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Zweites Kapitel.

Kurzweil' während der Waffenruhe

Es ist ganz natürlich, daß jeder neue Gedanke, jedes neue System mit einem gewissen Mangel an Bescheidenheit auftritt, nur ist die Spitze dieser quasi Unbescheidenheit nicht nach vorwärts, nicht der Zukunft entgegen, sondern nach rückwärts, gegen die Vergangenheit gewendet. Wer die Unzulänglichkeit der bisher für einen Zweck angewendeten Mittel erkennt, kann nichts anderes thun, als das unzureichende System stürzen; und dies zu vermögen muß er, falls er nicht selbst verstopft ist, seinen neuen Satz mit rauher Bestimmtheit aussprechen, obgleich ihm wohlbekannt ist, daß dieser auch nur so lang haltbar sein kann, als kein neuer Fortschritt ihn überflügelt. Man kann mit Sicherheit annehmen, daß alle jene Männer, die einen großen, bedeutenden Gedanken gefunden, einen Gedanken, der ein entschiedner Fortschritt war, Bescheidenheit und Verstand genug besessen haben, ihn nur für eine bestimmte Zeit, und so lang gewisse Bedingungen galten, als unumstößlich zu geben. Die dogmatische Verwöhnung ihrer Schüler und der Menschen überhaupt zwang sie aber stets, die Negation in einen positiven Satz, in ein neues Dogma zu fassen, und wie denn jeder ungewöhnliche Lehrer das Geschick hat, von seinen Schülern mißverstanden zu werden, verknöcherten seine Sätze stets auf Grund des αύτός έφη der Nachbeter, und die Clique schrie Zeter und Mordio, wenn eine neue Phase des Wissens sich über der ihren entwickelte. Der Gedanke an ein Fertigsein, an ein Nichtweiterkönnen ist von pyramidaler Borniertheit, da jeder Tag fast eine neue Entdeckung bringt; das Geschrei von in der Philosophie schon vorhandnem unrüttelbar Positivem ist unsinnig ohnegleichen, denn es ist eine Ausgeburt schmählicher Faulheit, die nichts sehnlicher wünscht als Stabilismus und Quietismus. Solang nicht alle Naturgeheimnisse ergründet sind, ist ein positives philosophisches System gar nicht möglich. Man muß also so hirnverbrannt sein wie alle religiös Orthodoxen, um einen Vorwurf für die Wissenschaft darin zu finden, daß jeder Satz gestürzt werden kann. Sie sagen, daß der christliche Schulknabe mehr über Gott und die Welt wisse als alle Weisen Griechenlands; aber das ist in der That spaßhaft, denn die Sache liegt einfach so, daß die Alten sinnigerweise wußten, daß sie nichts wissen, während der nach dem Katechismus abgerichtete Naseweis weniger als nichts weiß, weil er sich unsinnig einbildet, alles zu wissen. – Der magnetische Rapport, in dem der Mensch durch sein Herz mit dem Weltall steht, läßt Ahnungen zu, die an das Urwahre und Urrichtige hinanstreifen, – alle sogenannten religiösen Systeme verdanken ihre Entstehung solchen Ahnungen, die indes durch ihre Verwandlung in Begriffe und Begriffsbezeichnungen in der Hand Ungeschickter viel von ihrem Werte, von ihrer Wahrheit verlieren mußten. Das Schülertum in seiner Unfähigkeit selbst ursprünglich ahnend aufzutreten, fror in dem Überkommenen fest, fand seine Lage bequem und nagte dabei an dem Knochen, der ihm zugeworfen worden, ohne zu bemerken, daß seine Zähne aus dem Gegebnen nach und nach auch etwas wenigstens formell Neues machten. Der Knochen blieb Knochen, aber – so übermächtig ist der Zug in der Natur – sie retteten nichts als ihr Prinzip: den Knochen. Der Stabilismus des Gedankens ist unmöglich, jede neue wärmere Ahnung vernichtet die Form, welche die alte abgeblaßte gewonnen, ohne darum je bestreiten zu können, daß die frühere Ahnung für ihre Zeit ebenfalls Wahres enthalten, da sie ebenso gut in Zusammenhang mit dem damaligen Weltbewußtsein gestanden, als die jetzige mit dem jetzigen. Die Verwirrung wird nur dadurch so groß, daß man so oft die Begriffe von heute mit den Sätzen von ehemals verbindet und so notwendig Verkehrtes schließen muß. Die Tradition darf für die Anwendung gar nicht vorhanden sein.

So erfand man auch ein Dogma Omne animal ex ovo. , das der Natur geradezu die Zeugung untersagt. – Vielleicht fürchteten die Gelehrten auch in der Natur eine Überhandnahme des Proletariats und wollten den Pauperismus ihrem souveränen Hirngespinste gemäß durch eine Ordonnanz steuern. Das ist grenzenlos naiv, es könnte kaum ergötzlicher sein, wenn man im staatlichen Leben, wie wirklich schon von »Freunden der Gesellschaft« in Vorschlag gebracht worden, die Zeugung von Menschen Hindernisse in den Weg legte, um das »Recht auf Arbeit« ordnen und garantieren zu können. Zum Glücke würden die hiezu nötigen mittelalterlichen Gürtel zu viel kosten, als daß sie ein Staatsschatz beschaffen könnte, – sonst allerdings, wir haben so sehr fromme Könige und Königinnen, in Neapel muß das Corps de ballet sogar froschgrüne Trikots anlegen, um jede »unmoralische« Illusion zu vermeiden, – wer weiß was geschähe, wenn der Kostenpunkt nicht von drastischer Wirkung wäre. Mit der Natur ist nun gar nichts anzufangen, die Gelehrsamkeit bezwingt sie so wenig als jener Dänenkönig, der große Kanut, der den berüchtigten offnen Brief nicht geschrieben hat, trotz der Schmeicheleien seiner Höflinge dem Meere die Flut verbieten konnte. – Man erfand nun ein neues Dogma, das man durch einen äquivoken Namen Generatio aequivoca. von vornherein als zweideutig hinstellte und somit noch in der Negation ein Zugeständnis machte. Die Furcht, hierin ganz nett und rund die Wahrheit zu sagen und zu erklären: – die Natur hat sich nie und nirgend herbeigelassen, sich vor Gericht durch einen körperlichen Eid zu verpflichten, es bei den vorhandenen Gattungen und Untergattungen vom Polypen bis zum Menschen bewenden zu lassen, – findet ihren Grund in der früher gedachten Gefahr, daß zufällig plötzlich der Mensch durch eine Neubildung übertroffen werden und so das erste Kapitel der offiziellen Genesis ein Dementi der That erhalten könnte, und das darf, wie neuerdings auch ein von Susemihl übersetzter Herr George Moore behauptet, durchaus nicht passieren. Es ist Gespensterfurcht darin. Wie man nachweisen will, daß unter den Bedingungen, die das »Leben« fordern, und die allenthalben immer neu und immer anders eintreten können, dennoch kein Lebendiges mit allem Fug und Recht werden darf …! lieber Himmel, als wenn diese Leute je beweisen wollten. Wir sollen ihnen glauben, damit ist's abgemacht. Wir erlauben uns aber ihnen nichts, überhaupt nichts zu glauben.

Wie überall liegt indes auch in dieser doppelten Entstehungstheorie der Animalien etwas Wahres. Weitere Produktion produktionsfähiger Individuen und aprioristische Produktion des Naturganzen gehen nebeneinander. So könnte man wenigstens sagen, wenn nicht dadurch der Ketzerei Thür und Thor geöffnet würde, als sei die erstere Art der Fortpflanzung irgend etwas anderes als die pure Erfüllung der Lebensbedingungen, wie die Neugeneration, die Bildung eines Individuums aus »toten« Stoffen auch nicht mehr für sich fordert. Nur die speziellen Mittel geben einen scheinbaren Unterschied, im allgemeinen geschieht in beiden Fällen dasselbe. – Ein Teil der Infusorien bildet anscheinend eine Welt für sich. Sie entstehen durch Zersetzung, wie die andern Animalien durch Entwickelung. Man thut also gewiß unrecht daran, sie stets für Grundatome, für Monaden zu halten, wie man in letzter Zeit nach Entdeckung der Spermatozoen wieder mit vielem Aplomb aufgestellt. Es ist wenigstens ein Unterschied zu machen zwischen mikroskopischen Tieren, die volle organische Berechtigung haben und sich gleichgestaltig fortpflanzen können, und jenen, die durch Bedingungen, die mit der Zersetzung von »nichtlebenden« Stoffen gegeben sind, entstehen.

Man sehe indes dies so oder so an, immer bleibt es klar, daß das Absprechen der unendlichen und darum unbeendigten Zeugungsfähigkeit in der Natur zu den krassesten Irrtümern gehört. Dieser Irrtum wiederholt sich, wie jeder makrokosmische, in der Gedankenwelt, die ja eine Parallelschöpfung der großen ist, und trägt, in Fleisch und Blut der Gesellschaft übergegangen, verbrieft und besiegelt durch mißverstandene Ahnungen, die sich als positive Offenbarungen geben, die Schuld der Hartnäckigkeit, mit der man sich an alte politisch-religiöse Theoreme klammert. Auch die Schöpfung des Gedankens soll eine abgeschlossne sein. Thorheit! Das Leben wäre ein grenzenloser Unsinn, wenn es als etwas anderes als eine Reihe von Experimenten aufgefaßt würde. Diese Annahme negiert allerdings die orthodoxe Gottesidee, – jede andere aber, und das sei den Orthodoxen nochmals gesagt, speit ihr ins Gesicht, denn das Böse, das von jener Seite nun notwendig auch anerkannt werden muß, ist und bleibt ein ewiger Schandfleck an ihrem Regenten, den weder Weihrauch noch alle Psalmen Davids wegwaschen können. – Alexander der Große fürchtete nichts mehr, als daß sein Vater ihm nichts zu thun übrig lassen könnte! Die Menschen im allgemeinen denken anders, sie halten es mit denen, die ihnen sagen, es ist euch alles schon vorgedacht, ihr braucht nur im Umrisse an das zu glauben, was wir euch erzählen, so könnt ihr euch die Mühe des Denkens ganz ersparen. In dieser Trägheit liegt die Möglichkeit aller möglichen Religioserien ohne alle Religion. Religion, d. h. das Verhältnis des Individuums zum allgemeinen, das Gefühl einer Verbindung zwischen beiden, – wie die Übersetzung des Katechismusbegriffs ins Vernünftige lautet, ohne etwas daran zu ändern, – ist wirklich ein Bedürfnis, aber es wird nicht durch Redensarten, sondern durch Erkenntnisse, die Licht über die Art dieses Verhältnisses verbreiten, befriedigt. Jedes hohe Gefühl in der Richtung des »Ewigen« (um einen technischen Ausdruck zu brauchen) und jedes Eindringen in den unendlichen Schatz des von der Natur Dargebotenen ist Gebet im Sinne der wahren Religion, die endlich die Afterreligionen verdrängen muß, insofern sie ihr gänzlich fremd und fern sind. Es steht durch Geständnis und Erfahrung fest, daß es den bis jetzt angewendeten religiösen Doktrinen weder gelungen ist, noch gelingen kann, die Menschen sittlich zu machen; es steht ferner fest, daß es allen bisherigen Staatsformen ebensowenig geglückt ist, dies Ziel zu erreichen, und es ist endlich mehr als wahrscheinlich, daß die moderne Sozialrepublik, der wohl die nächste Zukunft gehören dürfte, auch nicht im stande sein wird, Wesentliches dafür zu thun: man wird also immer wieder neue Wege anbahnen müssen, bis man endlich allgemein zu der Höhe der Erkenntnis kömmt, daß die Sittlichkeit mit Kirche, Staat und formulierter Gesellschaft unverträglich und geradezu unmöglich ist. In dem Moment erst, in dem das Individuum als solches selbständig dasteht, ist ihm die Sittlichkeit zur Existenz notwendig geworden, und es hat außerdem, da es nach keiner Seite Gesetzen, Befehlen und Vorschriften begegnet, nun wirklich die Fähigkeit gewonnen, frei sittlich zu sein, da es für alles und jedes selbst verantwortlich ist. So sind die Squatters nach allem, was man von ihnen weiß, in der That die sittlichsten Menschen, die bis jetzt existieren. Die Sittlichkeit des Menschen ist nur möglich, wo alle Regierung, himmlische und irdische, gottgnädige und gefroren republikanische aufhört, und das Individuum für sich denkend und handelnd auftritt. Das Band, das dann die Individuen aneinander und das Einzelne an das Ganze ketten wird, ist Religion im wahren Sinne.

Es ist ein Gouvernement so schlecht als das andere; solang die Welt sich gouvernieren läßt, sind noch nicht alle Organe in Funktion, noch nicht alle Hebel in Bewegung, die Thätigkeit ist noch nicht die volle, allgemeine; der Morgen der Menschheit bricht erst an, wenn man nirgend mehr schreit: »Nieder mit der Regierung!« sondern: »Fort mit den Gesetzen!« – Es ist eine elende Lüge und Verleumdung, daß damit Mord und Brand und alle Greuel und Schrecken beginnen müssen, und daß die Zivilisation damit für immer vernichtet sei. Sobald dieser Ruf erst von den Menschen ausgeht, stehn sie zu hoch, um sich wegzuwerfen. Der freie Mensch kann nicht schlecht sein. Man kennt bis jetzt nur durch Negiertsein, Gesetze und Konfessionen korrumpierte Menschen, daher das Mißtrauen gegen die Menschheit. Der freie Mensch ist stolz, und der Stolze ist immer sittlich, denn er wirft sich nicht weg; Sklaven sind hochmütig, wenn sie sich einmal putzen dürfen oder ihren Herrn entlaufen sind. Sie sind hochmütig, gemein und rachgierig. Der freie Mensch ist stolz und edel und darum sittlich: es gibt aber keine Freiheit, solang' es ein Gouvernement, solang' es Gesetze gibt. Die christlich-germanischen Ehrenwächter der offiziellen Unsittlichkeit, vertreten durch Talar und Uniform, Konsistorien und Parlamente, werden einen solchen Gedanken heillos nennen, – wir werden ihnen aber erst antworten, wenn sie uns nicht mehr wie jetzt mit dem köstlich naiven Geständnis ihrer Unzulänglichkeit neben ihrer Anmaßung absoluter Unfehlbarkeit kommen. Sie anders als spottweise angreifen, hieße sie anerkennen, und Dinge, die man in der Logik contradictio in adjecto zu nennen pflegt, wie eben unzulängliche Heilsunfehlbarkeit, wissen wir nicht anzuerkennen. Sagten sie doch lieber umgekehrt: unfehlbare Heilsunzulänglichkeit, das hätte Sinn und paßte auf den offiziellen Kultus, die Staatsformen und die Gesellschaft.

Sie gestehn ihre Schwäche selbst und wollen doch verstockt bleiben wie sie sind, verteidigen sich blutig und grausam, leiten ihre Existenz von Gott ab, ihre Schwäche natürlich auch … es wäre unbegreiflich, wenn man in dieser Zusammenstellung nicht den Kreislauf ihrer Widersinnigkeit erkennen sollte.

Der Positivismus ist eine komplette Krankheit, und die Sucht, eine Grenze vor sich zu sehn, borniert zu sein, die rätselhafteste aller Manien.

Nach Raffael kein Maler, der über ihn hinaus kann, nach Goethe kein Dichter, der ihn erreicht … Bei den Dichtern begnügt man sich allerdings mit einzelnen Branchen und wird in der Ausschließung fast provinziell. Frankreich hat Corneille und Racine zu Grenzpfählen, – und doch dürften viele V. Hugo und Lamartine diesen Heroen des Stelzkothurns vorziehen; England hat Shakespeare und Milton, – aber man wird Byron und Thomas Moore nicht ein Blättchen ihres Kranzes rauben können: und Deutschland hat nach Goethe und Schiller ebenfalls Namen aufzuweisen, die etwas gethan haben, und es besitzt endlich Kräfte, die noch viel versprechen. Homer gibt in den beiden Gedichten, die seinen Namen tragen, nicht bloß eine Fülle von Gestalten und Handlungen, sondern die Gedichte sind das einzige Werk, das uns direkt und zwischen den Zeilen die Kulturgeschichte eines großen Volkes und einer großen Zeit aufbewahrt hat. Tassos befreites Jerusalem thut dasselbe. Simrock schildert in seinem Heldenbuche ebenso die germanische Mythenzeit: – aber wer kann sagen, daß damit das Epos abgethan ist? Gibt es keine großen Stoffe mehr? – Wir könnten noch hinzufügen, daß die Iliade, die Odyssee, das befreite Jerusalem und das Heldenbuch in ihrem höchsten Wesen politische Gedichte sind, und hätten so einen neuen Verteidigungsgrund für die Teilnahme der Kunst an dem Leben der Zeit, – aber die Tendenz in der Kunst ist ja trotz aller Heuler ein fait accompli, das keiner Motivierung bedarf. Wer Horaz und die Sirventen des Troubadours kennt, wer überhaupt ein größeres Gebiet poetischer Produktion übersieht, kann über die Berechtigung der Kunst, an dem Streben der Zeiten teilzunehmen, ohnehin nie in Zweifel gewesen sein. Der wirkliche Dichter wird immer im stande sein, den Stoff schön zu gestalten, wie er sich hüten wird, geronnenes Blut und zerhackte Schädel als einzige Blüten zu präsentieren. – Simrocks Heldenbuch, ein Werk, daß keiner missen sollte, der das Schöne, auch wenn es zugleich großartig ist, zu fassen vermag, umrahmt den ganzen Sagenschatz germanischer Vorzeit und bindet einen Strauß kernhafter, urkräftiger, poetischer Gestalten zusammen. Es ist nicht nur die größte derartige Erscheinung, die wir kennen, sondern es ist auch die reichste, sinnigste, prächtigste und anmutigste. Es soll keiner sagen, daß wir wirklich nach A. Grün »der Neuzeit Orchideen« sind, die an der Erde hinkriechen, solang' wir ihm eine solche allerneueste Titanenarbeit entgegenstellen können. Leset Simrocks Heldenbuch, und der Stabilismus, der mit Goethe hinter allen großen Schöpfungen einen Punkt gemacht glaubt, wird sich bequemen müssen, ihn in ein Komma zu verwandeln.

Es heißt das Genie leugnen, und das ist wirklicher Atheismus, wenn man das Weiterschaffen des Gedankens leugnet. Das Genie ist ja eben das Ewigneue, das stets Niedagewesnes bringt. Im Genie macht sich die Universalberechtigung des Individuums in ihrem ganzen Umfange geltend. Jedes Genie ist das Prototyp einer ganzen Richtung, einer ganzen Zeit. Es ist unabhängig von Antezedenzien, es steht in unmittelbarem Verkehre mit dem Weltganzen, und man kann sein Werden nur dadurch erklären, daß man innigste Harmonie in dem Gegeneinanderwiegen seines Organismus und der zeitweiligen Weltorganisation annimmt, so daß der Rapport des Individuums mit dem Allgemeinen ein überaus leichter und ungestörter ist.

Und es gibt Genies, wie es deren gab. Man kann sie nicht aus der Welt leugnen, und mit dem Genie ist die Fähigkeit, neues zu schaffen, abermals und immer gegeben. Man kann unmöglich ein Gemälde von C. F. Lessing sehn, ohne zu fühlen, daß man einer durch und durch genialen Natur gegenüber steht. In der Historienmalerei war von ihm schon Größtes geleistet, der Dämonismus des Genies hatte sich in dieser Richtung schon wiederholt und mannigfaltig geltend gemacht, der Schöpfungsdrang strebte darum naturgemäß einer neuen Phase entgegen, einer Phase, deren Spitze Lessing repräsentiert. Sein eigentlichstes Feld ist die Landschaft, die erst er zu einer ungeahnten Höhe gebracht. Wir treten weder Salvator Rosa, noch Claude oder Poussin zu nahe, wenn wir einen besondern Accent auf diesen Satz legen. Bei Lessing ist es nicht allein die »Minute« in der Natur, nicht allein, daß man genau weiß, wenn, wie und wo der Gedanke des Werkes empfangen worden, sondern besonders die konkrete, realistische Darstellungsweise, durch die sein Pinsel jedem Baume, jeder Pflanze gewissermaßen individuelle Berechtigung gibt. Seine Bäume sind neugeschaffne, belebte Wesen, die atmen und fühlen müssen, die ihre Wahrheit und Lebensnotwendigkeit in sich selbst mitbringen. Seine Felsen, seine Grashalme, seine Wolken und seine Luft treten mit derselben kühnen Sicherheit auf, er malt nie einen Baum, einen Felsen, sondern stets sieht uns der Baum und der Fels entgegen, ein Ding, das grade durch sein scheinbares Aufsichselbstgesetztsein typisch wird. Das ist das Geheimnis des Realismus. Dämonisches Leben, und das Genie lebt stets dämonisch, kann sich gar nicht abgeblaßt und durch die Abstraktion zum Schemen ausgesogen zeigen, es greift ins Ganze keck und entschieden hinein, reißt ein Stück heraus, formt und modelliert es dreist und wird sich der neuen Regel, die es gefunden, erst am Gefundenen selbst bewußt. Die Anwendung existiert vor der Regel, wie die Welt vor allen Kosmogonien. Genies sind Besessene, sie sind in ihrer anscheinend schrankenlosen Freiheit Sklaven der Sehnsucht, des allerinnerlichsten Gefühls, des allerunerklärbarsten, rätselhaftesten und unruhigsten Elements in der Natur wie in der Menschenbrust. Humor, Tiefe der Empfindung, Andacht, Kühnheit in der Gestaltung, Kontraste, Ironie, jene Bosheit, die zwischen Liebe und Haß emporwächst und ihre Früchte nach beiden Seiten abschüttelt, Bizarrerien und Schroffheiten selbst, Dissonanzen, die nirgend Lösung und Versöhnung finden, weil in der Natur selbst Unversöhntes und Kämpfendes liegt, weil ihr ewiger Jubel zugleich eine ewige Klage ist, – all diese Eigenschaften sind Ausflüsse und Lebensäußerungen jener großen urgewaltigen Sehnsucht, jenes unverantwortlichen dämonischen Triebes, der das Naturganze wie das Genie durchdringt und beherrscht. »Der Geist des Herrn kam über ihn!« sagte man vordem; »der Dämon packt ihn!« hieß es später; »er ist ein Genie!« sagen wir jetzt. Die Worte sind gewechselt, die Sache ist dieselbe. Das Genie empfängt unmittelbar und gebiert auf seine Weise, ohne Rechenschaft zu geben und Rechenschaft schuldig zu sein, es wagt den Wurf, und sein Werk steht in letzter Instanz über Lob und Tadel, weil es so werden mußte, wie es geworden.

Und so sind Lessings Landschaften alle gedacht und gemalt, es ist ein neues Bewußtsein darin, eine neue Welt, die von der Kunstkritik »historische« Landschaft genannt werden mag, wenn es ihr um einen Namen zu thun ist, da sie nun doch, wie es der Kritik dem Genie gegenüber immer geht, kein Fach in Bereitschaft hatte, diese Leistungen einzuschachteln.

Die Natur schafft Neues, sie kann und muß es, denn die Natur ist ja ganz in der Hand des Dämons, sie ist der Dämon selbst und das ewige Genie voll ewiger Sehnsucht. Das Abnorme wird durch sie Norm einer neuen Reihe und das, was die Blödheit Unnatur heißt, ist einfach dadurch Natur, daß es ist. Die Kritik macht es sich köstlich leicht, wenn sie sogenannt unwahrscheinliche Gestalten für unwahr hält, weil sie nicht eben Gassenhauer sind, die in jeder Drehorgelwalze stecken, oder nicht Schlösser, für die alle Welt den Schlüssel in der Tasche trägt. Wir wehren uns gegen das Fremdartige, wir weichen dem Dämonischen aus, weil es etwas Unheimliches hat, weil alle lebendigen Rätsel der platten Gewohnheit hohnsprechen und wir ängstlich werden, mitleidig ängstlich vielleicht, wenn wir jemand von der chaussierten Bahn ins für uns Unwegsame ablenken sehn. Das ist philisterhaft, aber erklärlich und oft anerkennenswert, – nur negiert die eigne Unfähigkeit nicht die Fähigkeit des andern. Wir wollen zugeben, daß das Genie der Gesellschaft unbequem ist, weil die personifizierte Sehnsucht Unruhe stiften muß, wir gestehen selbst ein, daß es gehaßt werden kann, weil es zu leicht in die Versuchung kommt, Schellen an die gleichmütige Nachtkappe der Kategorienreiter und Traditionspriester zu heften, – aber sein Recht oder gar seine Existenz, die Existenz und Berechtigung des Neuen, Ungewöhnlichen, gleichviel, ob es gut oder schlimm, zu leugnen, das ist – albern und einseitig!

Craw war ein Mensch, den man sonst von vornherein negieren müßte, ein ganz wunderlicher, tief in das Leben versenkter und doch mitten aus dem Leben herausgerißner Charakter. Er hatte Interesse, Anhänglichkeit sogar für alles und lebte doch wieder mit allem in heißester Fehde. Eklektiker im äußersten Sinne des Wortes, in jedem Systeme, in jeder Richtung des Gedankens Brauchbares und Schönes entdeckend und darum mit warmer Teilnahme zu den entgegengesetztesten Bestrebungen gezogen, wurde er gleichwohl von allen Seiten angefeindet, da seine Konsequenzen durch die Zusammenstellung verschiedenster Bedingungen, die erst in seinem Kopfe Gleichberechtigung erhielten, notwendig heterodox werden mußten. Man nannte das inkonsequent, weil man nicht zu begreifen im stande war, daß nicht Willkür, sondern ein fester Plan ihn bei seinem Eklektizimus leitete; man nannte ihn unklar, weil es denen, die sein Wesen nicht erkannten oder nicht zu verstehen vermochten, oft schien, als ob er bald im einen, bald im andern Lager fuße. Die Lösung des Rätsels liegt darin, daß er nur das Humane suchte und Splitter des Humanismus in der That allenthalben fand. Diese einzelnen Strahlen in einem Brennpunkte zu vereinen war das, was ihm die Lebensaufgabe des Menschen schien; für die ihm speziell zugefallne hielt er dahin zu wirken, daß möglichst viele Menschen mit weniger Vorurteil an die Liebe und mit mehr an den Haß gehn. Er wollte hindern, daß Kastenliebe und Kastenhaß, wie Nationalliebe und Nationalhaß, soweit diese letzteren etwa wirklich existieren, ein Feld haben oder gar ein neues gewinnen. Der Herr sollte nicht den Proletarier von vornherein für einen Lumpen und dieser den Herrn nicht für einen Schurken halten, bloß weil die Verhältnisse ihn oft jetzt noch zwingen, Herr zu sein: es war seine feste Überzeugung, daß der kleine Krieg zwischen den Kasten grade die Schranken halte, und daß es endlich ein Unrecht sei, feindlich gegenüber zu stellen, was zusammen gehöre, statt dahin zu streben, daß gegenseitige Achtung eine Näherung möglich mache und der Fortschritt sich so aus dem Stolze eines freudigen Bewußtseins entwickle. Ob er darin zu weit ging, ist schwer zu sagen; im Prinzip auf keinen Fall, vielleicht aber in dem Punkte, daß er das letzte für jetzt erkennbare Ziel anstrebte und so trotz seiner sonst durchweg praktischen Richtung die Mittel für die Durchgangspunkte, für den zunächst liegenden Fortschritt übersah und der Berechnung nicht wert hielt. Dies isolierte seine Bemühungen und hatte den wesentlichen Nachteil, ihm ab und zu die Sympathie seiner Freunde zu rauben und endlich gewisse Schwankungen in seiner Stellung zur Gesellschaft im engeren Sinne hervorzurufen, die ihn herber machten, als er sein wollte. Dies Moment wirkte indes nur auf sein Privatleben, das ohnehin eigentümlich abgeschlossen war und einen bewölkten Hintergrund hatte, obgleich kaum jemand wußte, was seine Hoffnungen zerstört. Er wollte nichts mehr für sich und gab sich rücksichtslos jedem, solang' er Einfluß haben konnte. »Man kann mich nicht betrügen«, sagte er oft, »denn ich glaube nichts, was Freundliches man mir auch sage, und thue den andern nur wohl, weil es die einzige Möglichkeit ist, mir selbst zu genügen!«

Jeder, auch der Elendeste, hat seinen Glanzfleck, der ihn verklärt, eine Handhabe, an der er zum Edlen gehoben werden kann, und jeder, auch der Edelste, ist wieder mit einer Achillesferse behaftet, in der schon die geringste Wunde brandig wird und die Vernichtung des ganzen Menschen herbeiführen kann. Craws Verklärung war sein unerschütterliches Vertrauen zu einer endlichen Vermenschlichung der Menschen, er liebte sie, weil er ihre Zukunft achtete; seine Achillesferse bot dagegen das Mißtrauen, das er fast durchgehends allen Menschen entgegentrug, er haßte sie, weil sie durch ihre tausend Borniertheiten ihr eignes Heil in die Ferne schoben. Dieser sonderbare Zwiespalt trieb ihn gleicherweise in das Leben und aus demselben, hetzte ihn müde und ließ ihn nur recht zum Genusse kommen, wenn er mit dem in der Natur allein war, was groß und bescheiden seine Bestimmung erfüllt, Wald, Feld, Luft und Wasser. Er war somit nach alldiesem einer jener Männer, die trotz der höchsten Befähigung, Bedeutendes zu thun, nur indirekt und zufällig wirken, weil sie ihren Wirkungskreis zugleich zu groß und zu eng stecken.

Nur in seinem Verhältnisse zu Richard Heeren klang ein vollkommen reiner, fast rührender Glockenton innigster Zärtlichkeit durch. Ihn liebte er, grundlos und unergründlich, wie die Liebe immer ist, er liebte ihn, wenn man so sagen mag, wie eine Mutter ihr Kind: trotz alledem und alledem.

Heeren war in Hehlenried unter der Firma eines Sekretärs des Grafen angestellt und stand, wie wir bereits gesehn, in nicht besonders angenehmen Beziehungen zur Familie, so daß ihm Craws Freundschaft oder Protektion, wie die Gräfin es zu nennen pflegte, aus mehr als einem Grunde not that. Im ganzen wenig beschäftigt, von der Schloßgesellschaft ausgeschlossen und sich selbst überlassen, war er, wenn das Wetter es irgend erlaubte, zu bestimmten Stunden täglich auf dem Wege nach Sauseneck. Er kam mit Craw, der ebenso regelmäßig Hehlenried besuchte, zurück und begleitete ihn am Abend mindestens noch eine Strecke, wenn er nicht vorzog, selbst die Nacht in seinem Hause zuzubringen. Heeren war in eine neue Entwickelungsphase getreten, er hatte, wie Craw ihm vorher gesagt, die Bequemlichkeit beiseite gesetzt und neben dem Ziele, das ihm von fremder Hand gezeigt worden, sein eignes ins Auge gefaßt, er war in direkte und bewußte Beziehung zum Leben getreten.

Am Tage nach Tetarskoffs Ankunft kam er früher als sonst nach Sauseneck und warf sich erschöpft auf eine der großen Matratzen, die Craw nach orientalischer Weise in seinem Salon an den Wänden liegen hatte.

»Die ganze Nacht gearbeitet!« rief er, »und was gearbeitet? Zahlenabschlüsse, Latus und Transport, in jeder Kolonne ein Todesurteil, das nur noch der Bestätigung bedarf, um sofort die Exekution herbei zu führen. Und die Leute sind nicht einmal in vollem Maße schuldig …«

»Was sagt Tetarskoff?«

»Nichts, wie gewöhnlich! Er freute sich, wie ein Teufel sich freuen kann. Er saß da mit gerunzelten Brauen, geschlossenen Augen und lächelnden Lippen; der Mensch hatte ein abscheuliches Gesicht während meines ganzen Vortrags. Als ich geendet, seufzte und lachte er zugleich, so daß er mir in einem andern Momente lächerlich erschienen wäre. Dann nahm er die Papiere zusammen, durchlief die Spalten nochmals hastig, legte alles sorgsam in seine Schatulle und spazierte endlich in einer Weise durch das Zimmer, daß ich jeden Augenblick erwartete, ihn entweder mit dem Ofen, dem Fenster oder irgend einem Stuhle in Konflikt zu sehn. Du hättest diese hundert Nuancen von Freude, Stolz, Wahnsinn, Spott, Haß und Rachsucht in seinem Gesichte sehn müssen, um zu begreifen, daß es unmöglich ist und bleibt, daß ich zu diesem Manne Herz fasse …«

»Dafür hast du einen andern Grund als die physiognomischen Studien von gestern nacht und die Rechnungsabschlüsse! Erzähle nur weiter. Du weißt, wie sehr mich der Verlauf der ganzen Sache interessiert!«

»Ich fragte endlich in seine Promenade hinein, ob er meiner noch bedürfe? Er fuhr aus seinen Träumen auf, griff an die Stirn, sah mich einen Augenblick offenbar, ohne irgend etwas zu sehn, mit seinen gläsernen Augen an, dann fragte er ganz unheimlich leise: ›Und das Papier, das Sie suchen sollten, wo bleibt das Papier?‹ Das ist nun seine fixe Idee. Nachdem es mir endlich geglückt, aus all dem alten Wuste von Urkunden und Akten das Testament eines längstverstorbenen Majoratsherrn heraus zu kramen und dadurch eine neue Verwickelung der Verhältnisse, neue Verlegenheiten für die Familie herbeizuführen, will er durchaus, daß sich Papiere vorfinden, die nach allem, was ich darüber erfahren konnte, gar nicht existieren können und nie existiert haben. Das Testament, dessen Kopie ich sofort nach Paris expedierte, und das von dort aus gegen das Interesse der Familie und, wie ich meine, gegen alles Recht gemißbraucht worden, hat mich der Gräfin gegenüber mehr noch als vorher in eine schiefe Lage gebracht, das ewige Fragen nach Dingen, von denen sie nichts weiß, erbittert sie immer mehr und rechtfertigt mit der Testamentsgeschichte zusammen das Mißtrauen, mit dem sie jeden Streifen Papier in meiner Hand betrachtet. Jeder Zettel ist eine Waffe gegen sie …«

»Und Richard Heeren, den sie für so weich und mild wie eine Kräutersuppe ohne Pfeffer zu halten vorgibt, ist der bis an die Zähne Gewappnete, der all diese vergifteten Waffen gegen sie schmiedet! Sieh mein Junge, das ist die Ironie des Lebens, daß es dir unmöglich gemacht ist, dein Ziel zu verfolgen, und daß du es grade darum – erreichen wirst, wenn mich nicht alles täuscht!«

»Unsinn! Wie kannst du nur spotten und höhnen, wo es sich um die Zukunft eines Wesens handelt, das mit allem Anrechte an Glück durch die Schuld anderer in eine Katastrophe verwickelt wird, die furchtbar sein muß und um so furchtbarer wird, als das Kind keine Ahnung davon hat. Du mißverstehst mein Gefühl für Komtesse Luise …«

»Das ist köstlich! Komtesse Luise! Lieber Richard, wir sind in ein Stadium getreten, das auch zu einer zwar für uns geahnten und nicht furchtbaren Katastrophe, aber immer zu einer Katastrophe drängt, die nach einer andern Seite hin ebenso furchtbar und ungeahnt sein dürfte als die papierne, deren Maschinenmeister der Pariser Herr ist. Seit wann sagen wir Komtesse? Seit wann mißverstehe ich Gefühle, deren Natur du selbst schon beim leisesten Antippen dadurch verrätst, daß du ohne weiteres begreifst, wovon die Rede ist? Mut, mein Junge, Mut! Es ist wieder die Ironie des Lebens, daß gar zu gern schmucke, duftige, frische Kletterrosen ihre Blütenzweige über Ruinen breiten. Sieh zu, wenn alles in Trümmer fliegt, so bist du's, der sein Röschen bricht und sein Nest baut, wo den andern alles zerschlagen und verdorben worden!«

»Ich möcht's nicht um solchen Preis!«

»Kannst du's hindern? Kann ich's? Wenn die Menschen nicht immer morsche und gebrechliche Stützen an alles brächten, was einstürzen will, sondern fallen ließen, was fallen muß, so gäb's weniger Unglücksfälle im Lande. Es ist falsche Sentimentalität, aus Trauer über den Untergang einer verbrauchten Welt die Gestaltung einer neuen zu versäumen. Es fällt doch nichts, ehe es reif oder wurmstichig ist, in beiden Fällen ist nichts daran zu halten. Das ist mein Fatalismus. Du erkennst ihn praktisch an wie alle Welt, ich habe nur das vor dir und den andern voraus, daß ich mir seiner bewußt bin. Mische dich nicht in diesen Kampf, wehre nicht ab, Gräfin Hehlen ist Tetarskoff gewachsen.«

»Es gibt da einen Kampf, der um so interessanter ist, als die entscheidende Schlacht endlich auch die Motive des ganzen Krieges enträtseln muß, es mag nun siegen, wer da kann. Und zweifelhaft ist der Sieg trotz der scheinbaren Übermacht Tetarskoffs, er hat etwas, das ich an Cecile Hehlen bis jetzt durchaus nicht entdecken konnte, er hat eine weiche Saite in sich, einen alten Schmerz, der nachklingt, und den man spannen kann. Und was schlimm für ihn ist, die Sache ist verraten, von vornherein verraten auf die grellste Weise von der Welt. Seine Gegnerin ist im Momente schon genau davon unterrichtet und wird ihren Angriffsplan danach modifizieren …«

»Ich verstehe dich nicht. Tetarskoff hätte etwas verraten? Dieser Mensch, der eine Zahl, eine Kettenregel von einem Ende zum andern ist, hätte eine weiche Saite in sich? Unmöglich! Ich würde eher glauben, daß er hinter solcher Maske etwas versteckt und damit täuschen will.«

»Sagte ich das, so wärst du der erste, der mich dafür ausschelten zu müssen glaubte. Indes hast du recht, auch ich geriet außer Fassung, und die einzig Gefaßte in dem sonderbaren Augenblicke, die Person, der wir verdanken, was wir nun wissen, war Komtesse Luise!«

»Luise! O sie hat Mut und Geistesgegenwart …«

»Himmel, du benutzst die geringste Gelegenheit, der kleinen Gräfin eine Lobrede zu halten, ehe du noch weißt, wovon die Rede ist. Mein alter Junge, glaubst du denn, man müsse Craw-Gillen heißen, um die ›Art deines Gefühles‹ zu verstehen, wenn du in dieser Weise zu Werke gehst?«

»Wirst du nun erzählen!«

»Sofort, denn es ist mir zu klar, daß es dir – Tetarskoffs wegen interessant ist, zu wissen, was vorgegangen.«

»Du hast heute deine Spötterlaune, dann bist du unausstehlich!«

»Die Gräfin behauptet, ich sei nur dann genießbar. Übrigens spotte ich nicht, sondern foppe dich nur nach Verdienst, weil du mich belügen wolltest … Lasse es gut sein, man braucht mir nicht immer alles zu sagen, damit ich alles weiß! Höre nur. – Luise wurde gestern mit Wetterheimb und mir ausgeschickt, um den Pariser Bären einzufangen. Wir postierten uns so gut, daß wir ihn schon eine Strecke weit sahen, ehe er noch den Park erreicht hatte. Er kam vom Friedhofe und ging sehr langsam …«

»Sonderbar! Seine erste Frage war, ob ich mitunter den Friedhof besuche? Als er mein erstauntes Gesicht sah, setzte er schneidender, als mir nötig schien, hinzu, daß ihm die Aussicht von dort ausnehmend gefalle und er mich für einen Liebhaber schöner Landschaften gehalten habe.«

»Genug, er kam vom Friedhofe, sein Gang war matt und schwankend, als sei er tief ergriffen und brauche Zeit, sich zu sammeln. So erklärten wir es uns wenigstens hernach, als wir ihn näher sahen, denn in der Entfernung schien er wirklich, wie Wetterheimb auch behauptete, eher betrunken als nüchtern. Ich hatte nebenbei Gründe, seine Geistesgegenwart auf eine Probe zu stellen, und kam ihm denn mit den andern nicht so entgegen, daß er uns von weitem sehn konnte, sondern bog in seinen Weg von einem Seitengange aus plötzlich ein, so daß wir dicht vor ihm standen, ohne daß er sich vorher aus seinen Träumen herauszuwickeln im stande war. Er verwickelte sich im ersten Schreck auch richtig in ihre Garne und strauchelte. Es war noch hell genug, um sein Gesicht zu sehn und jeden Zug zu beobachten. Weißt du, daß der Mann geweint hatte, daß seine Wimpern naß waren, und seine Muskeln schlaff, seine Kraft gebrochen, daß er uns mit blöden, ängstlichen Blicken ansah wie einer, der bittet, daß man ihm um alle Welt mit einer lauten Silbe verwische, was sein Hirn eben ausgebrütet? Ich war, wie natürlich, der am meisten Überraschte und im Augenblicke nicht fähig, zu wissen, was geschehen müsse; Wetterheimb versuchte sich vorzustellen und wollte ihm mit einer artigen Redensart über seine durch die Reise bewirkte Abspannung den Arm bieten, aber ehe noch von uns irgend etwas gethan war, um den Angewurzelten, dessen Arme schlaff herunterhingen, aus seiner Lage zu ziehen, war uns Luise schon zuvor gekommen. Ohne die stieren, ehrlich gestanden, recht widrigen Blicke, die er in ihr Gesicht komplett hinein dolchte, zu beachten, hatte sie ein kleines Flakon, das sie in der Tasche trug, auf ihr Tuch geleert und dies dem Halbohnmächtigen in die Hand gegeben. Sie führte ihm sogar, da er sich kaum selbständig bewegen konnte, seine Hand ans Gesicht und war ohne alle Scheu dem Fremden gegenüber ein sorgendes Weib voller Herzlichkeit und instinktiver Zutraulichkeit. Wir brachten ihn bis an die nächste Steinbank, Wetterheimb wollte Hilfe holen, Luise ein Glas Wasser besorgen, aber er bat uns durch Zeichen, zu bleiben. In der Nähe stand ein tüchtiger Busch Lupine, jedes Blatt hielt mit seinen Fingern einen großen Tropfen Tau: Luise drehte aus einem Huflattigblatte einen Kelch, schüttelte die Tropfen hinein und brachte rasch so viel Naß zusammen, daß wir dem Kranken die Schläfe damit netzen konnten. Sie stand vor uns und sah Tetarskoff so freundlich ermutigend in die Augen, daß diese Blicke ihn mehr erfrischen mußten als all unsre Bemühungen. – Nun, deine Augen funkeln ja bei meiner bloßen Erzählung! Ich hätte dir die Augenweide gegönnt, das zierliche Mädchen mit seinem dicken Feldblumenkranze um den Lupinenbusch schweben und Tautropfen sammeln zu sehn. Jede Perle flog als eine große, im Mondlicht schimmernde Thräne in die grüne Düte, wie eine Thräne des Mitleids, die selbst um Mitleid bittet. Moores Peri fand keine besseren. Ich hätte dir den Anblick gegönnt, er entzückte mich auch, ich sah nie Lieblicheres und Weiblich-Kindlicheres zugleich.«

»Und Tetarskoff?«

»Seine Augen sogen sich vollständig an seiner Pflegerin fest, eine grenzenlose Innigkeit, die ich in seinem Gesichte nie gesucht hätte, versöhnte alle Züge. Er machte sich endlich mit einem tiefen Seufzer, der neue Thränen an seine Lider hing, Luft und, als wäre außer Luise niemand zugegen, ergoß sich jetzt ein Strom von Wehlauten und Dankworten, ein Gemisch von Schärfe und Weichheit, so unberechnet, so unmittelbar, daß er selbst in dem blasierten Wetterheimb der Jugend ihr Recht gab, Luise und mich aber vollkommen hinriß. Er nahm ihre Hände zwischen die seinen, drückte sie an sich, versprach ihr, zu thun, was sie nur immer wünsche, kurz er war außer sich, und selbst die Bitterkeit, mit der er dazwischen das Bekenntnis warf, wie sehr ihn die Unfähigkeit schmerze, sich zu überwinden, zu schweigen und dem Einflusse des Augenblicks zu trotzen, sprach nur für die Höhe der Macht, die dieser Einfluß besaß. Ich verstand nicht alles, was er sagen wollte, Luise mochte noch weniger begreifen und das Ganze für den Ausgang eines Deliriums halten, aber so viel ward mir klar, daß seine Beziehungen zu Luisens Mutter viel älter sein müssen, als wir glauben. Ich schließe das daraus, daß er Luise mit jener verglich, als sie im selben Alter stand, und dabei herbe Worte brauchte. Das alles war aber so aphoristisch und dithyrambisch zugleich, daß sich nichts Weiteres erraten und kombinieren ließ. – Trotz alledem hat mich dabei befremdet, daß er mich, der ihn versprochenermaßen nicht kennen darf, auch damals nicht für bekannt nahm, sowie daß er dann und wann Sätze im fließendsten Deutsch einschaltete, aber die Geistesgegenwart hatte, sie französisch zu wiederholen, – da er, wie ich hernach im Salon gesehn, den Vorsatz mitgebracht, hier vorläufig das Deutsche nicht zu verstehn. Die andern beiden scheinen es überhört zu haben, sonst hätte man ihm später, als er leugnete, jedenfalls ein Kompliment gesagt und sein Leugnen für Bescheidenheit oder Ziererei genommen …«

»Und in diesem Zustande der Auflösung brachtet ihr ihn in den Salon?«

»Er erholte sich rasch genug und schien einen Augenblick recht verdrossen über die Szene, deren Held er gewesen. Dann ergriff er mit der ihm eignen Geschmeidigkeit den Vorwand für seine Bewegung, den ihm Wetterheimb in die Schuhe schob, und bat uns dringend – um niemand zu allarmieren – von dem ganzen Vorfalle nichts zu sagen. Als wir in die Galerie kamen, beherrschte er sich so vollständig, daß er wieder ganz der Tetarskoff war, der uns in Paris gegenüber gestanden, ja er trieb die Verstellung so weit, daß er selbst einen Wunsch, den Luise für ihn in einen Befehl verwandelte, und dessen Befolgung ihm sehr unangenehm sein mochte, erst zu verstehn schien, nachdem er übersetzt worden. Hat ihn nun der Anblick der Feindin, der ungebeugten, stolzen Dame, die den Kampf noch aufnimmt, wo schon alles verloren scheint, erbittert und sicher gemacht, hat ihn der Apparat, mit dem sie ihm entgegentritt, wieder mitten in seine Pläne gesetzt, ich weiß es nicht. Aber das weiß ich, daß er über Nacht mehr Boden verloren hat, als er leicht wieder gewinnen kann. Luise hat beichten müssen, und Cecile ist nicht die Person, die einen solchen augenscheinlichen Vorteil unbenutzt läßt. Wer weiß, ob sie nicht den Eindruck, den ihre Tochter gemacht, auch in Waffen oder Münzen ausprägt, ja, es schien mir, als ob sie auf einen solchen im voraus gerechnet und darum gestern abend, als sie uns aussandte, ganz gegen ihre sonstige Weise, Luise noch phantastisch geputzt habe.«

»Ist das wieder gefoppt?«

»Nein, diesmal ist's Ernst! Das ist die Spitze des Kampfes, die ohne, daß es der Schütze weiß, – er würde den Pfeil indes auch dann nicht zurück behalten, – über das ursprüngliche Ziel hinaus treffen könnte, wenn der Schuß überhaupt treffen kann.«

»Und du sagst, daß der Eindruck ein mächtiger war?«

»Versetze dich in die Situation, denke dir Luise dazu und gib dir dann die Antwort selbst. Hättest du den Pariser Russen nicht für einen fertigen Barbaren gehalten, wenn er gefühllos geblieben wäre?«

»Und du glaubst …?«

»Nichts glaub' ich, als was ich dir gesagt; mehr kann ich ja überhaupt nicht wissen, da in der ganzen Sache niemand mein Vertrauen gesucht hat. Indes meine ich, daß du Grund genug hast, ruhig zu sein, d. h. nicht beruhigt, sondern nur nicht hitzköpfig und unüberlegt. Beobachte und verlasse dich im Notfalle auf den glücklichen Zufall, daß du, die meinen eingerechnet, über vier gute Augen zu disponieren hast. In jedem Fall strenge dich noch an, womöglich rechtzeitig die fatalen Heiratskontrakte, auf die Tetarskoff so versessen ist, und die also wesentlich zum Gelingen seines Planes beitragen dürften, herbeizuschaffen. Jedes Mittel, das seine Überlegenheit steigert und ihm den Sieg näher rückt, macht ihn für Transaktionen unzugänglicher. Ein Mann wie er gibt nicht leicht ein Werk, für das er jahrelang agitiert und maschiniert hat, am Vorabende des Sieges selbst einer ganzen Kollektion hübscher Mädchen zuliebe auf. Du arbeitest für dich, wenn du ihn unterstützest, lasse den Sturm hereinbrechen, es kommt ein Moment, worin grade du vielleicht dem schon errungenen Siege die Kränze rauben kannst. Existieren die Papiere, so müssen sie herbei …«

»Tetarskoff gab mir sogar eine ganz neue Beschreibung der Art ihrer ursprünglichen Verpackung, so daß ich sie längst gefunden haben müßte, wenn sie noch in dieser Hülle steckten. Im Archiv sind sie nicht, und die Kassette mit Familienbriefen, die mir anfangs auch zur Disposition gestellt worden, die ich auch flüchtig durchgewühlt, ist der einzige nicht so genau untersuchte Ort, daß ich nicht schwören könnte, der Pack sei nicht darin.«

»So durchsuche ihn nochmals!«

»Die Schlüssel sind in der Verwahrung der Gräfin, fordere ich sie, so sucht sie erst selbst und nimmt sicher heraus, was ihr schädlich scheint.«

»Dann muß Luise …«

»Pfui! Das kann dein Ernst nicht sein!«

»Halb und halb doch. List gegen Gewalt ist seit je ein erlaubtes Ding, weil es notwendig ist. Ich mag indes gern das Mädchen aus dem Spiele lassen, wenn auch nur aus dem Grunde, weil sich's schwer thun ließe, ohne ihr die mutmaßliche Weigerung der Mutter irgendwie zu motivieren. Ich will's selbst übernehmen und werde heute noch Gelegenheit dazu finden … Ich meine, jetzt wäre es Zeit, daß wir reiten!«

Craw sprach nicht gern anhaltend über Dinge von rein persönlichem Interesse, sie mochten ihn selbst oder andere betreffen. Er pflegte zu sagen: mit meinen Feinden mag ich reden, wenn es not thut, für meine Freunde handle ich lieber und mache sie höchstens auf das dringendste aufmerksam. So redselig er also auch sein konnte, wenn es galt Aufschlüsse zu geben oder Gedanken zu entwickeln, deren Tragweite von allgemeiner Bedeutung war, so einsilbig, karg und abgebrochen blieb er in seinen Andeutungen im erstern Falle. Der Dialog stockte unterwegs vielfach, da Richard nicht über das hinwegkommen konnte, was ihn auf das dringendste berührte, und er deshalb unzugänglich für den Gedankengang Craws blieb, der unterdessen auf national-ökonomisches Gebiet desertiert war. Einer hörte den andern kaum an, so daß endlich beide schwiegen und stumm in Hehlenried ankamen. Richard war verstimmt und erwiderte Craws Handdruck nur lau, als er im Schloßhofe von ihm schied. Craw zuckte die Achseln und sagte: »Das gibt sich!«

Heeren ging in seine Wohnung, die in einem Seitengebäude des Schlosses lag, Craw bog in die Galerie.

Der Himmel hatte eine schlechtgebleichte Serviette umgeknüpft, die seitwärts angeleuchtet wurde; er sah aus, als säße er in einem Bierkeller voller Tabaksdampf, tränke Bock und äße Rettich dazu. Er hatte mit einem Worte eine widerliche, konfiszible Physiognomie voller schielender Lichter, die wie ebensoviel verschiedne Arten von Grinsen über sein ganzes breites und plattes Gesicht hinhüpften, die Zähne fletschten und dazwischen altklug die Nasen rümpften. Ist man zu zwei, so läßt sich das Unangenehme solchen Wetters übersehn oder vergessen, ist man aber allein, so überrieselt uns diese frostige, nichtssagende Geschwätzigkeit eiskalt, wir wenden dem Himmel und der Erde den Rücken zu und befinden uns in unsern Mauern so wohl wie nie zuvor.

Luise saß in der Bibliothek und stickte.

»Mir ist es mitunter, als habe die Natur ab und zu die fixe Idee Mensch zu sein«, sagte ihr Craw, »und wie es bei Nachäffungen immer geht, die angeborne, individuelle Liebenswürdigkeit wird für irgend eine miserable Thorheit abgestreift. Die Natur hat dann Launen wie die Menschen und bringt statt ihrer kräftigen, markigen, edlen ganz jämmerlich elende Menschenlaunen zu Markte. Sie schmollt und sitzt im Winkel, ja sie zittert am ganzen Leibe recht wie eine junge Frau, die nebenbei fürchtet, man könnte ihr Schmollen für Ernst nehmen und danach handeln. Da, sehn Sie nur, wie die Bäume mit ihrem schmalen Grün zusammenkauern, wie Ast auf Ast hockt, als wollten sie ein bißchen Wärme voneinander borgen. Die Schafe stecken in der Mittagsschwüle die Köpfe zusammen und suchen so eins in des anderen Schatten Schutz: so machen es die Linden heute auch. Der Saft tritt in den Zweigen für zwei Tage zurück, Sie sollen sehn, die Blätter bekommen braune Spitzen …«

»Hat Sie denn der Russe auch bezaubert, oder was ist es, daß heute alle Welt, mich ausgenommen, mißvergnügt und unzufrieden scheint? Sie schelten Ihre liebste Freundin, die Natur, wie wird es da erst uns gehn?«

»Nur Sie sind hier im Hause heiter? Wie kommt das?«

»Mama ist so gut gegen mich gewesen; sie hat mich gestern abend noch, als ich fürchtete gescholten zu werden, sehr gelobt und ist seit da freundlicher als je zuvor. – Sie glauben mir nicht, weil Sie überhaupt nicht glauben, daß Mama herzlich sein kann, aber es ist, wie ich Ihnen sage. Darum ist mir so wohl und leicht.«

»Und mir so trüb und schwer!« murmelte Craw zerstreut.

»Wie ist das möglich?« fragte Luise, die ihn dennoch verstanden hatte.

»Sagt' ich etwas?«

»Nun, das ist doch arg, daß Sie nicht einmal mehr wissen, ob Sie etwas sagen oder nicht. Wie soll man denn gar erst Rechenschaft über das Gesagte selbst von Ihnen fordern. – Sind Sie ernstlich betrübt, lieber Craw?« sagte sie dann kindlich, legte ihre beiden Hände auf die seinen und sah ihm von unten ins Gesicht.

Er strich leicht mit der Hand über ihre Haare, und sie ließ es geschehn, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Vor zwei Jahren noch küßten Sie immer meine Stirn, wenn ich so vor Ihnen saß; jetzt bin ich Ihnen zu alt geworden und die Leute würden sagen: es schicke sich nicht mehr. Ist das nicht recht sonderbar? Ich las vor kurzem noch in einem Buche, das sonst recht gut gefiel, von der Scheu, die plötzlich die Mädchen, wenn sie ein gewisses Alter erreicht haben, vor Männern ergreifen soll, mit denen sie früher auf dem herzlichsten Fuße gelebt, wie eben Kinder mit Männern leben, die fast täglich ins Haus der Eltern kommen. Ich empfinde diese Scheu noch immer vor Ihnen nicht, obgleich ich mich beobachte und mich gern darauf ertappen möchte; im Gegenteil es kränkt mich fast, daß Sie jetzt oft so zeremoniös mit mir umgehen wie mit der Grasenapp oder einer andern.«

»Und haben Sie denn diese Scheu vor den vielen andern, die schon länger als ich hier aus- und eingehen, nicht? Sie dürfen nicht erröten; wozu jetzt? Nun sehn Sie nur, Ihre Wangen brennen, als hätte ich nicht nur Ihre Stirn geküßt, und käme – Heeren oder ein anderer jetzt herein, so glaubte er sicherlich, ich habe Ihnen eine erwartete und nicht ungenehme Erklärung gemacht, obgleich ich mich vor nichts mehr hüten möchte. – Ja, das ist's! Hätten Sie mich nun wenigstens unartig gefunden, aber statt dessen blicken Sie mir so freundlich, ja fast dankbar in die Augen, daß ich auch, wenn ich Sie in der Weise liebte, wie die Leute sagen, alle Hoffnung verlieren müßte. Sie hätten dann auch jene Scheu vor mir und kämen in großen Zorn, wenn ich Sie noch behandeln wollte wie ein Kind!«

»Aber Sie machen mir die Erklärung nicht, vor der mir von allen Seiten schon so viel bang gemacht worden, daß ich wenigstens immer so lang ängstlich war, als ich Sie nicht sah.«

»Fürchten Sie sich denn gar so sehr davor, daß ich Sie wieder wie früher offiziell mein liebes Lieschen nennen könnte?«

»O necken Sie mich nicht so, es thut weh, – und wenn sich jetzt auch Mama mehr mit mir beschäftigt, möcht' ich Sie doch darum nicht verlieren. Thäten Sie es, aber ich weiß, daß Sie es nicht thun werden, so dürft' ich nicht nein sagen …«

»Und …? Beruhigen Sie sich nur, liebes Lieschen, und sparen Sie Ihre Thränen. Wenn ich auch, wie Ihnen die Leute drohen, um Sie anhielte, ich bekäme einen Korb in aller Form, einen Korb von Ihnen und einen zweiten von Ihrer Mutter. Sie haben mir Ihr Nein schon deutlich genug gesagt …«

»Aber das ist's grade gewesen, was Sie wollten, nicht wahr?«

»Zwingen Sie mich doch nicht unhöflicher zu sein, als ich mag und darf.«

»Ah, ich lasse mich von Ihnen nach wie vor gern wie ein Kind behandeln, Sie schützen mich dafür auch gegen die Zudringlichen durch Ihren Spott und die Weise, mit der Sie ihr langweiliges Geschwätz abschneiden.«

»Gott bewahre! Nur meine Qualität als heimlicher Bräutigam gibt mir in Ihrer Nähe eine gewisse Würde, die bongré, malgré respektiert wird. Weiter ist es nichts, und nur weil ich dies Resultat sah und Gebrauch von den Folgen zu machen wußte, that ich nie etwas, das Gerücht ernsthaft zu widerlegen.«

»Aber warum thaten Sie das?«

»Kinder dürfen nicht nach allem fragen, sie erfahren zur rechten Zeit alles und müssen bis dahin Geduld haben.«

»Ah, und Kinder bekommen auch Bonbons oder haben Glück im Finden, nicht wahr?«

»Das erstere verdirbt ihnen oft die Zähne und verwöhnt sie, das zweite hat seinen Grund nur darin, daß sie der Erde näher sind und bessere Augen haben als Erwachsene.«

»Ich bin wohl groß genug und habe doch heute noch etwas gefunden, was mir viel Freude gemacht hat, und was am Ende auch ein Bonbon ist«, sagte sie mit einem Anfluge von Übermut, nahm dann aus ihrem kleinen Notizbuche ein Blättchen Papier uns hielt es Craw vor die Augen.

»Das ist Richards Hand!« sagte er. »Haben Sie das gefunden?«

Sie zuckte leicht zusammen, als der Name genannt wurde, und sagte scheinbar erstaunt: »Wissen Sie das genau? Ich sah Herrn Heerens Handschrift so oft, aber sie glich meines Wissens dieser nie.«

»Weil das Blatt absichtlich mit italienischen Buchstaben beschrieben ist statt mit deutschen.«

»Absichtlich?«

»Nun ja, wahrscheinlich, damit irgend jemand, – vielleicht des Amtmanns Else, – mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten könne, sie habe die Schrift nicht gleich erkannt, überhaupt nicht gewußt, daß Herr Heeren der Verfasser der Verse sei, die darauf stehn.«

»O, Sie sind heute recht böse.«

»Machen Sie mich gut und lassen Sie sehn, was der Schlingel für Blätter auf die Kreuzwege sät, damit sie gefunden werden können.«

»Sprechen Sie doch nicht gegen Ihre Überzeugung und brauchen Sie nicht so häßliche Worte von Ihrem Freunde. Er wird das Blatt verloren haben, wollen Sie es ihm wiedergeben?«

»Doch nur, wenn es bewiesenermaßen seine Adresse verfehlt hat!«

»Craw, Sie necken Ihr ›liebes Lieschen‹?«

»Darin sind sie doch alle gleich!« sagte Craw vor sich hin. »Eine Dosis Verstellung und eine Portion Schmeichelei à propos ist ihnen angeboren.« Dann fuhr er laut fort: »Lassen Sie mich nur erst lesen, vielleicht versöhnt er mich wieder!«

Sie gab ihm das Blatt, und er las:

»Es klingt in der Luft uralter Sang,
Nicht Jubelruf, nicht Wehgeschrei,
Und doch so süß, und doch so bang,
Als ob er beides sei.

»Wer ihn gehört, der ward so reich
Als hab' er genug geträumt und gelebt,
Als sei ihm Tod und Leben zugleich
Aus Klang und Duft gewebt.

»Wer ihn gehört, dem wird so schwer,
Als sollt' er leben zum erstenmal,
Wo alles wüst und alles leer,
Sich selbst und der Welt zur Qual.

»Ihm ist wie einem vergeßnen Ton,
Den niemand wieder erkennen mag,
Der aber vor alten Zeiten schon
In holdem Kreise lag …«

Luise griff nun plötzlich wieder nach dem Papiere und verbarg es in ihrem Taschenbuche. »Da Sie mir den Verfasser, den mutmaßlichen wenigstens, genannt haben, dürfen Sie den Rest nicht vorlesen«, sagte sie scherzend, aber mit jener Langsamkeit, die sich immer einstellt, wenn wir scherzen wollen und ein mächtiges Gefühl entweder laut aufjubeln oder laut aus uns heraus klagen möchte.

»Und Sie meinen am Ende, ich wüßte die Nutzanwendung, die nun kommen muß, mir nicht hinzu zu denken, ich wüßte nicht, wie der vergeßne Ton sich mit einem andern ebenso vergeßnen verbindet, um ein Akkord zu werden? Sind wir nicht alle Töne in jener großen Zaubermelodie? Schwimmt nicht die Welt in der Luft, in der sie klingt? Es war auch für Sie nicht nötig den Gedanken auszuführen, Sie hatten ihn so gut wie ich erraten. Das große, ewig schöne Lied ist ein Gassenhauer, und das beste an ihm ist eben, daß es ein Gassenhauer ist. Jeder pfeift ihn nach, und sein mächtigster Zauber besteht darin, daß jeder glaubt, er habe die Weise erst erfunden. Man kann Bonbons in verschiedne Papiere wickeln, aber die Hauptsache bleibt das Süße daran: mir geben Sie nun das Papier und behielten das Bonbon und die Devise für sich; Sie hatten recht, denn ich esse seit lang keine Süßigkeiten mehr und würde auch diese nicht zu schätzen gewußt haben.«

»Sie sprechen das wieder in einem Tone aus, der mich recht schmerzlich berührt, haben Sie denn so gar viel gelitten, und ist denn gar nichts gut zu machen?«

»Wer fragt nach einer versunkenen Welt?«

»Sie sind heute so trüb, daß ich mich recht vor Ihrer längst versprochenen Vorlesung fürchte, das wird wieder etwas recht Trauriges sein, Dissonanzen ohne Versöhnung, Rettungsloses, das man nie mehr los werden kann.«

»O nein, vielleicht werden Sie lachen!«

Er sagte diese Worte leicht hin, aber es lag Schmerz darin, wie ihn das Mädchen wohl ahnen und fühlen, aber nicht verstehen und begreifen konnte. Luise gab sich auch trotz ihrer Herzensgüte und ihrer Anhänglichkeit an Craw nicht die Mühe, darüber nachzugrübeln: Es gibt nun einmal Zeiten, in denen man nicht über sich selbst hinaus kann und durch eine wunderbare Elastizität bei jedem Versuch die Grenzen zu überschreiten immer wieder mitten in den Zauberkreis zurückgeworfen wird. Sie wollte Craw über mancherlei Dinge aushorchen, sie wollte ihn plaudern machen von dem, was ihr am Herzen lag, und obgleich er ihr planmäßiges Forschen durchschaute und gerade darum nie zu wissen schien, worauf sie hinaus wolle, gelang es ihrer Unermüdlichkeit, die Craw mit jener Spinne Robert Bruces verglich, doch in der Stunde, die sie auf Cecile warten mußten, mehr über Tetarskoff und Heeren zu erfragen, als Craw ihr freiwillig gesagt hätte.

Cecile kam endlich, sie hatte geschrieben und sah matt aus. Sie versuchte auch nicht ihre Erschöpfung zu verbergen.

»Gibt es wohl etwas Widerwärtigeres für eine Frau als selbst und allein in dem ganzen Geschäftskrame einer großen Verwaltung herum zu wühlen?« sagte sie. »Ich mag disponieren und übersehe das Feld, aber nun auch immer selbst schreiben, selbst lesen, selbst addieren und rechnen, ohne jemand zu haben, der helfen kann und helfen mag, keinen, auf den ich mich verlassen könnte, das ist manchmal überwältigend unangenehm.«

»Sie haben Ihren Gemahl und außerdem Männer genug, denen Sie vertrauen könnten, wenn Sie wollten, vor allen aber Heeren und mich. Sie selbst sind es, die sich eine unnütze Last nicht allein aufwälzt, sondern oft geradezu vorbehält. Ich kann Sie nicht bedauern.«

»Bleiben Sie mir doch endlich mit Ihrem ewigen Heeren aus dem Hause. Er gebärdet sich stets, als wolle er an den Himmel hinauf reichen und Sterne mit der Hand wegfangen, wie die Knaben die Fliegen von der Wand schnappen; es gäbe gar keine größere Thorheit, als einem solchen Menschen Wichtiges anzuvertrauen, er sänge seine Sterne damit an …«

»Und doch meine ich, daß schon oft Wichtigstes in seinen Händen geruht. Wäre er wie Sie sagen, so können Sie wenigstens annehmen, daß die Stelzen, auf denen er geht, von Glas sind und ihn von jedem Einflusse isolieren; er steht zwischen Himmel und Erde und kann darum unparteiisch sein.«

»Das heißt, wenn Sie recht hätten, verlöre er die Erde und ragte doch nicht an den Himmel hinauf!« sagte Cecile schneidend scharf.

»Möglich!« entgegnete Craw, »aber wenn er nichts will, als Sterne fangen, so braucht er nicht zu verzweifeln, es gibt ja außer den Fixsternen noch andere, es gibt endlich Sternschnuppen, vielleicht fliegt ihm ein solcher goldner Schmetterling in die Hand. – Indes, gesetzt es sei mit ihm nichts, was haben Sie gegen mich einzuwenden?«

»Daß ich Sie stören würde, während Sie für das Allgemeine etwas thun können oder doch thun wollen.«

»Es gibt sehr tüchtige Menschen, die gleichwohl so einseitig sind, am Christentume nichts Gutes lassen zu wollen, weil sie das christliche Element nicht von dem christentümlichen unterscheiden mögen, oder weil sie die verkehrte Anwendung christlicher Sätze nicht zu rektifizieren Lust haben und darum lieber über die ganze Sache in Bausch und Bogen aburteilen. Und doch ist die ganze Lehre von der freien Sittlichkeit nirgend schlagender, bestimmter und einfacher gefaßt, nirgend ohne alle Definition besser definiert als in dem christlichen Satze: ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst und Gott über alles!‹ Tragen Sie nun faßbare Begriffe für die gebrauchten Worte ein, so haben Sie das ewige Grundgesetz der äußersten und letzten Entwickelung des Humanismus darin ausgesprochen. Ein andrer Satz heißt: ›Was du dem Geringsten unter deinesgleichen thust, hast du mir (also der Gesamtheit) gethan!‹ Wenden Sie dies auf unsern Fall an, überlegen Sie, wieviel Ruhe und Zeit Ihnen für sich und Ihre Weiterbildung, Ihre Versöhnung bliebe, wenn Sie anderen Vertrauen schenkten, so werden Sie finden, daß das Allgemeine nicht zu kurz käme. Es bildet sich ja sogleich eine Kette von Wechselwirkungen. Sie wirkten auf mich zurück und Ihrerseits weiter, statt wie heute bewölkt zu sein wäre Ihr Horizont klarer und freier, und Sie müßten darum auch anderen aufklärend und freimachend erscheinen.«

»Sie wollten mir also wirklich helfen? Ich hatte nicht den Mut, Sie darum zu bitten, aber da Sie selbst dafür argumentieren, wäre es thöricht, abzulehnen. Ich sage Ihnen später, um was es sich handelt, aber es ist langweilig, das sag' ich Ihnen im voraus. – Lassen Sie uns nun ausruhen und Kräfte sammeln. Nehmen Sie Ihr Heft und geben Sie meiner kleinen Luise, die eine vollständige Eroberung an Tetarskoff gemacht hat, ihren Humor von heute früh wieder. Was fehlt dir denn, mein Kind?«

Luise war schon zu Anfang des Gespräches gleichsam in sich zusammengeknickt, hatte wiederholt die Farben gewechselt, aber keinen Einwurf gewagt.

»Sie sieht recht hübsch aus, wenn sie den Kopf so ein wenig hängen läßt und nur von Zeit zu Zeit die Augen aufschlägt, nicht wahr?« fuhr die Gräfin fort.

»Es liegt Unsicherheit und Bangigkeit in solchen Blicken. So mögen kleine Vögel aussehen, wenn sie die Klapperschlange anstiert«, sagte Craw obenhin und schlug sein Heft auf.

»Was Sie abgeschmackt in Ihren Vergleichen sind!« entgegnete Cecile ärgerlich.

»Nun, das Klapperschlangenauge bilden mitunter die Verhältnisse, die Gedanken, die Träume, die Hoffnungen oder Erinnerungen, was weiß ich, – mir ist Luise lieber, wenn sie singt, d. h. nicht mit dem Munde, sondern wenn ihr ganzes Wesen eine klare liebe Melodie ist.«

»Ihre Komplimente kommen immer sehr teuer, Sie brauchen so entsetzlichen Apparat dazu.«

»Wohlfeile Ware taugt wenig! – Hören Sie nun zu!«

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