Georg Wegener
Erinnerungen eines Weltreisenden
Georg Wegener

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19. Sonnenfinsternis

Die Sonnenfinsternis, von der ich hier erzählen will, fand am 22. Januar 1898 statt. Damals traf der Kernschatten des Mondes die Erde im westlichen Sudan, schwebte von hier über den afrikanischen Erdteil und den Indischen Ozean und erreichte die indische Halbinsel um die indische Mittagszeit zwischen Bombay und Goa. Diese durchwanderte er auf einem rund 80 Kilometer breiten Streifen über Dschabalpur und Benares bis zum Himalaja, wo er über das höchste bekannte Berghaupt der Erde, den Mount Everest, hinstrich; dann zog er durch Tibet und China weiter und verließ die Erdoberfläche wieder in der Mandschurei. Die ganze ungeheure Reise legte er in ungefähr 3 Stunden zurück.

Ich befand mich zu dieser Zeit gerade in Indien. Die durch Indien führende Strecke des Totalitätsstreifens war für die Beobachtung außergewöhnlich gut gelegen. Sie war in allen Teilen für wissenschaftliche Expeditionen leicht erreichbar; ferner war nach der Jahreszeit mit beinahe unbedingter Gewißheit auf gutes Wetter zu rechnen, und endlich stand die Sonne zur Zeit der Totalität fast in Mittagshöhe am Himmel. Aus diesen Gründen hatte die amerikanische, die britisch-indische, ja selbst die japanische astronomische Welt – von einer deutschen Expedition habe ich leider nichts gehört – außerordentliche Anstrengungen gemacht, die so günstigen Bedingungen in der denkbar vollkommensten Weise auszunützen. Durch ganz Indien zog sich eine Kette von Beobachtungsposten hindurch, von der Meeresküste bis zum Himalaja hinauf.

Ich selbst begab mich von Bombay in neunstündiger Nachtfahrt nach Jeur, einer kleinen Ortschaft des Dekhan an der Bahn nach Madras, in der Mitte zwischen Puna und Scholapur gelegen. Hier hatte eine Abordnung der Licksternwarte von Kalifornien ihren Standort genommen, und ihr Leiter, Professor W. Morris Campbell, hatte mir freundlich die Erlaubnis erteilt, bei seinen Beobachtungen zugegen zu sein. Alle übrigen Besucher wurden durch ein starkes Polizeiaufgebot aufs strengste ferngehalten. Das Lager befand sich nicht bei dem Bahnhof selbst, sondern ungefähr sieben Kilometer landein in unbewohnter Gegend. Mit Absicht war es so angelegt worden; einmal um die Ansteckung der damals in Indien ausgebrochenen Pest zu vermeiden, zweitens aber, um jede Störung der teleskopischen Aufnahmen durch etwa aufgewirbelten Staub – der in Indien in ganz andern Wolken als bei uns emporquillt – sorgfältig auszuschließen.

Von der Bahn rollte mein Wäglein zum Lager der Astronomen über eine endlose Ebene von staubigem und sandigem Boden dahin, die mit einem losen Bestand von niedrigen Akazien und andern blattarmen und dornenreichen Büschen und mit dürrem, von der Hitze weißgebranntem Grase überzogen war. Flache Geländewellen hinderten eine ausgedehnte Fernsicht; kurz, die Landschaft war so unromantisch wie möglich; hier war der weite, gleißende Himmel und der glühende Sonnenball Indiens allein das Wesentliche.

Nach heißer Fahrt erreichte ich das kleine Zigeunerlager des Professors Campbell, dessen Zelte zwischen den Bäumen verstreut waren. Er hauste hier bereits sechs Wochen lang mit seiner jungen, allerliebsten Frau, die ihm eine tüchtige Gehilfin bei seinen Arbeiten war. Neue, kostbare astronomische Instrumente hatten sie beide aus Amerika herübergeführt; darunter fünf Spektroskope zur Beobachtung der Veränderungen im Sonnenspektrum während der allmählichen Verdunkelung, ferner mehrere photographische Teleskope zur Aufnahme verschiedener Teile der Korona. Unter ihnen war eines ein Riese von 40 Fuß Länge, das größte bisher bei einer Sonnenfinsternis zu photographischen Zwecken verwendete Fernrohr überhaupt. Die Größe der Mondscheibe auf den Bildern, die es liefern sollte, betrug nicht weniger als 4 ½ Zoll.

Während der letzten Woche, nachdem die mühsame Aufstellung der Apparate vollendet worden war, hatte sich dem Professor dann eine Schar freiwilliger Assistenten, englischer Offiziere aus Bombay, zum Teil mit ihren Damen, zugesellt und war von dem Leiter sorgfältig in der Handhabung der einzelnen Instrumente durch zahlreiche Proben und Generalproben eingedrillt worden.

Jetzt in den Stunden vor der Schlacht freilich – eine treffliche taktische Maßregel – hatte der Professor sämtliche Gehilfen von den Instrumenten weggewiesen: sie sollten ihre Nerven und ihre Augen für den entscheidenden Zeitpunkt vollkommen ruhig halten. Ich fand daher zu meinem Erstaunen die ganze Astronomengesellschaft in lustiger Runde plaudernd und lachend unter ihrem schattigen Dinnerzelt. Man trank Whisky und Soda, rauchte Zigaretten, hielt den anwesenden Damen den Sonnenschirm vor das Gesicht mit der Behauptung, dies sei die totalste Sonnenfinsternis, die man sich denken könnte, und stellte Beobachtungen über den seelischen Eindruck dieses Phänomens auf die Gemüter der Männer an usw. Aber die Erregung der Stunde war doch nicht zu unterdrücken. Sie fieberte in allen und am meisten in der kleinen, tapferen Frau Campbell, die plötzlich die Hände krampfhaft zusammenballte und sagte:

»Ich wollte, es ginge los.« –

Inzwischen biß die schwarze Scheibe des Mondes langsam, aber stetig ein größeres und größeres Stück aus der leuchtenden Fläche der Sonne heraus – lange ohne daß in der Fülle des brennenden Mittagslichts, das über der Gegend lag, irgendeine Veränderung bemerkbar geworden wäre.

Endlich aber wurde es doch unzweifelhaft, daß die Helligkeit sich verminderte. Ein fremdes Gefühl beschlich das Herz.

Der Professor rief jetzt die Beobachter zu ihren Instrumenten; die nicht zu diesen gehörigen Zuschauer wanderten zu einem frei gelegenen Platze in der Nähe des Lagers und verfolgten mit gespannter Aufmerksamkeit die Zunahme der Dunkelheit. Unmeßbar fein, doch in größeren Zwischenräumen dem Bewußtsein deutlich wahrnehmbar, ging diese Abnahme des Lichts vor sich. Sie ließ sich weder mit dem Wachsen des Abenddunkels noch mit einer Verfinsterung durch Wolken vergleichen. Am nächsten kommt dem Vorgang noch die Betrachtung einer Gegend durch tiefer und tiefer getöntes, aber klares Rauchglas, wie es bei Schutzbrillen verwendet wird. Die Sonnenscheibe war bald nur noch ein feiner Goldstreif, der aber noch immer mit so blendender Kraft am Himmel strahlte, daß es nicht möglich war, ihn ohne die geschwärzte Glastafel anzusehen. Die Temperatur schien mit dem schwindenden Lichte so erheblich zu fallen, daß man fast Kühle empfand. Doch war dies eine psychische Täuschung, denn das Thermometer zeigte bisher ein kaum merkliches Sinken.

Zehn Minuten nach 1 Uhr wagten wir unsere Sonnenhüte abzusetzen – schon etwas Außergewöhnliches, was der Europäer in Indien um die Mittagszeit sonst aufs ängstlichste vermeidet. 48 Sekunden später ertönte zum ersten Male die laute Stimme des Zeitrufers über den Platz:

»Zehn Minuten!«

In zehn Minuten also sollte das letzte Fleckchen der Sonne verschwunden sein. Nicht nur unsere eigenen Stimmen sanken unwillkürlich zum Flüstern herab, sondern die ganze Natur schien den Atem anzuhalten. Ein Lufthauch, der vorher fühlbar gewesen, war gänzlich entschlummert, regungslos hingen die Blätter an den Bäumen, kein Zittern ging durch die Grashalme; in der Ferne heulte ein Schakal einige Male laut auf, dann schwieg er; kein Vogel flog mehr über die Ebene dahin. –

»Fünf Minuten!«

Ohne daß ich sagen kann, warum, stellten wir auch unser Flüstern ein; nur durch Gebärden machten wir uns noch auf einzelne Vorgänge aufmerksam. Endlich unterließen wir auch dies; ein jeder harrte für sich in ernster Auf-sich-Gestelltheit dem letzten Augenblick entgegen. –

»Zwei Minuten!« – »Eine Minute!«

Fremdartig sah die schon tief umdüsterte Gegend aus; die Blicke aber klammerten sich jetzt an die Sonne dort oben. Nur ein Fünkchen von ihr glühte noch am Himmel. Unweit davon war ein wunderschöner, mildleuchtender Stern hervorgetreten –

»Voll!«

Da war die Erscheinung in all ihrer wunderbaren Herrlichkeit, die nur so wenige im Leben begnadet werden, in voller Klarheit zu sehen!

Aber wie so ganz anders trat sie ein, als alle Beschreibungen lauteten, die ich bisher gelesen. Nichts war von einem schreckhaft heransausenden Mondschatten zu spüren gewesen. Keine besonders tiefe Dunkelheit brach im Augenblick der Totalität herein; es blieb eine sanfte Dämmerung, wie man sie in schönen Sommernächten des Nordens erleben kann; ich konnte die Ziffern des Sekundenblättchens auf meiner Taschenuhr sehen, wenngleich nicht mehr sie lesen. Kein anderer Stern erschien weiter für das bloße Auge am Himmel, als der eine große nahe der Sonne, der die Venus war.

Hoch am tadellos reinen, dunkel-graublauen Firmament hing – ein unerhört seltsamer Anblick – ein tiefschwarzer, runder Fleck, der finstere Ball des Mondes. Rings um ihn aber floß ein sehr heller, fast weißer Lichtkranz, und von diesem aus ergossen sich die Strahlen der Korona mit einem wundervoll edlen, silberblauen oder perlfarbigen Glanz in das Himmelsdunkel hinein. Neben einer Anzahl kleinerer waren es vier große, unregelmäßig verteilte Strahlenbüschel von etwa der dreifachen Länge des Monddurchmessers; helleuchtend in der Nähe des Ringes, gegen außen sich mit unmerklicher Abschattierung verlierend. Rote Protuberanzen waren nicht erkennbar. Nichts Feuriges, nichts Majestätisches hatte die Erscheinung, die ohne jedes Flackern ruhig am Himmel stand; wohl aber eine ganz unsagbare Zartheit und Reinheit. Wie der lichte Zauberglanz, den wir uns als Kinder wohl um das Haupt einer Fee gewoben denken, so schwebte die schimmernde Strahlenkrone dort oben und erfüllte das Herz mit dem leidenschaftlichen Wunsche, zum Augenblicke sagen zu dürfen: »Verweile doch, du bist so schön!« –

Unbeirrt durch alle Schönheit aber taten inzwischen die wackeren Männer der Wissenschaft ihre Pflicht. Scharf und fest erklang der kurze Ruf des Mannes durch die Dunkelheit, der die Sekunden der Totalität verkündigte; wie die Schläge eines stählernen Hammers fielen die einzelnen Ziffern, die den unerbittlich vorüberrauschenden Flug der Zeit maßen, und es war, als fühlte man die Energie, mit der dort drüben die kurze Spanne ausgekauft wurde.

Eine Minute verstrich – – auch die zweite – – die Zeit war um. Sehr rasch wurde der Glanz des Lichtringes an der Seite, wo die Sonne hervorkommen mußte, heller, und urplötzlich – vielleicht war dies der schönste Augenblick des ganzen Schauspiels – brachen hier an verschiedenen Stellen des dunklen Mondrandes gleichzeitig feurige Funken von strahlendstem Goldglanz hervor, die schnell zu einem blendenden Bogen zusammenschossen. Es war, wie wenn eine Welle von Licht zuerst nur mit ihren höchsten Schaumperlen über einen finsteren Wall herüberleckte, dann aber sich in vollem Strom darüber ergoß. Die Dunkelheit unten über der Erde entschwebte rasch, aber so sanft, wie ein feiner Duft sich im Äther verflüchtigt.– –


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