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I. Lang' vorher.

Erstes Kapitel.

Was über den Gräbern vorging.

»Sieh Christian, den Reichen wälzt der Tod den ersten Stein auf die Brust, und die Armen befreit er vom letzten! Darum liegen über den Gebeinen der Schloßherren Marmorblöcke, während auf dem Grabhügel deines kleinen Bruders Feldblumen und Grashalme nicken. Das ist Gottes endliche Gerechtigkeit! So wird sie oft von den Menschen versinnlicht, ohne daß sie wissen, was sie thun!«

Die Welt des Friedhofs ist wie die Welt der Geschichte. Die Geschichte ist die Sterbehymne der Zeiten, sie ist der Friedhof der Nationen und ihr Totenregister. Auf den Denkmälern lügenhafte Inschriften neben wahren, morsche Kreuze, dort und da eine bleiche Rose oder eine gelbe Ringelblume, verdistelte und niedergetretne Gräber, von denen niemand weiß, wen sie einschließen, – das sind die Friedhöfe, das ist die Geschichte. Anhänglichkeit und Schwärmerei, Bosheit und Parteihaß schreiben die Epitaphen; der Wahn pflanzt Kreuze, die Liebe Blumen; Undankbarkeit, Feigheit und Stumpfsinn lassen die Gräber der Besten wie der Gleichgültigen von Disteln, Schierling und Nesseln überwuchern, und die Prozessionen des Aberglaubens, die Gemeinheit, die Brutalität elender Majoritäten treten die Hügel platt. – Jenseits des gewöhnlichen Totengartens, jenseits der Mauer, die auch noch im Tode die Gesellschaft umspannt, – in der Erde, die erst durch ihre Asche eine geweihte wird, ruhen Verbrecher und große Menschen. Oft beides in einer Person. Sie haben eine Geschichte für sich, sie stehn außerhalb oder über der Geschichte ihrer Tage, wie sie außerhalb der Gesellschaft standen. Die Mehrzahl dieser ›Verbrecher‹ starb den Opfertod für die Verbrechen der Gesellschaft selbst; sie wurden als kranke Glieder abgetrennt, weil sie den Versuch wagten, in einem Hospitale mehr oder minder gesund zu sein. Tausende von ihnen nennt die Geschichte nicht, aber sie alle machten Geschichte und wirkten Unendliches für die Zukunft. Das nach ihnen geschleuderte Anathem brach nur ihre Person zusammen, die Henker zerfleischten nur ihren Leib, – sie gingen unter, weil sie vergänglich waren, aber ihre Idee lebte fort, tauchte, hundertmal niedergeworfen, hundertmal wieder auf und hat entweder schon gesiegt oder siegt endlich doch. Der Kampf gegen die gemachte Gesellschaft endet erst mit ihrem Sturze, und in dem, was man Verbrechen nennt, liegt in der Regel, bewußt oder unbewußt, der Gedanke der Opposition gegen diese in die Welt gefluchte Welt. Das Verbrechen wird endlich Tugend, wo die Tugend ein Verbrechen war. Tyburn-Golgatha ist ein Wallfahrtsort, Ufnau ein Reliquienschrein. Der Grund dafür liegt durchaus nicht überwiegend in einem Fortschritte der Zeit, sonst wären die Siege des reinen Gedankens nicht stückweise und noch dazu häufig nur scheinbare, die zu tieferem Versinken führen: er liegt in der Haltlosigkeit des abstrakten Tugendbegriffs, in dem Mangel des Prinzips freier Sittlichkeit in der sogenannten Tugend. Im Verbrechen, in der thatsächlichen Verneinung menschlicher Satzungen und anerkannter Sitte, ruht hundertmal sittliche Größe und instinktives Begreifen von Natur und Wahrheit, während die gekrönten und kanonisierten Tugenden millionenmal kindische Narrheiten oder schmachvolle Niedertracht sind, die der Natur, der Wahrheit und der Menschenwürde Hohn sprechen.

Der rezipierte Tugendbegriff wurzelt in der sozialen Lüge, und die Erbsünde heißt: Tradition.

Der Reiz, den die Geschichte auf uns ausübt, stammt aber nicht allein daher, daß wir abgeschmackt genug sind, Lebendes nach Totem modeln zu wollen und die Inschriften der Grüfte für Orakel der Zukunft zu halten, sondern er findet seine Nahrung vorzugsweise in einer nachgerade jedem Menschen geläufig gewordenen Gefühlsrichtung. Wir klammern uns mit Vorliebe an das Gesunkene und Sinkende, wir haben aus traditioneller Dumpfheit mehr Herz für untergehende Sonnen als für die heraufdämmernde Zeit. Es ist nicht schwer, die Ursache hiervon zu benennen. Sie verdient nur zur kleinsten Hälfte den Namen Mitleid, im übrigen aber heißt sie: Feigheit, Trägheit, Gewohnheit. Die Gewohnheit ist ein Laster, und historische Erinnerungen fast immer ein Fluch. Wir tragen ihn, weil er sich weich anfassen läßt und freundlich stolz aussieht, weil er schmeicheln kann wie ein Traum, weil er eine gewisse milde Gemächlichkeit mitbringt, deren Schlummerlieder uns sanft einlullen, – aber nicht umsonst bot jener Alte sein ganzes Gut für die Kunst zu – vergessen. Fast alle Völker gingen an ihrem alten Ruhme zu Grunde; die Schatten vergangener Tage sollten die Feinde schlagen, aber Schatten blieben Schatten. Europa krankt bis ins letzte Glied hinein an seinen Erinnerungen, an seinem Ruhme, – darum, und nur darum, zittert es vor dem Volke, das keine Vergangenheit hat und deshalb noch eine Zukunft erwarten kann. Die Erinnerung tötet lebendiges Streben. Aus dem Vergessen blüht der Genuß der Gegenwart, der Lenz der Zukunft empor; was hinter uns liegt, ist abgeblüht und welk, – nur der Wahnsinn und das Fieber liebäugeln mit Erscheinungen Verstorbener. Das große Grundgesetz der Natur heißt Arbeit und Genuß. Die Natur arbeitet und genießt immerwährend, sie weiß nichts vom Gestern, das Gewesene gehört ihr nicht, es existiert in ihr nichts Gewesenes, denn das All ist in ihrer Hand ein ewig Werdendes.

Wir aber können nicht vergessen, wir sind träg und feig, wir fürchten die Thätigkeit, die von Gegenwart und Zukunft kategorisch gefordert wird, wir erinnern uns gern und hören nicht auf, mit der Vergangenheit zu buhlen. Das ist das Bleigewicht an den Schwingen unsres Geistes, das der Zauber, der unser Streben lähmt. Es ist unmöglich, daß der Geist der Gegenwart mit der toten Vergangenheit ein lebensfähiges und lebenswürdiges Kind erzeuge. Halblebend, halbtot hinken die Früchte dieser ekelhaften Liebschaft der Zukunft entgegen, die solche Bastardbrut weder anerkennen mag noch kann. So zeugt die Fäulnis rechtlos weiter, der Lebensfunke wird vom Tode vergiftet, die Degradation steigert sich ins Unendliche, und das Resultat … Wer weiß es? Aber die letzten Elternzeiten würden ein ihrer würdiges Kind haben, wenn die Regeneration nicht endlich durch ein Wunder, durch eine Katastrophe in der Natur wie in der Gesellschaft bewirkt werden müßte. –

Die Geschichte hat so großen Reiz für uns, eben weil unsre Träume und Pläne Halbgeburten der Vergangenheit sind, und weil die Geschichte der Friedhof aller Vergangenheiten ist. Eine Legion allgemeiner Sinnsprüche und weicher Gefühle singt uns von ihren Blättern an, alles Rauhe und Gewaltsame ist abgeschliffen und gerundet, denn sogar die Kraft tritt uns als Ohnmacht entgegen. Die Heroen sind tot und versargt. Was aber ist Kraft ohne Leben? Ein Widerspruch in sich, ein Nichts. Dieser Mangel an lebensvoller Baufähigkeit macht alle ins Praktische übertragne Begeisterung für historische Heldenthaten zu einer Regung, die vielleicht jugendlich phantastische Schwärmer beseelen darf, die sich aber nun und nimmer mit der Würde des Mannes verträgt. Der Mann darf sich an dem Kunstwerke erbauen, das jene That feiert, aber die That selbst ist ihm keine That, sobald sie abgeschlossen und für seine eigne Zeit unmittelbar folgenlos beendet vorliegt. Die unverfälschte Geschichte zersetzt jede, ursprünglich noch so dramatische Periode in eine Elegie. Die Weichheit siegt überall, und die Trauer fordert ihr Recht am Grabe der toten Löwen. Das stockige Blut der Vergangenheit, das durch unsre Adern schleicht, macht uns empfänglich für dies Dämmern und Schweben, es ergreift uns mit wehmütiger Gewalt, und bald ist seine Herrschaft vollständig entschieden, – aber seine Wirkung ist dennoch ein Spiel, ein Nebelbild ohne Kern, sie ist Schein, wie das Leuchten fauler Weidenstämme. Die Glut brennt nicht, und die Erscheinung endet mit einer Enttäuschung. Das Gefühl bleibt eine bebende Elegie ohne herzbrechenden Schmerz, der die Wehen einer That bedeuten könnte, in der ein neues Leben, ein neues Herz geboren werden soll; es ist eine Nervenkomödie, in der sich das trivialste Behagen am eignen Dasein jeden Augenblick als lustige Person in den Vordergrund schiebt. Mit dieser Weichmütigkeit, dieser knabenhaften Begeisterung und dieser Trivialität stehn wir am Ende trotz aller Vorwände unbewußt der Geschichte gegenüber. Wir sehn den Brander Rom auf dem Meere der Zeit schwimmen, aufflammen, weithin Brände tragen und endlich zersplittert in die Luft fliegen; wir sehn seinen Rumpf noch eine Zeit auf den Wellen treiben, dampfen, verkohlen und – sinken. – Die Peterskuppel liegt als Boje über dem Abgrunde, der ihn verschlang. – Aber sein Untergang reißt uns nicht mit in den Strudel, wir haben nicht mit dem Wellenschlage, mit dem geöffneten Schlunde zu kämpfen, die Brandung ist längst vorüber, also treibt uns auch nichts über jenes vage, elegische Gefühl hinaus. Das Feld ist zu weit, die Thatsache zu alt und zu groß, und darum der Schmerz so klein.

Wirklicher Schmerz will einen scharfbegrenzten und – wenigstens individuell – naheliegenden Anknüpfspunkt; das allgemeine Mitleid verwandelt sich nur engeren Gruppen und einzelnen Persönlichkeiten gegenüber in fressendes Weh. Noch heute erschüttert uns der Tod Hektors und der Johanna d'Arc, das Schicksal der Gracchen, der Abenceragen und der Hohenstaufen mächtig und in ganz anderer Weise als die Zertrümmerung des Perserreiches und der Sturz von Byzanz. Wir können uns in die Lage, in die Gemütsstimmung jener einzelnen Menschen hineindenken, nicht aber in die Empfindung eines ganzen Volkes, das aus den verschiedensten Elementen zusammengesetzt ist. Mit jenen Männern liegen uns dann auf dem Friedhofe der Völker Tote begraben, die wir liebten; wir betrüben uns ernstlich und fühlen Lücken in uns, die noch jetzt, nach tausend Jahren, durch persönlichen Verlust entstanden zu sein scheinen. Damit tritt aus der bleichen Gräberharmonie ein großer schmerzlich-schöner Akkord an uns heran, wir fassen ihn auf, die anderen verschwommenen Töne verklingen und verstummen endlich ganz, und wir hören nur das Lied, das von den Gräbern der Lieben ausgeht. Wir leiden, weil wir wollend oder unwillkürlich, aber immer doch durch spezielle, eigne, geistige Thätigkeit, das ganze Leid der Toten in uns reproduzieren. Nur das Lebensbewußtsein, wie es jeder Thätigkeit zu Grunde liegt, nur die Lebensthätigkeit selbst, ist wirklicher Affekte fähig: wir vermögen also nur an Gräbern, die uns teure Menschen einschließen, wirklichen Schmerz zu empfinden, während die andern Hügel, die unsre Thätigkeit ruhen lassen, nichts als unbestimmte weiche Regungen erwecken können.

Weiche Gefühle haben das mit weichem Holze gemein, daß sie rasch aufschießen, aber der Zeit nicht standhalten. Die Saat der Liebe und Versöhnung wird an Gräbern doppelt üppig empor sprossen, momentan überwuchern, aber auch mit dem letzten verbebenden Singsang welken: – sie saugt ihre ganze Nahrung aus jenem unbegrenzten Schweben, aus dem allergrundlosesten Friedhofsmitleid. – Haß keimt nie aus gleichgültigem Hügel, er ist ein Kind des echten Schmerzes, eine Frucht persönlichen oder wahlverwandtschaftlichen Verlustes. Er wurzelt sich unausrottbar ein und bildet langsam und zäh, aber ohne jemals eine Pause zu machen, seine starre undurchdringliche Dornenhecke. Der Haß, der an Gräbern gesät wird, ist nicht zu neutralisieren, er ist wie das Totengift. Die Sühne liegt bei den Begrabenen in der Erde, der Hügel schloß sich über beiden für immer. –

Und die Worte, mit denen unsre Erzählung begann, wurden an einem Grabe gesprochen!

Ein kunstreich geschmiedetes Gitter von Eisen, geschmückt und verbunden durch vergoldete Zieraten, umgab eine Wildnis von Flieder, Jasmin und Akazien, die eben in voller Blüte standen. Cypressen streckten ihre düstern Zweige durch das Gewirr der Sträucher empor, und Hängeweiden rieselten ihre mattgrünen Blätterschweife darauf hinab. Das Laubwerk ließ durch seine Öffnungen eine Anzahl von Kreuzen, Urnen und Genien mit erloschner Fackel, kurz aller jener Symbole sehn, die den Tod bedeuten und zum Schmucke von Grabstätten verwendet werden. Die meisten dieser marmornen Erinnerungszeichen trugen am Sockel ein Wappen von einer Grafenkrone überragt, oder eine Verbindung desselben mit dem Schilde anderer Familien, deren Adel sich an Rang und Alter mit dem Kranich der Hehlen messen konnte.

Das Gitter umschloß in einer Ecke des allgemeinen Friedhofs den Beerdigungsplatz des alten Grafengeschlechtes. Einer der Ahnherren hatte ihn gewählt, weil er entweder freiströmende Luft geliebt, oder weil sein erster Akt – nach der jüngsten Auferstehung – eine Begrüßung seines Stammschlosses, das man von hier aus sehn konnte, ein Blick auf die alte Herrlichkeit sein sollte. Der letzte Grund wäre in unsern Tagen ein unwahrscheinlicher, ja unmöglicher, aber der älteste Grabstein, eine mit kriegerischen Trophäen geschmückte Urne, wies schon in der Zeit des Beginns unsrer Erzählung, also bald nach den vielbelobten russisch-deutschen Befreiungskriegen, durch sein lateinisches Chronogramm ein mehr als hundertjähriges Alter nach. So hat denn diese Vermutung etwas für sich und erscheint jedenfalls rittertümlicher als die Liebe zu freier Luft. Ein besondrer Grund für die Wahl des Ortes muß aber schon darum findbar sein, weil in jenen Tagen noch die Kellergewölbe der Kirchen für die »Herren« offenstanden, oder ihre Särge doch, wie noch heute, in besondern Grüften beigesetzt wurden.

Wir vermögen indes die Frage nicht zu entscheiden und müssen uns mit der Thatsache begnügen, daß die Grabstätte der Grafen Hehlen in einer Ecke des allgemeinen Friedhofs lag und nur durch ein Gitter von dem letzten Lager ihrer Unterthanen getrennt war. – Der Tod mußte in wenig Jahren reiche Ernte gehalten haben: drei der Denksteine standen kaum ein Dezennium, und ein vierter war offenbar ganz neu. Von dem letzteren konnte man das schwarze Marmorkreuz mit den goldenen Buchstaben im dämmerigen Abendlichte frei sehn, während sein Piedestal von dichten Gebüschmassen verborgen blieb.

Dicht daneben, aber außerhalb des Gitters, war ein kleiner Hügel aufgeschüttet, der, wie aus seiner Kürze hervorging, die Leiche eines Kindes bedeckte. Auch er war noch frisch. Das Gras spann sich erst drüber, man sah zwischen den Halmen und Maßlieben noch die rohen Schollen. Eine Handvoll Phlox, die sich von dem Überflusse jenseits des Gitters durch die Stäbe gepreßt hatte, blühte zu häupten des Grabes, und eine graue Phaläne zuckte pfeilschnell drüber hin. Nicht einmal ein Kreuz aus Holz bezeichnete die Stelle. Die, denen der Ort heilig, wußten ihn auch so zu finden, und die anderen wären doch daran vorüber gegangen, um die reichen Bildwerke in der Grafenecke zu betrachten. Nur die Phaläne hing drüber und sammelte Duft aus den Violen.

An diesem kleinen, ungeschmückten Grabe stand der Mann, dessen Worte das Kapitel einleiteten.

Seinem Anzuge nach war er ein Handwerker aus dem Dorfe, das sich in der Schlucht zwischen zwei mäßigen Hügelreihen hinzog, von denen die eine das neuere Schloß, die andere die Burgruine Hehlenried trug. Die Züge des Mannes waren kräftig und bestimmt, aber zugleich von so scharfem, um nicht zu sagen – vornehmem Schnitte, daß sie neben der kurzen Jacke von blau und weiß gestreiftem Drill doppelt auffällig wurden. Das Gesicht würde sicher einen überwiegend angenehmen Eindruck gemacht haben, wenn die ungewöhnlich helle Färbung der Pupille dem Auge nicht etwas zugleich Stieres und Unsichres gegeben hätte. Mit dieser Eigentümlichkeit aber lag für jedermann, der ihn zum ersten Male sah, etwas Störendes und Entstellendes in dem Kopfe. Sie würde auch dann noch den Mann zu einer fast unheimlichen Erscheinung gemacht haben, wenn die höhnische Bitterkeit, die jetzt den Mund umzuckte, einem mehr Vertrauen erregenden Ausdrucke Platz gemacht hätte. Vielleicht lag dies Abstoßende auch nicht bloß in dieser auffallenden Äußerlichkeit, die man durch Gewohnheit übersehn und vergessen lernt, vielleicht lag es tiefer und sah nur aus den Augen wie aus Fenstern heraus. Im übrigen gestatteten seine schlanke und doch gedrungene Gestalt, die einzelnen Formen seines Körpers und die Elastizität seiner Bewegungen, ihn für einen gesunden und schönen Mann zu halten. Er war jung, und sein Taufschein, – wenn er einen besaß, – wäre wohl im stande gewesen, gewisse Linien auf seiner Stirn und an den äußeren Augenwinkeln zu Rätseln zu machen. Mit fünfundzwanzig Jahren pflegt das Leben ja in der Regel seine Tättowiermaschine noch nicht an der Hautoberfläche zu versuchen. Aber auch nur der Haufe lebt nach Jahren …

Doch scheint jener Mann zum »Haufen«, zu der Masse zu gehören, deren größtes, ja fast einzig bewußtes Leid in materieller Sorge, in Kummer um Nahrung für morgen besteht …

Daß er arm sei, verrieten seine Worte, auch wenn sein Anzug es nicht verraten hätte, aber die Art, in der er von seiner Lage dachte, gibt ihm sicher das trübe Vorrecht, mehr und anders zu empfinden als der dumpfe Haufe.

An der Hand hielt er einen Knaben von etwa vier Jahren, dessen Gesicht Spuren der Verwüstung durch Pockennarben zeigte. Aber hier waren es grade die Augen, welche die unschöne Gesamtheit, das unregelmäßige, verschobne Profil fast vergessen ließen. Man glaubt, daß Kinder, deren Augen ein frühreifes Verständnis, ein auffallend ausgebildetes Fassungsvermögen kundgeben, sehr bald das kleine, für ihr Sinnen und Trachten nicht zureichende Getriebe ihres Körpers abnutzen, und daß sie sterben, ehe sie wirkliche Reife erlangt haben. Die großen, dunklen Augen des kleinen Christian, die mit ihrer Klarheit und ihrem Glanze wie zwei fremde Sterne in dem magern, mißfarbigen Gesichte standen, hätten diesen Glauben eher hervorrufen als widerlegen können. Es blickte aus ihnen nicht die unstete Neugier des Kindes, nicht die Freude am Wechsel, sondern sie fragten fest und bestimmt, und oft gaben sie sogar Antworten. Ihre funkelnd schwarzen Kugeln blitzten dann den Eindruck zurück, den Gedanken oder Gegenstände auf den Geist des Knaben gemacht. Wohl mochte seine Reflexion schief sein, – aber man konnte sich von diesen Augen nicht ohne die Überzeugung abwenden, daß sich in den kleinen Gehirnmassen, dem sie Bilder zuführten, das Weben der Gedanken in der That schon über Dinge spannte, die der Kinderwelt fernliegen; man mußte glauben, daß dieser Kopf schon versuchte, Eignes an das Treiben der anderen hinan zu denken und somit zu urteilen. Seine Züge sprachen demnach auch nicht jenes unruhige prickelnde Sichgehnlassen der Kindheit aus, sondern waren gewissermaßen in sich zurück gesenkt und wie von einem dominierenden Gedanken gesammelt.

Ob der Wuchs des Knaben infolge dieser vorzeitigen Geistesthätigkeit oder jener gräßlichen Krankheit, die sein Gesicht zerfleischt hatte, zurückgeblieben war, müssen wir unentschieden lassen. Gewiß ist nur, daß seine physische Entwickelung hinter der Erscheinung eines gesunden Kindes seines Alters zurückstand, und daß die Jacke von braunem Merino, so wenig Stoff auch für sie verwendet war, an seinem feinen gebrechlichen Körper schlotterte. Auch schien ihn das Dutzend Kohlblätter, das er unter dem Arme trug, schon nach der einen Seite zu ziehn und ihm mannigfache Beschwerde zu verursachen.

Wir wollen nicht behaupten, daß das Kind den Gedanken des Mannes ganz und gar folgen konnte, und nehmen gern an, daß das folgende Gespräch, trotz des Dialogs, von der einen Seite mehr als lautes Selbstgespräch geführt wurde.

»Wir mögen auch nichts von den toten Reichen haben«, sagte der Knabe als Antwort auf jenes eigentümliche Argument für die Gerechtigkeit Gottes, das in den marmornen Denksteinen liegen sollte. »Hilf mir die Blumen, die wie ein Almosen aus dem Grafengitter vorfallen, von Heinrichs Grabe reißen.«

»Lasse sie nur. Die Blumen werden sich im Freien behaglicher fühlen. Hier werden sie nicht von kalten Steinen gedrängt, die Bäume messen ihnen nicht Luft und Sonne zu, sie werden darum desto freigebiger und freudiger blühn. Das Almosen, das ich von der Hand der Herzlosigkeit selbst für das Grab meines Kindes verschmähen würde, ich nehme es als freiwillige Gabe der Natur dankbar an. Was die Natur gibt, segnet sie auch; aber an allem, was von den Reichen kommt, klebt ein doppelter Fluch. Sie geben uns das, was sie durch Erpressung von uns erworben, brockenweise wieder; sie geben mit gerunzelter Stirn, und ihr Wohlthun heißt Eitelkeit oder Prahlerei. Die Natur gibt lächelnd, und was sie gibt, ist ihr wirkliches Eigentum.«

Der Knabe verzog das Gesicht, als verstände er nicht recht, wie das Geschenk der Natur trotz der Vermittelung der Reichen hier seinen vollen Wert behalten sollte. Dann fragte er:

»Gehört denn die Natur nicht auch den Reichen? Sie haben doch Feld, Wald, Wiese …«

»Nein, die Natur hat keinen Herrn, denn ihr ist alles unterthan. Die Natur ist frei. Die Reichen besitzen zwar scheinbar den größten Teil der Erde und schieben uns allenthalben Schlagbäume vor, aber sie können nicht hindern, daß für uns so gut wie für sie die Bäume Schatten und die Wiesen Blumen haben; sie können uns Licht und Luft nicht vergiften, sie können nichts aus der Natur stehlen, so gern sie es thäten. Sie feinden uns an, aber auch wenn sie die Macht hätten, würden sie uns nicht vertilgen mögen, denn ohne uns wären sie im Besitze aller Schätze – arm. Die Armen machen ihren Reichtum aus, drum geben sie uns von Zeit zu Zeit einen Brocken, damit wir nicht zu Grunde gehn. Aber wir, wir sind die Zukunft, wir werden nicht zurückbeben müssen, wir werden sie selbst vernichten können. Wie sich jetzt in all unsre Gebete ein ewiger Fluch für die Erbpächter der Freude mengt, wird dann ihr Gnadenschrei durch unsern Siegesjubel dringen. Nicht alle werden aussterben und der Rache entgehn, wie dies verrottete Geschlecht …«

Er zeigte nach den Denksteinen und rüttelte heftig an dem Gitter der Grafenecke.

In diesem Augenblicke erhob sich eine Gestalt, die zu Füßen des neuen Kreuzes gekniet oder gesessen haben mußte, stieß die Thüre des Gitters auf und trat dicht vor den Mann.

»Und was thaten Ihnen diese Toten? Was thaten Ihnen meine Väter?« fragte eine so metallreine Stimme, daß selbst die zornige Aufregung sie nicht mißtönend machen konnte.

Es war ein Mädchen in tiefem Traueranzuge, das so plötzlich und unerwartet Rechenschaft forderte. Der Mann erkannte die einzige Tochter des letztverstorbenen Grafen, die er früher wiederholt von fern gesehn, und es war gewiß ebensosehr eine mechanische Äußerung traditioneller Ehrfurcht, als ein Gemisch von Überraschung und Wohlgefallen an der Schönheit der Fragenden, daß er sein Arbeitskäppchen abnahm und schwieg. Es blitzten noch Thränen an den Wimpern ihrer tiefblauen Augen, aus denen ihm die Wiederholung jener festen, heftigen Frage entgegensah: auf der hohen weißen Stirne zeigten sich im Schatten leichtgekrauster schwarzer Haare noch die Linien des Zornes, und der zwiefache Affekt, der verklingende Schmerz neben dem herrschenden Grolle, gab dem Gesichte etwas Ungewöhnliches, Leuchtendes. Es ging dem Manne, wie es denen immer gehn wird, die ihre Theorien nicht von der Praxis, nicht im Kampfe mit den Verhältnissen selbst abstrahieren. In der Theorie hatte er die Tradition überwunden, er glaubte nicht an die Götter der Erde, – aber für dies junge, schöne Wesen fand er keinen Fluch. Er staunte das Mädchen an und schwieg.

Auch die Dame war erstaunt. Die Sprache hatte sie getäuscht. Nachdem sie den Anzug des Mannes gemustert, sprach nur Stolz aus ihren Zügen. Sie verlangte von dem Manne in der verwaschenen Drilljacke keine Erklärung, keine Antwort.

»Ihr müßt in dieser Gegend fremd sein, sonst wüßtet Ihr, daß Schloß Hehlenried keinem Bedürftigen durch Schlagbäume versperrt ist«, sagte sie mit jenem kaustisch verweisenden Nachdrucke, mit jenem überlegnen Tone, den die Kinder der Vornehmen immer für niedriger gestellte Leute in Bereitschaft haben, auch wenn diese an Jahren und Erfahrung viel älter sind. »Ihr müßt hier fremd sein; indes scheint Ihr Kraft und Gesundheit in so hohem Grade zu besitzen, daß Ihr besser thätet, Eure Arme zu regen und für Euch selbst zu sorgen, statt nach Häusern zu fragen, in denen man ohne Prahlerei wohlthut, und vor allem statt Menschen zu schmähen, die Ihr nicht gekannt und die besser waren als Ihr.«

Damit wendete sie ihm den Rücken zu und ging rasch, aber festen Schrittes durch das Thor des Friedhofes. Bald darauf sah man die hohe, schlanke Gestalt einen Seitenweg einschlagen, der das Dorf vermied und zwischen den Feldern in den Schloßpark führte.

Ihre Entfernung hatte die Antwort unmöglich gemacht, die der Mann am Grabe ihren letzten Vorwürfen entgegensetzen wollte. Er drückte seine Mütze wieder in die Stirn, und als er ihr über die Mauer nachsah, murmelte er vor sich hin: »Sie versteht mich nicht! Wie sollte sie auch …?«

Ihre Worte hatten ihn auf das empfindlichste verwundet, aber zu neuer Bitterkeit herausgefordert hatten sie ihn nicht. Das Gefühl, das ihn quälte, war umso peinigender, als sich das schöne, traurige Gesicht des Mädchens zwischen ihn und seinen grundsätzlichen Haß stellte. Er war nicht durch anhaltendes Wetzen im Treiben der Welt dahin gekommen, daß ihm kein unmittelbares Gefühl mehr sein Recht abgetrotzt hätte; das Gefühl machte sich geltend, und er sah sich durch das Bewußtsein niedergedrückt, daß er in sich keinen Grund dafür finden werde, den Haß, den er für die Kaste hegte, auf den ersten besten Repräsentanten derselben, der ihm vom Geschicke vorgeschoben würde, zu entladen. Seine Theorie erlitt durch den Beweis der Unanwendbarkeit für jeden konkreten Fall einen argen Stoß. Hätte ein grämlicher, brutal hochmütiger Bursche ihn angefahren, hätte man versucht, ihm den schuldigen Respekt mit der Reitgerte ins Gedächtnis zurückzurufen, so wäre sein Zorn gewiß in lichterlohen Flammen ausgebrochen, er wäre der direkt Beleidigte gewesen und hätte nicht die uralte historische Beleidigung des Armen durch den Reichen, sondern eine persönliche zu rächen gehabt. Aber hier war es ein Mädchen, ein kaum siebzehnjähriges Kind, das am Grabe seines Vaters geweint hatte … Er war der Angreifende gewesen, nicht die Gräfin … Die Theorie hat nie Geistesgegenwart genug, einer Querfrage standzuhalten, die ein Gefühl, ein fremdes Element in die wohlgeordneten Schlußreihen bringt. – Und hier fand sich mehr als Eine Entschuldigung für das ganze Auftreten des Mädchens, mehr als Ein Gefühl warf sich zu ihrem Advokaten auf. Mußte sie denn nicht zürnen, da man ihre Väter augenscheinlich ohne alle Veranlassung geschmäht? Hatte sie nicht ein Recht, den für schlecht zu halten, dem selbst der Friede der Toten nicht heilig war, der selbst für Gräber einen Fluch hatte? Bewies sie nicht durch ihre energische Sprache einem fremden Manne gegenüber, daß sie hohen Mut und Kraft besitze? Und konnte nicht die äußere Erscheinung des Mannes im Vereine mit seinen Worten ganz wohl den Irrtum hervorrufen, daß er vom Mitleid andrer verlange, was ihn die eigne Trägheit nicht erwerben ließ?

»Sie konnte mich nicht verstehn!« wiederholte er.

Aber Christian verstand seinerseits den Vater auch nicht. Seine Tradition war eine andere als die des Mannes. Der Vater hatte nie anders als verächtlich und bitter von den Vornehmen und Reichen gesprochen und der vorgeeilte Verstand des Kindes diese Lehren ganz ebenso begierig aufgenommen, wie andre Kinder den Haß gegen ungeschlachte Riesen und tückische Zwerge, die ihres Zeichens Prinzessinnenräuber sind und endlich von tapfern Paladinen erschlagen werden müssen, damit diese mit den gefangnen, nun glücklich befreiten Damen Hochzeit machen können, aufzunehmen pflegen. Anders als märchenweise, vom Hörensagen, kannte er ja die Verhaßten auch nicht, und von frühauf mit diesem Widerwillen genährt, hatte er die Scheu nicht zu überwinden, die den andern, wie ihm der Haß, eingeimpft wird. So sehr Kind war er natürlich noch, nichts von Theorie und Regel, also auch nichts von Ausnahmen zu wissen; er kannte nur die Anwendung, – und dem Kinde scheint alles und immer anwendbar. Die enfants terribles sind der Gesellschaft so schrecklich, weil sie aus instinktivem Sittlichkeitsgefühle rücksichtslos ehrlich sind. – Der Knabe war in seiner Weise schon einen Schritt über den Vater hinaus … Indes, wer kann sagen, ob die Dame ihm nicht grade imponiert hätte, wenn sie glänzend geschmückt, wenn sie wie eine Reiche, und nicht als trauernde Tochter gekommen wäre! – Jetzt begriff er nicht, warum der Vater dem Mädchen im schwarzen Kleide die Antwort schuldig geblieben; er begriff nicht, warum er die Mütze gezogen, statt trotzig zu sagen: »Geh hin, du gehörst zu den Verfluchten!« Hatte er doch die Faust geballt, als die »Reiche« gewagt, seinen Vater so hart anzulassen. – Dies »Warum?« lag ebenso schwer auf seiner Brust, als der Kampf zwischen Prinzip und Konsequenz auf der des Mannes.

Christian sah eine Zeitlang mit übereinander gebissenen Zähnen der Gräfin nach, dann fragte er:

»Ist sie so schwarz, weil sie so böse ist?«

»Ihr Vater ist gestorben, sie hat Trauer«, antwortete der Mann, ohne sich umzuwenden.

Diese kurze Antwort, die doch wieder eine Erklärung für den Knaben verlangte, steigerte dessen Gereiztheit noch mehr. Es war ein Akt ohnmächtig kindischer Wut und deshalb um so widerwärtiger, daß er nun doch trotz des väterlichen Verbotes den Blumenstrauch abriß und die Blüten zertrat.

Der Vater sah nichts davon. Er war dicht an die Kirchhofmauer getreten und blickte, die Arme auf der Brust verschränkt, unbeweglich nach dem Schlosse hinüber …

»Ä schaines Schlößche, ä schainer Park! Soll mir Gott helfen, Bäume drin, Stück für Stück sechzig Gulden unter Brüdern wert. 's wär' uns beiden geholfen, wenn wir dürften 's Bauholz rausziehn, für eigne Rechnung bezimmern lassen … Gott, ich wär' zufrieden mit 's Geschäft vom Astholz!« –

Gibt's wohl etwas Widerwärtigeres, als aus seinem eigenst eignen Traumreiche, wär's auch nur ein eignes Dornengeflecht, plötzlich durch eine grenzenlose Trivialität heraus gerissen zu werden? Der Gedanke, der eben aufstieg, sinkt mit einem schmerzlichen Schrei, vielleicht für immer, ins Nichts zurück, die Schar der andern, schon durchgedachten, die sich zu einer Gruppe zu ordnen begann, stiebt auseinander, – die Mysterien sind entweiht. Wehe dem Profanen, dessen unberufnes Eindringen das Opfer störte! –

Mendel Sack, wie ihn die ganze Gegend nannte, ohne daß wir verbürgen wollen, daß ihn irgend ein Zivilstandsregister unter diesem Namen führte, – Mendel Sack, der Hausierjude, hatte bei seiner Wanderung den abkürzenden Weg, der über den Friedhof nach der Landstraße ging, eingeschlagen und war unbemerkt hinter den Träumenden getreten. Der starren Richtung der Blicke des anderen folgend, hatte er den Gedanken Worte gegeben, die ihm den mächtigen Laubkronen des Parkes gegenüber zunächst lagen.

Der Angeredete zuckte zusammen, drehte sich einen Augenblick unwillig um, schleuderte dem Juden einen glühenden Blick zu, dann verzog er den Mund spöttisch und kehrte ihm wieder den Rücken zu. Er war eben wie ein Paria behandelt worden, dies und die Störung reizte ihn zugleich, und so fand er eine Art von Genugthuung darin, die Verachtung, deren Stachel er selbst gefühlt, momentan weiter schnellen zu können.

»Nun, Musje Hennings,« fuhr der Jude in seinem Jargon, den zu kopieren wir nicht versucht sind, gesprächig fort, »was schuddert Ihr den Kopf, als ob das Geschäft nichts taugte? Ihr hättet doch auf Lebenszeit genug Stöcke für Eure Drehbank …«

»Schwatzt Eure Albernheiten denen vor, die sie lieber hören als ich. Geht Eure Wege und laßt mich ungeschoren!«

Musje Hennings zeigte nunmehr thatsächlich, daß er Lust habe, einen guten Teil seiner dumpfgärenden Wut an dem zudringlichen Gegenüber auszulassen. Auch fuhr der Jude bei dem ersten Worte, das ihm auf Armeslänge zugedonnert wurde, einen Schritt zurück. Lang' konnte indes dies Zurückweichen und Nachgeben nicht dauern, er hatte schon gefährlicheren Stürmen Stirn geboten, raffte also bald wieder seine Dreistigkeit zusammen und sagte, immer in seinem näselnden Tone:

»Steht Ihr doch selber da und gafft ins Blaue, – darf ein armer Jude nicht so gut Luftschlösser bauen als Ihr?« Dann setzte er, ehe noch ein neuer Ausbruch erfolgen konnte, begütigend hinzu: »So wahr Gott lebt, hab' ich doch schon unten bei der Frau Gertrude nach Euch gefragt, um Euch einen wirklichen, soliden Vorschlag zu machen. Die arme Frau! Hat auch bessere Tage gesehn und verdient zu leben wie eine Fürstin. Euch muß geholfen werden, schon der Frau zuliebe. Mendel Sack meint's gut mit Euch! Seht doch nur, wenn er Euch schaden wollte, so fragte er den Müller, ob er dem kleinen Christian erlaubt hat, alle Tage Krautblätter von seinem Beete zu holen? Oder er ginge gar zum Förster und sagte, wozu der Sohn des Drechsler Hennings das Grünfutter braucht … Was? Meint Ihr nicht auch, daß Euch das kleine Häsche teuer zu stehn käme?«

Bei diesen Insinuationen versuchte er aber mit seinen trüben Augen, die aus engen roten Schlitzen sahen, so schelmisch zu blinzeln, daß man möglicherweise in diesem Manöver die Versicherung finden konnte, seine Drohungen seien höchstens eine ganz unschuldige Neckerei. Hatte er indes die Absicht, auf diese Weise als Mitwisser und Hehler Vertrauen zu erwecken, so mißlang ihm der Versuch ganz und gar.

»Christian, gehe augenblicklich nach Hause, trage deinen Hans über den Bach ins Feld und überlasse ihn seinem Schicksale«, sagte Hennings streng ohne das Mienenspiel des Juden im geringsten zu beachten. »Und nun, was habt Ihr mir zu sagen, daß Ihr mich sogar in meiner Wohnung, deren Schwelle ich Euch ein für allemal verboten, aufzusuchen wagtet? Aber seid minder geschwätzig als gewöhnlich, sonst mögt Ihr den Gräbern hier Eure ewigen Projekte mitteilen, die sind geduldiger als ich.«

»Ich weiß, Herr Hennings, ich weiß. Immer gleich Feuer auf dem Dache. So gehört sich's auch zu meinem Vorschlage. Ein rascher Entschluß, und Ihr Glück ist gemacht.«

Er nannte den Drechsler nun Herr und änderte auch die Anrede. Hennings lächelte wieder spöttisch über diese List.

»Das was Herr Mendel Sack ›Glück‹ nennt«, sagte er, »such' ich nicht. Habt Ihr wieder einmal nichts Besseres vor als mich, oder vielmehr Euch durch mich und meine Arbeitskraft zu bereichern, so spart Euch den Atem für Euern Weg. Ist's etwas anderes, so sprecht ohne Umschweife und Einleitungen.«

»Zur Sache also, Freundchen, zur Sache. Mein Schwager, der große Lieferant der russischen Armeestiefel, ein reicher, berühmter Mann, hat mir zukommen lassen den ehrenvollen Auftrag, anzuwerben brave, tüchtige, geschickte, deutsche Handwerker für die große Hauptstadt St. Petersburg. Die Reisekosten werden bezahlt in russischen Rubeln, das Handwerkszeug und das erste Material wird geliefert umsonst. Die Lokalität kann sich jeder aussuchen, wie's zu seiner Sache paßt. Gott im Himmel! kann ein arbeitsamer Mann da werden ein reicher, gemachter Mann, ohne zu wissen, wie und warum! Ihr seid ein Drechsler, ein Kunstdrechsler, ein geschickter Kunstdrechsler und Bildschnitzer; ich habe gesehn Euer Meisterstück: Gott über der Welt, haben die Leute geschrien, ein so junger Mensch, hat er gemacht ein wahrhaftiges Wunder von Figuren und Komposition. Ich geb' Euch heute, wo die Louisdors so rar sind, wie die ehrlichen Leute, ich geb' Euch jetzt, bei dieser schweren Zeit, jetzt auf der Stelle einen goldnen Fuchs, akkurat, gewichtig und unbeschnitten, für die heilige Zille von Elfenbein, die Ihr auf Eurem Bücherbrette stehn habt.«

Er griff in seine über alles Maß geräumige Tasche, brachte nach langem Suchen und Wühlen, das auf eine Unzahl in diesem Behältnisse aufbewahrter Utensilien schließen ließ, ein kleines ledernes Beutelchen hervor, sah sich mißtrauisch nach allen Seiten um und nahm dann aus dem schmutzigen Versteck einen in Papier gepackten Louisdor, den er verlockend zwischen den Fingern hin und her wog, während er den Drechsler aus den Winkeln der Augen fixierte. Die Sucht selbst einen Handel, und zwar offenbar einen vorteilhaften, zu machen, drängte einen Augenblick das große fremde Projekt in den Hintergrund. Mendel Sack war ein echter Geschäftsmann, er ließ nie eine Gelegenheit unbenutzt vorübergehn und hielt sich im Notfalle an den alten Satz, daß Tropfen nach und nach Steine aushöhlen. Ging's nicht im Sturme, so legte er Minen, eröffnete Approchen und schoß Bresche, in der Regel kam er endlich doch ans Ziel. Um die heilige Cäcilie warb er auch nicht zum erstenmal.

Hennings machte indes nun ein fast heiter ironisches Gesicht, – er fühlte sich einen Augenblick glücklich in seiner Überlegenheit und in seinem Talente, das Geldstück aber wies er kalt ab.

»Ich sagt' es Euch schon längst, die Schnitzerei ist mir weder um diesen noch einen andern Preis feil; und ich zerbräche meine beste Arbeit eher, ehe ich sie Euch zum Verschachern gäbe«, sagte er, nachdem er den Juden erst absichtlich eine Zeitlang zwischen Furcht und Hoffnung gelassen.

»Nun, ich werde wieder nachfragen. Vielleicht ein neues Kattunkleid für die Frau Gertrud …« Er lupfte seinen Quersack von der Schulter und wollte offenbar sofort Proben und Vorräte auskramen, aber eine ungeduldige Handbewegung Hennings hielt ihn ab. »Ja man kann viel haben für einen solchen Louisdor«, fuhr er fort, »und der wäre doch leicht verdient, – Ihr habt's ja schon vor Jahren gearbeitet. Warum solltet Ihr Euch nicht für den auf der Straße gefundnen, ja wirklich gefundnen Verdienst, einen guten Tag machen wollen. Ihr habt gewiß seit lang' keinen Schoppen guten Wein getrunken. Ich sag' Euch, mein Bruder führt eine Sorte, Elfer, wahrhaftigen Elfer …«

Man möchte behaupten, Mendel Sack kannte das Neue Testament und kopierte das »Alle Königreiche der Welt huldigen dir, wenn du mich anbetest!« Seine Versuchung war die moderne Miniaturausgabe des Wüstenkapitels der Foliobibel. Aber es hieß auch hier auf der nächsten Seite: Apage Satanas!

»Seid Ihr endlich mit Eurer Projektmacherei zu Ende?« unterbrach der Drechsler den Juden, der schon ehe der Handel noch zum Abschlusse gediehen, zu berechnen anfing, wie er wenigstens einen Teil der proponierten Kaufsumme wieder in seiner oder doch seiner Leute Tasche zurückbringen könne, unterdes aber auch den Louisdor wieder in seine verschiednen Hüllen packte.

»Noch nicht, noch nicht, das Beste kommt noch! Was verdient Ihr mit Euren Spinnrädern? Der kleine Verdienst wird auch ein Ende nehmen, wenn alle Leute hier in der Gegend versorgt sind. Was wollt Ihr dann anfangen? Jetzt ist die rechte Zeit. Ihr müßt etwas anderes arbeiten, weil Ihr anderes arbeiten könnt. Ihr könnt also nichts Klügeres thun als jetzt gleich nach Petersburg zu gehn und dort in Elfenbein zu arbeiten – für Rechnung von meinem Schwager …«

»Hol' Euch der Henker, Euch und Euern Schwager samt seinen Armeestiefeln und seinem Elfenbeine. Ich verdiene was ich brauche; brauch' ich mehr, so werd' ich mehr oder anderes arbeiten. Reich werden oder mich von Eurer Sippschaft ausbeuten lassen, will ich nicht, – wenn Ihr nichts Besseres wißt: Geht zum Teufel! Ich bleib' im Lande!«

»Hitziger Mensch! 's hat Zeit damit, beschlaft's; ich kann wieder anfragen, wenn Ihr die Sache überlegt habt. Ich weiß doch, daß Ihr selbst noch sagen werdet, Mendel Sack ist ein ehrlicher Mann, er meint's gut mit mir. – Und wie ist's mit der heiligen Zille …?«

Hennings hörte weder das geschwätzige Selbstlob noch die Wiederkehr des alten Gelüstes, das den Juden unwillkürlich nach der Tasche, die den Louisdor barg, greifen machte. – Sie gingen nach verschiedenen Seiten auseinander.

Von den Wiesen wallten die Nebel auf und zogen ihre hellgrauen flatternden Binden um die kleine Totenkapelle in der Mitte des Friedhofes zusammen. Ihr Türmchen ragte bald wie aus einem dichten Rauchmeere hervor. Die Dünste schleiften ihre bleichen Schleppen über die Grabhügel hin und ließen von Zeit zu Zeit, wenn ein Windstoß sie teilte, den Kopf einer Statue oder ein Kreuz erscheinen, Bilder, die im nächsten Augenblicke wieder verschwunden waren. Oder sie zeigten auf Momente matt und dämmerig eine der knieenden Ritter- und Frauengestalten, wie sie auf den uralten, in die Kapellenwand eingemauerten Grabsteinen dargestellt worden. Dies Hervortreten und Verschwinden konnte glauben lassen, daß die Gestalten selbst sich bewegten und ihre Laken nach sich ziehend den grausen Totentanz der Sage, der seine Erfindung wohl einer der unsrigen ähnlichen Beobachtung verdankt, zur Wahrheit machten.

Die Entfernung von menschlichen Wohnungen, die trübe Umgebung, die feierliche Abendstille dazu, – wenige Menschen hätten sich dem Schauer, den die Landschaft aushauchte, ohne weiteres entziehn können.

Und doch verließ Christian, der dem Befehle des Vaters nicht gehorcht hatte, erst jetzt den Friedhof. Er hatte sich unbemerkt in dem vergitterten Raume, den die Gräfin bei ihrer raschen Entfernung zu schließen vergessen, zu verstecken gewußt, solang' das Zwiegespräch dauerte. Nachdem die beiden Männer fortgegangen, riß er auch hier, soweit seine Kraft reichte, das blühende Gesträuch nieder.

Niemand hatte ihm gesagt, daß es Gespenster gebe; der Same der Furcht war nicht durch märchenhafte Popanze, Erzählungen von schwarzen, kinderfressenden Männern und wie die Requisite der Ammenstubenerziehung alle heißen mögen, in ihn gelegt worden, er kannte also auch die Scheu vor Ungreifbarem nicht, und der Totentanz blieb für ihn ein Wirbel von Nebeldunst.

Er fürchtete sich nicht, aber er zerstörte auch nicht aus jenem kindischen Zerstörungseifer, der weiter nichts ist als der natürliche Thätigkeitstrieb, der noch keinen Halt, kein Ziel hat und verderben muß, weil er weder schaffen noch ruhen kann, – er zerstörte mit Überlegung, er vernichtete die Blumen in der Absicht – zu schaden.

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