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Fünftes Kapitel.

Man versucht sich zu arrangieren.

Der gewöhnliche Hang ihres Alters für das Abenteuerliche war der Gräfin nicht fremd. Ehe sie ihr Zimmer erreicht hatte war es also ihrer Phantasie schon gelungen eine höchst merkwürdige mit pikanten Szenen aller Art durchwürzte Geschichte zu erfinden deren Verlauf den inkognito reisenden Künstler zu seinen Ansichten und zu der Begegnung mit ihr gebracht. Sie hatte absichtlich nicht nach seinem Namen gefragt, denn sie war überzeugt, daß er den wahren nicht nennen würde, aber sie hoffte ihn durch List zu erfahren und entwarf schon im voraus einen Angriffsplan. Da sie ihn nun nicht mehr nach dem Kleide schätzte, verlieh der Anzug, dessen Wahl ihr jetzt originell vorkam, dem Manne eine neue, romantische Seite, ebenso fiel ihr die ebenmäßige Gestalt mit dem eigentümlichen Kopfe, Dinge die sie an dem »Handwerker« nicht des Bemerkens wert gehalten, günstig auf. Es war einmal etwas Ungewöhnliches, eine Abwechselung besondrer Art, auf die sie sich in der Eintönigkeit des jetzigen Schloßlebens freuen konnte, sie dachte darum wiederholt mit Vergnügen daran, daß der Mann nach sieben Uhr kommen würde.

Zum Unglück für ihren Traum erzählte sie von ihrer heutigen Begegnung und ihren Hoffnungen über Tische in Gegenwart der Diener. Der alte Tafeldecker, der seit langer Zeit das Privilegium hatte das lebende Intelligenzblatt von Hehlenried nebst zweimeiligem Belagerungsrayon zu sein, glaubte auch hierbei sein Wissen geltend machen zu müssen. Er verglich die Personalbeschreibung, welche Cecile mit einiger Vorliebe gab, mit Zügen, die ihm bekannt waren, ein Irrtum schien bald nicht möglich, und mit Entsetzen bemerkte er, daß die Gräfin sich durch die Frechheit eines Menschen, dessen Gruß er selbst kaum mit einem wegwerfenden: Bon jour! beantwortet hätte, verführen und täuschen lassen.

Es ist ganz derselbe Stolz, den die Büreaukratie, die Hofschranzen und die gewöhnlichen Lakaien haben. Man wird sagen, es ist ein Glück, daß die Leute so dumm sind, eine Ehre im Dienen zu finden, sonst wäre ihre Lage unerträglich, – aber es ist dies wieder nur eine naturwidrige Notbrücke, eine Stütze unnatürlicher Verhältnisse. Einer Sache, einer Idee, dem allgemeinen Besten endlich willig und eifrig seine Dienste zu widmen, das ist ehrenvoll und setzt auch eine spezielle, persönliche Fähigkeit voraus, die von den andern ebenso willig geachtet und anerkannt wird. Einer Person dienen, einer Person gehorsam sein müssen ohne Wahl, ohne Urteil, das ist aber eine Stellung, die den Menschen zum Werkzeuge, zur Maschine herabwürdigt, die also in einem denkenden, seiner Würde bewußten Wesen nie Stolz hervorrufen kann. Es gehört eine Störung, ja fast eine Vernichtung aller Einsicht und alles Erkennens dazu, wenn der vom Volke bezahlte Beamte sich über das Volk stellt. Man kann diesen Lakaienstolz auch bei den Fürsten selbst finden, die ja trotz ihrer Gottesgnadenschaft Nullen wären und hungern müßten, wenn das Volk nicht so rätselhaft gutmütig wäre für sie zu arbeiten. In dem auf vollkommen sittlicher Basis begründeten Volksstaate würde die Verwaltung öffentlicher Ämter nicht den Charakter einer Bedienstung haben, sie würde auch keine Besoldung im jetzigen Sinne mitbringen. Der Fähige, der für die andern, für eine Anzahl oder die Gesamtheit seiner Mitbürger arbeitet, würde notwendig und naturgemäß nicht bloß die Kosten der Amtsverwaltung durch öffentliche Mittel gedeckt sehn müssen, sondern auch auf dieselbe Weise den Unterhalt seiner selbst und seiner Familie von der Gemeinde erhalten. Abhängig von der Gemeinde wäre er dadurch aber ebensowenig als die Gemeinde ihm unterthänig: er wäre Arbeiter wie die andern.

Und in einem reinsittlichen Staatsverbande dürften nur Arbeitsinvalide nicht Arbeiter sein. Die Gründe, die man gegen ein letztes Nivellement anführt, die Behauptung, daß Kunst und Wissenschaft zu Grabe gingen wenn die Aussicht Geld und Ehrenstellen zu erlangen gestrichen würde, alldies zeigt auf der einen Seite, daß man in den meisten Kreisen gar keine Ahnung von dem hat was die Neuzeit eigentlich anstrebt, und auf der andern bricht es den Stab über die Unsittlichkeit der Zeit, die wir zu verlassen suchen. Das Nivellement gleicht nicht dem berüchtigten Prokrustesbette, es leugnet nur die ohnehin nur geträumte Berechtigung des Zufalls und setzt dafür die höchste, überall gleiche Berechtigung des Individuums. Wer ein Recht in sich hat, der wird es auch in der neuen Gesellschaft haben, aber ein anderes Recht als das der persönlichen Befähigung, des Talents, der Geschicklichkeit wird sie nie anerkennen. Das Nivellement greift nur Vorrechte an, die das Kind schon haben soll, das Recht das der Mann durch sich selbst zur Anerkennung bringt wird immer gelten. Das ist eins. Das andere, die Befürchtungen für Kunst und Wissenschaft sind wahrhaft erbärmlich. Das ist's ja eben was die Halb-, Viertels- und Untalente in wissenschaftliches und künstlerisches Leben bringt, die Möglichkeit durch Gunst und Ungeschmack ein Stellchen oder eine Pension zu ergattern. Nur der allmächtige Drang, der schaffen muß, nur die wirkliche Begabung würden schaffen und wirken um der Kunst, um der Wissenschaft willen, nicht aber aus andern elenden Rücksichten, zu denen auch das wirkliche Talent in unsern Tagen oft genug gezwungen ist. Cornelius wäre wahrscheinlich nie zu seinen Lineal-Heiligen gesunken, wenn unsre auf den Mehrerwerb angewiesne Gesellschaft ihn nicht gezwungen oder doch dahin gestachelt hätte das zu arbeiten was man ihm gut bezahlen wollte. – Das Volk auf seiner Höhe garantiert denen, die es verklären durch die Kunst und die es erleuchten durch die Wissenschaft, die also auch arbeiten für die Gesamtheit, ihren Unterhalt so gut wie den anderen, die es mit öffentlichen Ämtern betraut; aber Stümperei und Mittelmäßigkeit, die der Kunst wie der Wissenschaft seit je nur geschadet, können nicht auf Rechnung des Volkes betrieben werden, sie gehn also unter. Wer will sie bedauern? Man wird in der neuen Zeit das Schöne und Edle um seiner selbst willen lieben, die Meisterwerke werden dem Volke gehören, und das Volk wird sich daran zum Schönen und Edlen hinauf bilden. Die Kunst wird erst ungetrübt von Zwang und Marotte sich wieder zu sich selbst empor schwingen können, ja sie wird sich erst zu ungeahnter Blüte entwickeln, wenn sie nur um ihrer selbst willen wird geliebt und gepflegt werden können. Es ist immer dieselbe jammervolle Kurzsichtigkeit oder die parteiische Böswilligkeit, die den Stabilismus mit der baumwollnen Schlafmütze lobhudelt, weil sie entweder nicht über die eigne Nase hinaussehn kann oder in der eignen Unbrauchbarkeit und Unfähigkeit die Schranke erkennt, die sich ihr bei einer Umgestaltung der Dinge entgegenstellen muß. Man ist so weit gegangen einen Heroismus daraus zu machen, wenn ein Mensch einmal wagte keinen andern Platz in der Gesellschaft für sich zu fordern und einzunehmen als den, zu dem ihn die Natur ausgestattet; man schrie: Wunder! wenn er nach vollbrachter Sendung wieder zu seinem gewöhnlichen Dasein zurückkehrte! Es ist wahrhaftig arg, daß die Sittlichkeit, denn weiter ist es nichts, ein Wunder heißen muß. Diese Unsittlichkeit ist eine Folge des konsequenten Lakaientumes, das sich über die ganze Erde gesponnen. Während die Arbeit dem Menschen in den Augen unsrer Zeit wie schon seit Jahrhunderten eine Art Brandmal aufdrückt, das von den Arbeitern, denen die Frechheit der andern imponiert, auch ganz ruhig getragen wird, – wagen die, deren Erhalter die Arbeiter sind, stolz zu sein. Auf was? – Nun, sie haben nicht so unrecht, denn die Klügeren sind sie wirklich. Würde ihr Stolz und die eigne Unterordnung, so widernatürlich sie ist, nicht von dem freien Manne, der sich durch sich selbst und seine Arbeit erhalten kann, anerkannt, so würde das Verhältnis bald ein anderes sein. Man würde wissen, daß Fürsten und Herren nichts als privilegierte Bettler sind, die von den Almosen des Volkes leben, und daß schon darum selbst in dem jetzigen Staate der geringste Arbeiter mehr Rechte hat und stolzer sein darf als alle Fürsten der Welt. Man spricht so gern von der Tendenz der Neuzeit in einem Sinne der glauben läßt, es solle alle »natürliche und göttliche Ordnung« umgestoßen werden, gäbe man sich aber die Mühe statt einer so vagen Phrase eine Untersuchung des Thatbestandes und der Elemente, die seine Umschmelzung fordern, in gründlicher Weise herbei zu bringen, so würde man bald erkennen, daß nicht die Unordnung, sondern die Vernichtung schreiender Unordnungen das Ziel der Opposition gegen das Bestehende ist. Es ist das Chaos verkehrter und verjährter Begriffe, aus dem der Kampf der Elemente sich klar und hell empor arbeiten will. Darum muß alles analysiert und ventiliert werden, die Stoffe müssen sich scheiden, ihre natürlichen Berechtigungen müssen erkannt und nach dem Gesetze innerer Notwendigkeit in ein Verhältnis zu einander gebracht werden, das natürliche Gleichgewicht für die Gesellschaft muß sich finden. Dieser chaotische Zustand dauert an seit es Menschen gibt, aber der Kampf der Elemente war ein vereinzelter, er gewinnt jetzt eine andere Gestalt, weil er sich überallhin ausdehnt, weil es gilt nicht eine Nation, sondern die Menschheit selbst, die ganze große Gesamtheit, in den Kampf um ihre eigne Freiheit zu verwickeln. Schlag auf Schlag wird ein weiterer Gedanke gefunden, Blitz auf Blitz zuckt durch die alten Wirrsale, – so mag es in der That bei der großen Weltgestaltung vor der Geburt des Lichtes gewesen sein. Aber mit der Sonne kam Wärme und Leben, – und man meint wirklich, daß das Licht der neuen Gesellschaft Kälte und Tod bringen müsse? Kurzsichtigkeit und Unfähigkeit, Lakaientum und geborne Niedrigkeit, das sind die Feinde der Entwickelung des sozialen Lebens, das sind die inkarnierten Feinde der Menschheit. Sie wollen dem Gedanken den Triumph rauben durch sich selbst zu siegen und drücken ihm die rohen Waffen der Gewalt in die Hand um ihn schmähen zu können und die feige, träge Masse für sich zu gewinnen, aber es ist umsonst: die große Schlacht des Gedankens gegen die Gewohnheit, der Sittlichkeit gegen die Unsittlichkeit wird nicht mit Kanonen und Bajonetten geschlagen werden. Der Gedanke siegt wie die Sonne. Sowie er hoch am Horizonte steht gehört ihm die Welt. – Sowie der Arbeiter in der Arbeit nicht mehr eine Plage, der er entfliehen möchte, sondern eine ehrenvolle natürliche Beschäftigung finden wird, sowie er das Brandmal, das er selbst sich aufprägen half, verwischt, wird auch der Bettelstolz der Nichtarbeitenden schwinden, und alle werden nach ihrer Kraft und Befähigung arbeiten, weil es ohne Arbeit keine Existenz geben und weil der Müßige, Träge außerdem der allgemeinen Verachtung der Menschen anheimfallen wird.

Aber wir sind auf dieser Stufe moralischer Entwickelung noch nicht angelangt. Der Tafeldecker in Schloß Hehlenried, der einen roten Livreerock mit goldnen Tressen, eine weiße Weste, über die ein gestickter Busenstreif fiel, enge schwarze Kniehosen, weißseidne Strümpfe und Schnallenschuhe trug, einen Anzug, der kontraktmäßig erst nach zweijährigem Gebrauche sein Eigentum wurde, bis dahin aber der Herrschaft gehörte, verachtete den Drechsler in der eignen frei verdienten Drilljacke. Er verachtete den Mann, der überall und immer durch seine Hände Nahrung finden konnte ohne ein demütiges Gesicht und einen krummen Rücken bei Scheltworten wie bei Lob machen zu müssen. Er verachtete ihn wie ein echter Lakai, nicht weil er ihn an Unterricht und Bildung unter sich glaubte, sondern weil er seine soziale Stellung jenem gegenüber für bevorrechtigt hielt. Kaum war er also zu der Überzeugung gelangt, daß Gräfin Cecile, von einem beklagenswerten Irrtume befangen, einen gemeinen Handwerker für eine Art von Menschen, – denn das schien ihm ein Künstler doch, – gelten ließ, als er sogleich fast mit Entrüstung meldete, daß der fragliche Künstler nichts anderes sei als ein nicht ungeschickter Drechsler Namens Hennings, der schon seit mehreren Jahren im Dorfe wohne, übrigens aber ein Kopfhänger und Duckmäuser, jedenfalls ein schlechter Mensch sei, der das Werk, wodurch er sich habe als Künstler legitimieren wollen, eher gestohlen als gemacht haben dürfte …

Warum denn nicht? Ein Mann in einer Drilljacke ist von vornherein jedes schlechten Streiches verdächtig. Warum trägt er auch nicht Uniform oder Frack, in diesen gilt auch der Lump für anständig. Arbeit ist schmachvoll, Armut dringend verdächtig! Wahrhaftig die Erfindungen des Unsinns der Gesellschaft sind überaus sinnreich.

Auf Cecile machte diese Mitteilung einen sehr unangenehmen Eindruck. Schien ihr die letzte Bemerkung, der präsumtive Diebstahl, auch unwahrscheinlich, so war die Nachricht, daß Hennings schon seit Jahren im Dorfe lebe, doch mit ihrer Annahme einer bloßen Künstlerlaune unvereinbar. Sie war, wie das in der vornehmen Welt zu jeder Zeit, selbst dem Republikanismus gegenüber geschieht, gern bereit, eine vorübergehende Laune, einen originellen Streich, zur Hälfte gegen sich selbst geführt, für etwas Lobenswertes, Geniales zu halten, aber die Konsequenz, die Durchführung einer solchen »genialen« Lebensanschauung verlor den Reiz, den der Gedanke ursprünglich hatte. Der Künstler verhandwerkerte, der wohlerzogne Mensch mußte endlich doch verbauern, die Sache blieb also ein Unrecht. Und dann mußte man gestehn, daß der echte künstlerische Drang von innen heraus, der wie ein Kork im Wasser unter allen Verhältnissen nach Luft und Licht ringt und immer wieder auftaucht, dort nicht sein konnte, wo die Degradation zur niederen Arbeit dem Rechte auf höhere freiwillig vorgezogen wurde. Hierbei aber fand sie die Marotte wieder. Der Mann war noch jung, er hatte sich früh verheiratet, dieses Verhältnis fesselte ihn vorläufig, aber es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß er über lang oder kurz, des kleinen engen Familienlebens überdrüssig, das ihn für den Augenblick seinen größeren Beruf vergessen ließ, wieder der Kunst zueilen würde. Wie es damit stehe und zumal ob jene Statuetten wirklich sein Werk seien, war leicht zu ergründen. Es galt, ihm eine Probe aufzulegen. Weigerte er sich, so wurde die Wage seiner Glaubwürdigkeit um vieles minder gewichtig; ließ er sich mühsam überreden und arbeitete lässig, so wurde sein künstlerischer Beruf in Frage gestellt; entschloß er sich dagegen noch so schwer, erwärmte aber bei der Arbeit, ließ sich wohl gar hinreißen und durch diesen äußern Anstoß bewegen ganz zur Kunst zurück zu kehren, zu studieren, sich in anderem Stoffe zu versuchen, dann … Cecile träumte schon ihn als großen, berühmten plastischen Künstler zu sehn und that sich im voraus nicht wenig darauf zu gut, daß sie ihm die äußere Veranlassung zur Umkehr werden sollte.

Sie mußte indes warten. Hennings kam weder an diesem noch am zweiten Tage, – aber der Tafeldecker, bei dem sie sich beiläufig erkundigte, wußte ganz genau, daß die Frau des Drechslers, die schon seit langer Zeit nicht gesund sei, ab und zu so schwach werde, daß der Mann auch im Hause thätig sein müsse, da die »Leute« zwei Kinder und keinen Dienstboten hätten. Das war zum mindesten eine thatsächliche, in den Umständen gegebne Entschuldigung, obgleich die Gräfin meinte, er habe sich wohl die Zeit nehmen können, ihr den Grund seines Nichtkommens am zweiten Tage auch in Worten mitzuteilen.

Endlich kam er. Cecile empfing ihn in Gegenwart des Schloßkapelans mit affektierter Gleichgültigkeit. Sie suchte sich dadurch vor dem Eklat einer möglichen Enttäuschung wenigstens in den Augen anderer zu decken und Hennings auf keinen Fall den Triumph zu lassen, daß er sie düpiert habe. Aber Ernst war es nicht, sie war im Gegenteile höchst neugierig und der sonderbare Handwerker interessierte sie im höchsten Grade.

Der Kapelan ging ihm zwei Schritte entgegen und suchte dabei seine Nase womöglich wenigstens zur Halshöhe des Drechslers zu erheben, zog die Augenbrauen wichtig und ausdrucksreich nach oben, wodurch natürlich die Kopfmuskeln die Atzel nach vorn schieben mußten, so daß sein gewöhnlich nichtssagendes Gesicht für den Augenblick ganz jenen berühmten Philologenausdruck bekam, den auch die jüngsten Scholaren auf der Quartanerbank schon sprechend zu daguerrotypieren wissen. Jene Penetration, jene tiefe Menschenkenntnis, die gewiß den unglücklichen Burschen herausfindet, der die Unregelmäßigkeiten des Terrains im Schulhofe besser kennt als die der Verba dieser oder jener Klasse, jenes Bewußtsein allwissender Beschränktheit durch den Willen Gottes und des Hohen Schulkollegiums, das trotz alledem eine Art von Unfehlbarkeit für sich beansprucht, alldies drängte sich auf dem Raume zwischen Atzel und Kinn in Ehren-Ambrosius' Gesicht zusammen, das dadurch aussah wie ein aus dem Geleise gekommenes Fragezeichen. Kunst oder Handwerk? Und der Weise sprach das Urteil, es lautete auf – Kunst, denn der Mann hatte ihn kaum eines Streifblicks wert gehalten und war an ihm vorbei auf die Gräfin zugegangen. Solche Keckheit hätte ein simpler Handwerker nicht gehabt, er hätte an der Thüre gewartet und sich erst tief vor dem Kapelane gebeugt. So rechnete wenigstens Herr Ambrosius.

»Ich hatte längst vergessen, daß Sie kommen wollten, indes da Sie einmal hier sind, – wie ist es mit den Figürchen, die Sie mir neulich zeigten?«

»Ich pflege stets zu halten, was ich verspreche, und mache nur dann eine Ausnahme, wenn durch das Einhalten eines gleichgültigen Versprechens Wichtigeres versäumt wird. Ihnen that es nichts, daß ich vorgestern nicht kam, Sie hatten, wie Sie sagen, mein Versprechen schon vergessen; dagegen lag zu Hause meine Frau krank und hatte ebensowenig als ich vergessen, was wir einander nicht nur versprochen, sondern was wir uns gern täglich freiwillig geben: Aufmerksamkeit und gegenseitige Dienste.«

»Ah, Sie sind also wohl ein sehr guter Ehemann?«

»Ich bin ein Mann und habe eine gute Frau. Ein solches Verhältnis kann nicht leicht ein anderes als ein gutes sein. – Wollen Sie aber nun nicht die Gruppe nehmen, die ich Ihnen bringen sollte?«

Cecile rief den Kapelan heran, der drei Schritte hinter dem präsumtiven Künstler in einer Mischung von Staunen und Ärger einen Sermon über Agesander und Polydorus vorbereitete, den er gelegentlich nebst Bemerkungen über den Zeus des Phidias von Stapel lassen wollte. Aber als er die Elfenbeinarbeit erblickte, fand er es angemeßner, zu schweigen und von dem Werke immer wieder mit einem Anlauf des Kopfes von unten nach oben den Werkmeister anzuschielen.

Die Arbeit war nicht nur kunstreich, sondern auch kostbar. Sie hatte mit dem Sockel eine Höhe von acht Zoll und dieselbe Breite. Der Wunderkuß war gegeben, die Heilige sah mit schwimmend verklärten Augen zum Himmel auf; das Kind, das sie noch in den Armen hielt, öffnete den Mund, aber nicht zu einem unartikulierten Schrei, denn die Erregung des Gesichtes verriet keinen Zwang, keine wilde Anstrengung, es war Harmonie in den Zügen und der Ausdruck ein freudig lauschender, als sei das Kind selbst entzückt über den Laut, den es hervorgebracht. Daneben sank die Mutter des Kindes überselig dankend in die Kniee und breitete die Arme nach dem geliebten kleinen Wesen aus, als sehne sie sich danach, ihr Kind, das nun erst ein ganzer Mensch geworden, zu umarmen und ihm in tausend Küssen das süße Wort »Mutter« zu lehren. Zwischen diesen beiden, die Gruppe schließend, überließ sich ein halbwüchsiger Knabe dem Ausbruche innigster Freude; sein Gesicht glich dem des Kindes, er war der Bruder des Mädchens, das die Sprache gefunden. – Hätten die beiden Kinder ein paar Flügelchen gehabt, so hätte die Gruppe auch noch etwas anderes bedeuten können, denn in der That langte das Kind von den Armen der Heiligen mindestens ebensosehr nach dem Knaben als nach der Mutter. – Ob die gleichzeitige Darstellung einer von der Liebe wachgeküßten Mädchenseele in der Idee des Künstlers gelegen, können wir indes nicht verbürgen.

»Nun Kapelan, was meinen Sie zu diesem ›Heiligenbilde‹?« fragte Cecile.

»Wenn ich meine bescheidne Meinung äußern darf, gnädigste Komtesse, so ist dies eine äußerst passende Acquisition für Hochdieselben, sintemal es eine nicht unebne Erinnerung an Dero Schutzheilige ist, obgleich die Schnitzerei – ohne dem Herrn Meister … Hm, hm …«

»Hennings heiße ich.«

»Ohne also dem Meister Hennings zu nahe treten zu wollen, vermag ich die Bemerkung nicht zu unterdrücken, daß einzelnes an diesen Figuren mir ein wenig profan scheint.«

Das Kind auf den Armen der Heiligen war fast ganz nackt, der Knabe bis zum Gürtel entblößt, und auch an der Mutter hatte der Künstler angenommen, daß der rasche Wechsel der Stellung vom Stehen mit vor der Brust gefaltenen Händen zum Niedersinken auf die Kniee mit ausgebreiteten Armen das Gewand in Unordnung bringen mußte.

Hennings lächelte, die Gräfin sagte: »Bah, ich glaube Sie verfallen nachgerade in den Manichäismus, von dem Sie mir in Ihren Religionsstunden erzählt. Sie halten jetzt schon den äußeren Menschen für profan, am Ende fangen Sie nächstens an den Körper für eine Schöpfung des Bösen, für ein Unglück und eine Sünde zu halten.«

»Und das wäre hier eine Sünde gegen den heiligen Geist«, sagte der Drechsler.

Cecile sah erstaunt auf und fand sich nicht wenig überrascht, als sie sah, daß Hennings sie angeblickt und unzweifelhaft die Beziehung in seine Worte gelegt hatte, an die sie im Momente selbst gedacht. Wenn sie auch ihr Verstehen verbarg, zürnte sie dem Manne darum doch nicht, im Gegenteile, sie ward ihm für das antimanichäische Anerkennen ihrer Schönheit noch mehr gewogen. Zugleich wurde es ihr durch diese Kourtoisie auch immer wahrscheinlicher, daß er selbst der Vater seiner Legende sei. Im klaren war sie indes noch immer nicht darüber, sie mußte ihr Ziel verfolgen.

»Und sie haben es ganz aufgegeben, in dieser Weise zu arbeiten? Ich meine, wollen Sie nie mehr in Elfenbein oder Holz schnitzen?«

»Gewiß gab ich es nicht auf. Ich übe mich sogar fortwährend darin, um meine Fertigkeit nicht zu verlieren. Da ich aber den Grundsatz habe, nicht mehr zu verdienen, als ich momentan brauche, ohne darum irgend eine Arbeit unter dem Werte fortgeben zu mögen, muß ich jetzt, wo meine Bedürfnisse gering sind, mich mit geringerer Arbeit begnügen. Steigert sich das Bedürfnis, so werd' ich meine Arbeitsweise ändern. Was ich brauche muß ich verdienen, und da alles, was ich mache, einen gewissen Grad der Genauigkeit und Vollendung erreicht, ohne daß ich deshalb die Preise erhöhen müßte, hab' ich von der Konkurrenz nicht viel zu fürchten.«

»Sie werden aber zuletzt gar nicht mehr im stande sein, sich zur letzten Höhe aufzuschwingen.«

»Ich sagt' es Ihnen schon, daß ich den Trieb zur Kunst nieder gekämpft habe, weil er mich in eine Sphäre zog, in eine Luft, die ich nicht atmen mag. Ich will über das Handwerk nicht hinaus, und mein künstlerisches Wissen soll mir nur dort und da zur Verklärung, zur Vervollkommnung des Handwerks dienen.«

»Wenn Sie in solcher Weise resignieren konnten, war Ihr Beruf auch nie bestimmt ausgesprochen.«

»Sehen Sie doch! – Glauben Sie nur, wenn es gilt über das Leben zu entscheiden, wenn ein einziger versäumter Augenblick das nehmen kann, wonach wir dann vielleicht unser ganzes Leben hindurch in vergeblicher Reue Sehnsucht tragen, – wenn wir zu gleicher Zeit dem Leben eine neue, häßliche Seite abgewinnen und die Menschen nicht mehr als ein großes, gutes Ganzes ansehn können, – dann siegt das Leben auch über die Kunst, aber freilich nur dann. Nötig mag zu diesem Entsagen auch noch sein, daß die Höhe der Kunst uns noch nicht zur Gewohnheit geworden, und daß der werdende Künstler jung ist. Die Jugend kann alles, was sie will, sie gibt auch für eine Erfüllung hundert Entsagungen.«

»Ich wollte Sie bitten eine Arbeit für mich zu übernehmen, muß aber wohl fürchten, daß der Stand Ihrer Bedürfnisse Ihnen noch nicht gestattet sie auszuführen, da ich natürlich nichts unter dem Werte annehmen kann, – wie Sie mir heute nach besserer Überlegung wohl auch einen Preis für die Statuetten setzen werden.«

»Es fragt sich zunächst, worin die Arbeit besteht, die Sie mir übertragen wollen, meine Bedürfnisse steigern sich, da meine Frau krank liegt und ich eine Magd nehmen muß. Findet ein Verhältnis zwischen dem statt was ich brauche und dem Preise, den ich für die Arbeit fordern kann, so übernehme ich sie gern.«

»Was Sie in Ihrer Marotte wunderlich sind. Sie dürften ja nur später Tage oder Wochen ruhen bis Ihr Erwerb zur Neige geht, so wäre der von Ihnen so sehr gefürchtete Überfluß leicht vermieden.«

»Das geht aus zwei Gründen nicht. Einmal liefe ich bei der Anfertigung größerer und kostbarerer Gegenstände Gefahr, Not zu leiden, bis sich eine Gelegenheit zum Verkaufe fände, und zweitens wäre das Ruhen ein verschwenderischer Müßiggang. Ich muß täglich so viel verdienen als ich brauche, das ist ein geordnetes Dasein.«

»Sonderbar bleibt's doch und ob vernünftig, ist eine Frage.«

»Ja, aber nur weil die Verhältnisse des Lebens sonderbar und unvernünftig, hoffentlich aber auch für die Länge der Zeit eine Frage sind.«

»Halten Sie das, wie Sie mögen, ich fühle mich nicht berufen über dergleichen Dinge mit Ihnen zu streiten, der Kapelan versteht sich auf Kontroversen und Disputationen besser als ich. Ich weise Sie damit an ihn.«

»Ich antwortete nur auf Ihre Bemerkungen und bedarf der gewiß sehr guten Lehren des gelehrten Herrn nicht.«

»Gut, gut! Lassen Sie uns zu unsrem Geschäfte kommen. Waren Sie je in Ulm?«

»Nein!«

»Das ist schade, indes will ich versuchen, Ihnen klarzumachen, was ich wünsche. Im Münster in Ulm sind die Stühle im Chor, die Prälatensitze, meisterhaft in Holz geschnitzt. Man kann sich kaum etwas Zierlicheres und Eleganteres denken. Gleich als ich sie zum erstenmal sah, wünschte ich ähnliche Arbeit in unsrer Schloßkapelle zu haben und überredete meinen Vater, ein Gitter vor den Altar in dieser Weise schneiden zu lassen. Der Bildschnitzer, der es übernahm, hatte wenig Geschmack, die Arbeit ist plump und ungefällig.«

»Und das soll ich gut machen?«

»Nein, ich weiß recht gut, daß es angenehmer und leichter ist ein Gedicht, ein Buch, ein Bild, also noch mehr eine Schnitzerei selbst besser neu zu machen, als eine verrenkte Arbeit einzurichten. Ich wünsche denn auch etwas Neues. – Nach Ablauf des Trauerjahres um meinen Vater, also nach fünf Monaten, heirate ich meinen Vetter; ich möchte bis dahin eine schön geschnitzte Kniebank zur Benützung bei der Trauung haben. Wollen Sie die Arbeit übernehmen und zu rechter Zeit abliefern?«

»Dazu müßt' ich erst den Raum, den sie einnehmen soll, kennen; ich müßte ferner Holz besorgen, das zu dem andern in der Kapelle verwendeten paßt, und endlich muß ich Pläne und Entwürfe zeichnen, ja für sehr erhabne Arbeit Modelle anfertigen.«

»Das erste Hemmnis soll sogleich dadurch überwunden werden, daß ich Ihnen die Kapelle zeige; das zweite wird sich heben lassen, da es in unsern Remisen gewiß trocknes Holz aller Art gibt, für das dritte endlich zu sorgen ist Ihre Sache.«

»Sehr wahr. Ich werde Ihnen sagen, was ich thun kann, nachdem ich genauer weiß, was Sie verlangen.«

Der Kapelan verstand sich offenbar besser auf die Zeichen von Gunst und Zuneigung, die vornehme Leute anderen zu geben pflegen, oder er war leichter zu befriedigen als der Drechsler. Herr Ambrosius hielt ihn von nun ab für den erklärten Schützling Ceciles und richtete sein Betragen danach ein. Cecile war die aufgehende Sonne, und an Höfchen und Höfen wie im geringsten Herrenhause weiß man das Morgenrot der Herrschaft zu schätzen, wenn man klug ist. Es hat noch kein Fürst einen Thron bestiegen, ohne daß er auf Kosten seines Vorgängers in den Himmel erhoben worden wäre. Wirkliche Hoffnungen knüpft allerdings nur der beschränkte Unterthanenverstand an solchen Wechsel, denn jeder Unbeschränkte weiß, daß von dort kein Heil kommen kann. Einmal weil der Fürst im besten Fall nur Halbes thun kann, wenn er sich nicht selbst aufgeben will, und zweitens weil die naturwidrige Erziehung der Fürstenkinder, die krummen Rücken ihrer Umgebung, wenn sie kaum gehen können, kurz der ganze Betrug von Gottesgnaden ihnen auch das Wollen des Rechten unmöglich macht. Es gibt nur eine Bahn, in der Fürsten, die nicht zufällig Genies sind, wandeln können, sie kehren alle in den Schlendrian der Vorfahren, den sie nur etwas modern zustutzen lassen, zurück. Es kann also niemand, am wenigsten das Volk, gewinnen, denn das Laudemium, das die Fürsten beim Regierungsantritte gewöhnlich zahlen, ein wenig Amnestie, ist die Illuminationskosten nicht wert. Gleichwohl drängt der Kampf um ein hündisches »Sein oder Nichtsein« die unnützen Unentbehrlichen, die Trabanten des verlöschenden Planeten, sich dem neuen sofort und im voraus auch unentbehrlich zu machen. Le roi est mort, vive le roi! Diese Phrase, in die man die ganze Idee des Königtums bannt, ist nicht mehr als eine Speichelleckerei und zugleich ein höhnisches Schnippchen, das man dem Toten, dessen Loblied eben noch auf allen Zungen war, in die Grube nach schlägt. Könige können keine Freunde haben, weil ihr ganzer Denkkreis durch offizielle und legalisierte Lügen dermaßen beschränkt ist, daß der Freund, der die Lüge nicht achten und schonen kann, weil Freundschaft ohne Wahrheit nur ein Aftergewächs ist, durch sich selbst ein fremdes und unverständliches Element für den Fürsten wird. Man nennt den Respekt für jahrtausendalte Lügen Pietät und Treue, aber werden sie darum Wahrheiten? Man findet die Unterstützung der Lüge rührend und womöglich poetisch und hat Gesetze gegen Meineid? Bezeichne man den Kampf der Neuzeit wie man will, man wird gestehn müssen, daß die offizielle Demoralisation, das polizeiliche Anhalten zur Lüge und Heuchelei eine Unmöglichkeit sein wird, sobald die äußere Nötigung dazu nicht in der Organisation des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens gegeben ist. Der Faden der Lüge zieht sich konsequent durch Staat, Gesellschaft und Familie hindurch, aber er reißt auch überall, wird er in einer dieser Sphären durchschnitten. So ist es auch mit dem Anschluß der »Freunde« des Sterbenden an den Erben, mit der Untreue gegen die Person unter dem Scheine der Anhänglicheit an die Idee, – ein Akt, der die gewöhnlich zwischen Herrscher und Thronfolger waltende Verstimmung und Eifersucht bedingen hilft. Auch dies Element spinnt sich durch alle Verhältnisse bis in die Familie hinab. Zwischen der Gräfinwitwe, deren Regiment mit dem Trauerjahr ablief, und Cecile, machte sich diese Spannung bereits geltend und lockerte das ohnehin nie innig gewesne Verhältnis zwischen Mutter und Tochter noch mehr. Cecile war nichts weniger als hart, aber sie wußte es nicht anders, als daß jetzt die Reihe an sie gekommen sei, daß sie das Recht habe nach ihrem freien Belieben Anordnungen zu treffen und ausführen zu lassen, ohne der Zustimmung der Mutter zu bedürfen. Die Diener, die sich von ihr direkt Befehle holten; der Kapelan, der sich müde sann um ihren Wünschen, die er sonst nur lavierend beachtet, zu begegnen, und vorzüglich die Insinuationen der Tante Klothilde, die das Vergnügen haben wollte, der verhaßten Schwägerin das Zepter entwunden zu sehn, alles bestärkte sie darin, daß sie jetzt ein unveräußerliches Recht habe – auf ihre Mutter möglichst wenig Rücksicht zu nehmen. Der zeremoniöse, rein förmliche Verkehr, in dem sie seit je mit der Gräfin gestanden, die sie bis zu ihrem fünfzehnten Jahre nur zu bestimmten Stunden aufsuchen durfte, machte den Riß nicht einmal fühlbar. Die Form wurde auch jetzt beobachtet, wenn auch modifiziert, und das peinliche Gefühl, das Cecile empfand, wenn sie im Begriffe war etwas zu bestimmen, wovon sie im voraus wußte, daß es ihrer Mutter nicht recht sein würde, endete stets mit dem Aufatmen, – »nur noch wenige Monate, dann bezieht sie den Witwensitz und wir können thun, was uns beliebt.« – Sie waren einander fremd, die Formlüge, die sie verband, war auch ihre Trennung.

Der Kapelan hatte allen Grund zu fürchten, daß er in ziviler Weise verbannt und mit einer kleinen Pension entlassen werden dürfte, sobald das junge Paar, dessen Gunst er sich nicht zu erfreuen hatte, erst ganz die Zügel der Regierung ergriff. Da es ihm nun ebenso sehr um seinen langgewohnten Platz an der unteren Tischseite der gräflichen Mittags- und Abendtafel, als um die Gelegenheit zu thun war, Neuigkeiten, Anekdoten und – (mit gesenkten Augenlidern) – Skandalosa aus der großen Welt zu hören und dabei auf die bequemste Weise unter dem Vorwande gelehrter Studien müßig zu gehn, suchte er alles auf, was ihn in seiner Stellung halten konnte oder ihn wenigstens nach seiner Meinung zu halten versprach. Kaum war er sich darüber klar geworden, daß Cecile den Drechsler protegiere, als er es sich angelegen sein ließ, diesen für sich zu gewinnen.

Hennings hatte die Arbeit für die Kapelle übernommen und seine Werkstatt zum Teil in der Kapelle selbst, zum Teil in der daranliegenden Sakristei aufgeschlagen, da er zu Hause für so ausgedehnte Werke keinen Raum fand und überdies hierdurch seiner kränkelnden Frau das Geräusch der Arbeit ersparen konnte.

Einen Kampf hatte es freilich gegeben, ehe Cecile diese Profanation durchsetzte. Zumal hatte Gräfin Klothilde ein Anathem über das andere ausgestoßen, aber der Kaplan, den sie zur Unterstützung aufforderte, hielt sich »äußerst« neutral im Hintergrunde und war um alle Welt nicht zum Aussprechen einer entschiedenen Ansicht zu bewegen. Es wäre in der That leicht gewesen, eine Remise oder selbst ein Zimmer im Erdgeschosse des Schlosses für den Zweck herzurichten, aber Cecile erklärte, daß sie die Arbeit selbst beaufsichtigen wolle und durchaus nicht Lust habe, über den Hofplatz in eine Remise oder unten in eins der feuchten Zimmer zu gehn, und daß ihr außerdem die Kapelle für eine Arbeit, zu der Licht unumgänglich nötig sei, am passendsten schiene. Während der Messe, die der Kapelan täglich las, und die außer Gräfin Klothilde und ihrer alten Duenna ohnehin niemand besuchte, ruhte die Arbeit.

So war der Drechsler aus dem Dorfe plötzlich in ein Verhältnis zu den Bewohnern des Schlosses getreten, das nur zum Scheine und für solche, die ihn nicht kannten, ein abhängiges war. Cecile ging äußerst schonend mit ihm um und beschäftigte sich gern und viel mit seiner Arbeit, wobei sie nicht unterließ, durch Fragen aller Art über seine Lage und vor allem über seinen Lebenslauf Notizen zu sammeln. Indes, entweder konnte oder wollte der Mann nicht so antworten, wie sie es wünschte, genug, sie bekam trotz aller Mühe kein festes Bild. Dagegen schien sie einen andern, unbeabsichtigten Erfolg zu erringen: der Drechsler, jetzt wieder in einen Bildschnitzer umgewandelt, zeigte eine auffallend rege persönliche Teilnahme für sie, und sie fand den Platz, den sie gewöhnlich einzunehmen pflegte, wenn sie sich an seinen Werktisch setzte, stets von Staub gereinigt und die Arbeit selbst so gewendet, daß sie jeden Zug des Meißels verfolgen konnte. Sie nahm diese Huldigung, so wie andere, die ihr der Meister oft in seiner barocken Weise darbrachte, hin und fühlte sich sogar dadurch geschmeichelt. Sie hatte bisher noch ziemlich einsam gelebt, es war ihr darum nicht viel gehuldigt worden, ihre Eitelkeit war noch nicht blasiert und ihre Koketterie noch natürlich. Sie gab ihrerseits, da Hennings trotz seines barschen Tones und des Mangels geselliger Tournüre, der sich mehr herausstellte, als Cecile geglaubt, immer die gemessensten Schranken hielt, ihren Lobsprüchen über die Arbeit stets eine schmeichelhafte Wendung, die ebenso gut dem Arbeiter gelten konnte, und schien sich außerdem mehr und mehr mit der Weltanschauung ihres Günstlings zu befreunden. Sie stellte oft Fragen der Art, daß Hennings bei größerer Weltkunde die Absicht hätte herausfühlen müssen, man wolle ihn über das und jenes nur darum hören, weil er in anderer als der gewohnten Weise drüber spreche. Er war zu unbefangen, zu grade, wenn er einem freundlichen Gesichte gegenüberstand, als daß er nach Absichten hätte forschen können. Und schlimme waren auch in der That nicht da, obgleich er nur unterhielt, wo er den Apostel zu spielen glaubte. Er ließ sich warm hinreißen und warf seine Gedankenspäne mit den Holzsplittern zugleich in die Luft, aber trotz seiner Glut konnte er keinen tieferen Eindruck machen, weil seine Weise zu abrupt und zu regellos war. Die Entgegnungen der Gräfin, meist in ein launiges Gewand gekleidet, machten viel mehr Eindruck auf ihn, als seine Ausfälle auf sie. Sie brachte es durch einfach praktische Bemerkungen, ähnlich denen seiner Frau, aber hier mit größerer Sicherheit ausgesprochen, dahin, daß er zu zweifeln anfing, ob seine bisherige Lebensweise neben der von aller Welt und mit dieser zugleich, wirklich so richtig sei, als er gemeint. Das Abnorme seiner Handlungen, das niemand zur Nachahmung einlud und das doch nur durch Nachahmung segensreich werden konnte, wenn es überhaupt gut war, fiel ihm nun schärfer in die Augen. Er hatte es in seinem isolierten Zustande bisher nur in einer gewissen trotzigen Weise beurteilt, er hatte nie überlegt, daß sein Einzelkampf gegen die herrschende Macht in seiner Sphäre in der That mehr einer hartnäckigen Quälerei seiner selbst wie seiner Familie gleichkam … Aber er hatte darin Befriedigung und Frieden gefunden, er war stolz, vielleicht sogar eitel auf seine exklusive Stellung gewesen. Cecile riß ohne direkte Absicht den Schmuck dieses Traumes ab und machte dadurch wieder neue Wünsche in seinem Herzen rege. Er hatte ein Netz um sich gespannt und einen Wall um seine Ideen gezogen, wie dies die Art der Menschen ist, die nicht über sich selbst und ihre Familie hinausgehn mögen; hinter diesen Palissaden hielt er sich für fertig und für alles gewappnet, aber ein Schritt ins Leben hinein, in die Welt, die er für immer von sich gestoßen zu haben glaubte, zeigte ihm Lücken und Trugschlüsse. Oft war er auch nur durch das Ungewohnte geblendet und gab die eigne Wahrheit für eine bunte, von schönem Namen maskierte Lüge.

Es fehlte das dritte, vermittelnde und entscheidende Element in diesem Kampfe, der nur auf der einen Seite ernst geführt wurde, und um es zu ergänzen, gab Hennings nun auch dem Kapelane Gehör, wenn er auch bald fühlte, daß dieser einen ebenso großen Mangel an Ursprünglichkeit habe, als die Gräfin daran reich war. Ehren Ambrosius war augenblicklich bereit, in irgend einem Folianten der Bibliothek über diesen oder jenen Punkt nachzuschlagen, er brachte für alles Citate, aber Urteil, ja auch nur ein Zusammenschmelzen verschiedner Urteile war seine Sache nicht. Die Gräfin schmiegte sich zum mindesten mit einer Art von Wißbegierde an Dinge und Ansichten, die ihr fremd waren, der Bakkalaureus aber versicherte sogleich, Cicero in seinem Buche über die Pflichten oder seinen tuskulanischen Untersuchungen, sowie der Kirchenvater Eusebius traktiere die Sache ganz anders, und solchen Autoritäten könne man doch wohl die geziemende Achtung nicht versagen, denn Cicero, obgleich ein Heide, sei doch ein grundgelehrter Mann gewesen, ohne den wir eine Menge Verse des Ennius, z. B. den » Unus homo nobis cunctundo restituit rem« auf den berühmten Fabius cunctator, nicht wüßten. Solche Gründe, die der ungelehrte, obwohl verständige Drechsler nun nicht in vollem Maße zu würdigen verstand, machten ein vernünftiges Weiterspinnen der Debatte unmöglich, und glaubte Hennings angesichts der Teilnahme der Gräfin und der langen, verdutzten Gesichter des Paters schließen zu können, daß zum mindesten die Mehrzahl seiner Ideen bei begabten Menschen Beachtung fände, auch wenn die Borniertheit, – denn er hielt Herrn Ambrosius Feigenblatt trotz seiner Kenntnis des großen Heiden Cicero und des noch größeren Kirchenvater Eusebius für borniert, – nicht damit auszukommen wüßte.

In der Richtung der Gedankenwelt, zur Berichtigung schiefer Ansichten war der Bakkalaureus der freien Künste also nicht zu brauchen, dagegen nahm der Drechsler ein anderes Anerbieten gern an.

Christian kam ab und zu hinauf und wurde nur heimgeschickt, wenn der Vater glaubte, die Gräfin könne kommen. Er fühlte, daß der Knabe nicht kindlich und angenehm sei, obgleich er selbst die Schuld davon trug, er fühlte es und wünschte darum nicht, daß ihn die Gräfin sähe. Der Kaplan traf ihn dagegen oft, sprach mit ihm und bewunderte seinen regen Geist und seine rasche Fassungsgabe. Als er sah, daß der Handwerker immer festeren Fuß in der Gunst der Gebieterin fasse, und daß diese gewiß Rücksicht auf ihn nehmen würde, da sie, sobald die Kniebank erst vollendet, schon neue geschnitzte Boisserien in mehrere Zimmer bestellt hatte, machte er den Vorschlag, den ersten Unterricht Christians zu übernehmen, und vermaß sich hoch und teuer, ihm das Lesen aller Arten von Schrift, sowie das Schreiben deutscher Kurrent- und Kanzleischrift in weit kürzerer Zeit beizubringen als der Dorfschullehrer, der allerdings wenig für sich hatte, da er nicht mehr noch weniger als ein pensionierter Unteroffizier war. Ja er versprach sogar mit diesem Unterrichte sogleich durch Memorierübungen die Elemente der lateinischen Sprache in den Kopf seines Scholaren zu prägen und, wie sich von selbst versteht, die Religionslehre in den Kauf zu geben. Von diesen glänzenden Versprechungen war indes vorläufig nur der Elementarunterricht den Wünschen des Vaters genehm. Er fürchtete mit Recht, daß ein übertriebnes Anstrengen des Knaben nachteilige Folgen auf seine Gesundheit ausüben müßte, obgleich er keineswegs der Ansicht war, daß es für ein leichtfassendes gesundes Kind, wäre es auch nur zur Übung des Verstandes, irgend einen überflüssigen Unterricht gebe. Das Gedächtnis der Kinder, das bekanntlich von wunderbarer Schärfe ist, nimmt spielend auf und behält das Erlernte, auch wenn es nicht weiter verarbeitet wird, so daß später die rationelle Methode, das Erkennen und Lernen durch Schlüsse, mächtige Unterstützung findet. Wer darum das Geschick hat, Kindern spielend eine Menge von Begriffen beizubringen, ohne sie abzuspannen und zu ermüden, erleichtert ihnen nicht nur späteres Begreifen, sondern macht ihnen außerdem noch die Freude, daß sie oft in anscheinend schwierigen und verwickelten Gedankenketten mühlos das Richtige finden, weil sie es vorher gewußt und gekannt. Der Zusammenhang, der ihnen nun plötzlich einleuchtet, führt sie fast ohne weitere Hinweisung darauf, daß auch anderes zusammenhängen müsse und damit ist das intellektuelle Bedürfnis für immer in sein Recht gesetzt. Man hat die Notwendigkeit eines Vorunterrichts der Kinder in neuerer Zeit vielfach erkannt, ohne darum immer den richtigen Weg einzuschlagen. Die Spielschulen sind wenig anderes als Bewahranstalten für die Kinder vielbeschäftigter Eltern, die durch den Betrieb ihres Gewerbes abgehalten sind, ihre Kleinen den Tag über selbst zu beaufsichtigen. Man läßt sie thun und treiben, was sie mögen, und sorgt nur dafür, daß der Tumult und die Schlägereien nicht zu arg werden; höchstens wenn der Aufseher oder die Aufseherin ganz besonders guter Laune ist, kommt es zu einem allgemeinen Spiele ohne weiter liegenden Zweck. Ist dann das gesetzlich vorgeschriebene Alter erreicht, so verfallen die Opfer sogleich der zähen Methode, die sich's unter dem Vorwande planmäßiger Erleichterung des Unterrichts recht angelegen sein läßt, in geraden, gegeneinander geneigten Linien vorwärts zu schreiten. Das ganze Sinnen und Trachten der Kinder ist ein wellenförmiges, und um große Resultate zu erzielen, muß man dieser Wellenbewegung folgen können und die Schwingungsknoten benutzen, nicht aber mitten hindurch eine starre, reizlose Linie ziehen. Kinderschulen sollten mit Bildern aller Art geschmückt sein und hierin einen immerwährenden Wechsel darbieten. Der schlechteste Holzschnitt eines Pfennigblattes wird dem Kinde unendlich lehrreicher sein als die beste methodische Beschreibung und Begriffsentwickelung. Bilderbogen sind die instruktivsten Handbücher für Kinder, wie denn überhaupt das »Schauen« das beste Bildungsmittel ist. Der Sohn einer wohlhabenden Familie aus den oberen Schichten der Gesellschaft wird oft bei mittelmäßigen Fähigkeiten und schon im Jünglingsalter eine überraschende Sicherheit und Gewandtheit im Urteile zeigen, ein treffender Witz wird in seinem Munde nicht zu den Seltenheiten gehören und vor allem wird ihm eine gewisse Übersicht und ein Nicht aus der Fassung kommen eigen sein. Man suche die Ursache davon nicht allein in anerzognen und durch seine Stellung ausgebildeten Elementen. Sie liegt darin, daß er vor andern eine große Reihe von Anschauungen aus allen Sphären voraus hat, daß er deshalb mehr Anknüpfs- und Vergleichspunkte in sich trägt, also rascher urteilen und leichter witzig sein kann, denn Urteil und Witz beruhen beide mehr oder weniger auf dem Vergleichen. Es darf darum jene sprichwörtliche Unbeholfenheit der Gelehrten im Salonleben neben dem sicheren Auftreten flacher Gecken, die man nicht ganz mit Recht allein auf Gewohnheit und Ungewohnheit zurückführt, gar nicht überraschen: Die einen sind reicher an methodisch entwickelten Begriffen, die andern in der Regel an Anschauungen, und die Anschauung siegt dort immer, wo nicht das Erkennen, sondern das Kennen allein Wert hat. Der Verein beider Eigenschaften aber gibt stets eine ungewöhnliche Bedeutung, er gibt Bildung und Unterrichtetsein im großen Sinne, und stellt den Mann im Leben wie auf dem Katheder in gleiche Höhe. Durch diesen Verein erst wird eine gewisse Vielseitigkeit möglich, die auch durch die gründlichsten Stubenstudien nicht erreicht oder wenigstens nicht für das Leben nutzbar gemacht werden kann. Bilderbogen für die Kinder, Reisen für den Mann, das sind die Elemente, das die Basis, auf die sich ein stolzes und schönes Gebäude aufführen läßt, in dem große, lichte Gedanken wohnen können. Man kann sich anheischig machen, in einem halben Jahre Kinder durch Bilder und daran geknüpfte Erläuterungen weiter zu entwickeln, als durch drei Jahre des besten methodischen Unterrichts. Die Methode ist dem jungen Verstande eine Zwangsjacke, das Spiel mit Bildern eine Freude, die dem Kinde über alles geht. – Über das Reisen aber als vorzüglichstes Bildungsmittel ist oft genug gesprochen worden, man weiß es längst, daß man in der That »vom Spazierengehn und von der Luft« gescheit werden kann.

Hennings glaubte, daß er bessere Nahrung für seinen Knaben wisse, als sie ihm der Kaplan geben konnte, so sehr er ihn fähig hielt, mechanische Unterrichtsrequisite, wie Buchstabenkenntnis und dergleichen in Christians Kopf zu schaffen. Die andern Anerbieten des Paters abzulehnen, bestimmten ihn indes sicher noch andre Gründe als die von ihm angegebenen: der Sohn eines Handwerkers, wieder zum Handwerk bestimmt, brauche das Latein nicht, und zur Auffassung religiöser Lehren sei er noch zu jung. Wenigstens sprach die Vorsichtsmaßregel, daß die Unterrichtsstunden in Gegenwart des Vaters vorgenommen werden mußten, sehr für einen Hinterhalt. Der Drechsler schien zu fürchten, daß das Abc seiner Protestation ungeachtet, zwar nicht lateinisch, – das hätte er verziehn –, aber irgendwie konfessionell traktiert werden dürfte. Vor dem Latein aber mochte er Respekt haben, weil die vorgeschlagnen Memorierübungen allerwahrscheinlichst eher den Kirchenvater Eusebius als den Heiden Cicero zur Grundlage gehabt hätten.

Nachdem alldies reiflichst erwogen und besprochen worden, übernahm Herr Ambrosius Feigenblatt den Knaben und begann den Unterricht mit vielem Eifer und einem Geschicke, das Hennings ihm nicht zugetraut hätte. Er überwand den Widerwillen, den ihm Christian entgegensetzte, zwar nicht, und hätte oft auf den schmalen, blassen Lippen seines Scholaren ein Lächeln sehen können, das zwischen Bosheit und einer Art von Verachtung die Mitte hielt, aber da dieser Widerwille nur seiner Person galt, seine Lehren dagegen aufmerksam hingenommen wurden, endlich der Fleiß des Knaben das übrige that, blieb ihm immer nur die angenehme Pflicht, die Fortschritte seines Schülers zu loben.

Christian hatte bald nach Beginn der Lektionen, nachdem er kurz vorher eine Debatte zwischen seinem Vater und dem Kaplan belauscht, in der, wie er glaubte, sein zukünftiger Lehrer auf arge Weise geschlagen worden, Hennings gefragt: »Muß man einen dummen Menschen für klug halten, weil er mehr gelernt hat als wir?«

»Warum fragst du so?«

»Weil der Kaplan sehr dumm ist und ich von ihm lernen soll.«

»Du sollst von ihm nur lernen, was er weiß, und was brauchbar ist, zunächst Lesen und Schreiben, das muß jeder Mensch können. Wirst du einmal klüger als er, desto besser für dich, vorläufig kann man dich weder dumm noch klug nennen, du wirst aber später Gelegenheit haben zu zeigen, was du bist.«

»Aber ich brauche nicht wie die andern Kinder im Dorfe zu glauben, daß der »Herr Lehrer« alles am besten weiß, ich brauche den Kaplan auch nicht für klug zu halten?«

»Lerne von ihm, das ist alles, was ich von dir verlange.«

Und Christian ließ sich das gesagt sein. Er lernte in der That rapide und hörte auch die Erzählungen an, mit denen Ehren Ambrosius die trockne Kost würzte, aber über die Buchstabenformen hinaus galt die Autorität des Lehrers nicht. Daß Hennings mit dieser Unterscheidung einverstanden war, stand ganz in Einklang mit seiner sonstigen exzentrischen Richtung; er richtete hierin, wie immer, sein und seiner Familie Leben auf den Fuß des Kampfes gegen Unwahres ein, vergaß aber auch hier wie immer, daß die Resultate dieses Kampfes in ihrer Vereinzelung nachteilig zurückwirken mußten, und daß selbst jeder Sieg eine Niederlage war. Es ist eine grobe Unwahrheit, zu behaupten, daß Kinder von vornherein »gläubig« sind, im Gegenteile sehn sie in der Regel klar und fassen nur das Unverschleierte gern und willig. Die Anlage zur Sittlichkeit, die sich bei ihnen als sogenannte Kindereinfalt, Unschuld und Naivität mit der ganzen Gewalt der Ursprünglichkeit äußert, muß erst untergraben und verderbt werden, ehe das Kind für das Leben in der »wohlerzognen« Gesellschaft erträglich wird. Es gehört darum schon ein Grad von Verderbtheit oder eine frühreife Unterscheidungsfähigkeit, wie sie Christian besaß, dazu, wenn Kinder von Lehrern lernen mögen, die ihnen etwa durch Gespräche der Eltern herabgesetzt werden. Der Lehrer muß ihnen als ein Muster in allem gelten, sonst glauben sie ihn in allem zu überragen. Das ist weder Eitelkeit noch Arroganz, denn beides ist dem »Kinde« fremd, sondern eine natürliche Folge, ein instinktives Erkennen des Wertes der Sittlichkeit. Wie die Sachen einmal stehn, bleibt in der Regel nichts anderes übrig als die Kinder hierin, wie in vielem anderen, zu belügen und sie nach und nach durch die ganze Kette der Erziehungslügen hindurch zu jener Gläubigkeit zu bringen, die endlich auch das Widersinnigste demütig hinnimmt. Es ist dies entschieden der einzige Weg, für die jetzige Gesellschaft Bürger zu erziehn, die andere richtigere Weise, in der dem Kinde nie eine Lüge gegeben wird, führt jetzt unzweifelhaft dahin, unglückliche Menschen heranzubilden, die auch andere unglücklich machen müssen. Sie können keinen Frieden haben, ein ewiger Groll, eine anhaltende Bitterkeit reibt sie auf oder verwickelt sie in Kämpfe, in denen sie von der Überzahl der Gegner erdrückt werden. Konsequenz im Guten ist vorläufig praktisch geradezu unmöglich, sie muß im Irrenhause oder durch Selbstvernichtung enden. Und das Lavieren, mit dem sich die Erkenntnis begnügen muß, ist etwas so Widerwärtiges, und reizt dermaßen zur Verachtung anderer und zur Wut gegen die eigne Ohnmacht, daß es mehr als wahrscheinlich ist, die allergrößten Schurken seien grade aus überlegner Erkenntnis des Guten und aus Haß gegen die Gewohnheit, die sich ihnen entgegenstemmte, in den polaren Gegensatz ihrer besseren Überzeugung gehetzt worden. Wir sehn wieder, daß die Lüge das einzige Mittel ist, das Bestehende zusammenzuhalten und den Schein der Ordnung herzustellen.

In dieser Weise ging es ohne merkliche Störung wochenlang fort. Cecile hörte nicht auf, die Werkstatt täglich zu besuchen, irgend eine launige Frage an den Arbeiter zu richten und seine rhapsodischen Ergüsse anzuhören; der Pater hielt seine Lektionen pünktlich und war nach wie vor mit seinem Schüler zufrieden; Hennings endlich wanderte alle Tage lieber ins Schloß hinaus und sah in der freundlichen Gräfin bald ein Muster von Liebenswürdigkeit. Es ist den Großen so leicht gemacht, durch ein wenig Güte auch die widerstrebendsten Elemente sich nachgiebig zu ziehen und prinzipielle Feinde zu Freunden zu gewinnen. Der Drechsler ließ mehr und mehr von seiner Schroffheit, und wie er damit seinen festen Boden verlor und sich in eine fremde Region drängen ließ, äußerte sich der Rückschlag nach und nach auch fühlbarer für sein Familienleben.

Seine Frau war nach wie vor krank, auch wenn sie sich von Zeit zu Zeit wohler fühlte und thätig sein konnte. Ihre Krankheit brachte eine große Reizbarkeit mit sich, ihre Gemütsstimmung war aufgeregt und riß sie zu Äußerungen hin, die für ihren Mann verletzend waren. Sie hatte zuerst die Übernahme der Arbeit im Schlosse freudig begrüßt und das, was Hennings von dem Entgegenkommen der jungen Gräfin erzählte, wohlgefällig angenommen, sie hatte sogar das Fortgeben der Schnitzerei stillschweigend gutgeheißen, – als Hennings aber immer mehr mit Enthusiasmus von der Schloßdame sprach, endlich aber von ihr schwieg und überhaupt nachdenklich wurde, solang' er zu Hause sein mußte, aber mit einer gewissen freudigen Eilfertigkeit mit dem Schlage der Stunde hinaufeilte, fühlte sie sich peinlich und im höchsten Grade unangenehm berührt. Sie war es jetzt, die all' die so oft von ihr bekämpften Ansichten ihres Mannes hervorsuchte und pries; sie war es, die ihm endlich direkt den Vorwurf machte, er sei im Begriffe, sich selbst untreu zu werden. Auch daß Christian zu gewissen Stunden die Schloßkapelle meiden mußte, fiel ihr auf, sie kombinierte mit der Phantasie einer Kranken, die sich vernachlässigt glaubte, mit der mißtrauischen Phantasie einer Eifersüchtigen, sie klagte, schmollte, empfing ihren Mann kalt und mit spitzen Bemerkungen, die ihn zu harter Entgegnung reizten, – es gab Thränen, und ein Riß zwischen zwei Menschen, die sich einst freiwillig ihre Ansprüche an die Gesellschaft geopfert, bereitete sich vor, ohne daß ein positiver Grund dazu vorhanden war.

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