläufer einer neuen Wolke herauf: im Nu sind sie oben, und das ganze Bild ist mit einem Schlage wieder verschwunden; ringsher wieder nur das helle, leuchtende Nichts.

Doch bleibt es dabei nicht. Bald reißt die Wolke von neuem, dann schließt sie uns wieder ein. Ein langdauernder Kampf von höchster Spannung. Wer wird endlich siegen?

Es ist das Licht. Noch einmal zergeht das Gewölk, fliegt in eiligen grauen Fetzen von dannen und kommt nicht wieder. Frei in der Morgensonne liegt unter uns die grandiose Landschaft. Das ganze so phantastisch zerzackte Gebirge von Ceylon, dessen vielgestaltige Gipfel man sonst von den Tälern aus über sich hängen sieht, ist jetzt unter mir ausgebreitet. Im Westen zeigt sich in langer Linie die Meeresküste und dahinter die See als ein blasser Strahl. Ja auch gegen Osten, unter der steigenden Sonne, scheint ein goldener Streifen den Spiegel des fernen Meeres zu bedeuten. Sonst aber alles ein ungeheures Gewirr zahlloser scharfer Bergschneiden und spitziger Kuppen, die in Tönen von tiefstem Blau nah und fern, hundertfach zerzackt und zerrissen, emporsteigen. Zwischen ihnen in den Tälern lagern die Morgennebel in blendendem Schneeweiß, wildgeformt gleich dahinjagenden Meereswellen. Es sieht ganz aus, als schaue man über einen endlosen Schwarm dunkler norwegischer Schäreninseln hin, zwischen denen ein vom Sturmwind zu höchster Wut, zu einem einzigen weißen Gischt zerpeitschtes Meer tobt. Gerade unter mir, in schwindelnder Tiefe, dehnt sich das grüne Laubdach der großen Urwälder, die den Adamspik umgeben und in deren Schatten der wilde Elefant sein Wesen treibt. Aus ihm schießt der gigantische Gipfel so jäh empor, daß man auf seiner Höhe wie ein Adler über den Wipfeln schwebt.

Aber trotz der Steilheit der Wände steigt doch der Wald mit ihm aufwärts, in der herrlichsten, von der reichen Feuchte dieser Höhe genährten Üppigkeit und Gestaltenfülle. Bis dicht an das Mäuerchen der Plattform brandet er hinan, und die höchsten Spritzer seiner Flut sind einige Rhododendronbäume von wunderbarer Schönheit, die auf ihren äußersten Zweigen große tiefrote Blüten tragen. In dem dunklen Laub glühen sie gen Himmel wie feierliche Opferflammen, die die Natur selbst zu Ehren ihres Heiligtums entzündet hat.


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