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Zweites Kapitel.

Rue d'Enfer.

Daß es den Orthodoxen keiner Farbe möglich ist, ihr religiöses System ohne Lästerung ihrer eignen Gottesidee festzuhalten, geht am schroffsten aus der Verteidigung der althergebrachten Barbarei in unsrer Kriminaljustiz hervor, die vorzugsweise von den »Frommen« übernommen ist. Ein direkter göttlicher Befehl, eine himmlische Kabinettsordre, die natürlich kein Datum hat und für die jeder vernünftige Nachweis mit einem Augenverdrehn abgelehnt wird, befiehlt die Todesstrafe – darum kann sie in Preußen zum Beispiel, wo der fromme Spuk bekanntlich furchtbarer als irgendwo anders umgeht, nicht abgeschafft werden. Was sich der »absolut gute« Gott nicht alles von diesen Berliner Blausäurefabrikanten gefallen lassen muß! Wie sich die Güte Gottes überhaupt mit all den Reskripten verträgt, die schändlicherweise der Inspiration eines höchsten, »allgerechten und allweisen« Wesens zugeschrieben werden, mag einer auszukundschaften suchen! Genug, die gotteslästerliche Barbarei wird nach wie vor gottgnädig in Gottes Namen geübt, Beccaria schrieb umsonst, die Menschlichkeit und die Wissenschaft verschwenden ihre Mühe an der Verstocktheit pietistischer Machthaber. – Wir erinnern uns, daß in der scholastischen Zeit der Kniff erfunden worden, die Resultate philosophischer Forschungen als etwas Selbständiges zu betrachten, das ohne allen Einfluß auf religiöse Doktrinen bleiben müsse. Man negierte flott weg, lehrte aber zugleich »Geoffenbartes« als unumstößlich. Natürlicherweise kam indes doch einer oder der andere darauf, seine gefundnen Schlüsse anzuwenden, da ging es denn der Offenbarung vor dem Lötrohre der Urteilskraft schlecht genug. Statt nun aber der Vernunft ihr gutes Recht zu lassen und das Erkannte zu benutzen, erließ die Sorbonne ein merkwürdiges Edikt, das streng verbot, andre Resultate zu finden als die von der Kirche vorgeschriebenen. Die Idee ist zwar etwas stark, das heißt doch die Köpfe gradezu vernageln, aber sie zu verlachen ist uns so lang' nicht erlaubt, als das Auftreten der Kriminalgesetzgebung unsrer Tage genau dieselben Schranken hat.

Man weiß seit je von dem Einflusse des Temperaments auf die Handlungen des Individuums; die Phrenologie, so dunkel sie auch im ganzen noch ist, gibt über einzelne natürliche Anlagen doch schon die allergenaueste Kunde, und daß endlich die Organisation des ganzen Körpers entschieden auf die Art der Thätigkeit der Person influiert, wird niemand leugnen mögen, – gleichwohl aber haben wir noch die alten abstrakten Verbrechensbilder und die absurden barbarischen Strafen dafür. Man kennt die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen, aber man wendet sie nicht an. Ganz wie in den Annalen der Scholastik. Und das Edikt der Sorbonne wird dadurch suppliert, daß man die Negation des Verbrechens, durch unsrerseits supplierte Anwendung wissenschaftlicher Sätze, selbst für ein Verbrechen hält. Die Kriminaljustiz ist eine Henkerwirtschaft, nicht aber was sie sein sollte: ein Zweig rationeller Arzneikunde. Allerdings steht die Arzneikunde selbst noch mit einem Fuße in der Barbarei und befaßt sich analog der Justiz mit abstrakten Krankheitsvorstellungen, während sie auf ihrer Höhe mit jedem konkreten Falle ein neues Bild haben müßte. Es gelingt daher der kurativen Pflege wohl oft, die Krankheitserscheinungen zu heben ohne jedoch den wahren Krankheitsgrund, der kaum bei zwei unter zehn Organismen derselbe sein dürfte, zu beseitigen oder auch nur zu erkennen. Das Edikt der Sorbonne spukt hierbei auch. Der Dualismus ist einmal angenommen, und selbst die widersprechendsten Erscheinungen müssen auf ihn zurückgeführt werden, obgleich er in der Wissenschaft von vornherein als eine Ketzerei dasteht. Man sieht die Einwirkung der Affekte auf den Körper, man benutzt selbst Zerstreuung, Schauspiele und Lektüre als Heilmittel, ohne bei Annahme des Dualismus im Menschen eine andre als eine geschraubt künstliche Erklärung für so erzielte Resultate finden zu können, während sie, wenn man den Organen ihr volles Recht läßt, auf der Hand liegt. Die Wirkung ist dann eine einfach direkte, unmittelbare und der Erfolg ein notwendiger. Es ist unglaublich, wie hinderlich die vorgefaßte, durch nichts unterstützte Meinung überall ist. Die krankhaften Erscheinungen bei sogenannter Geistesstörung sind so auffallend körperlich, die Verstimmung des Organismus eine so unzweifelhafte, daß es in der That schwer zu begreifen ist, wie man zu der Annahme kommen konnte, die »Seele« sei es, die zuerst ihr Gleichgewicht verloren und auf den »Körper« zurückgewirkt habe. Man verwechselt eines Vorurteils wegen Ursache und Folge.

Ebenso unerklärlich blieben dadurch Krankheiten einzelner Organe, die ganz und gar Folgen der Affekte sind. Wie will man in einigermaßen glaublicher Weise begreiflich machen, daß sich dieser oder jener Affekt auf dieses oder jenes Organ niederschlagen und es krankhaft oder heilend affizieren müsse, wenn man dem Organe selbst nicht erst eine höhere Bedeutung, eine Bestimmung gibt, die mit jenem Affekt in intimster Verbindung steht? Wie will man erklären, warum die »Seele« sich darauf kaprizioniere, durch gewisse Aufregungen immer dieselben Organe leiden zu lassen? – O das Edikt der Sorbonne! Mit sehenden Augen blind zu sein, nur um eine alte Vorstellung nicht umzuwerfen, die rein phantastisch ist und nur einer falschen Eitelkeit schmeichelt! Es ist weder eine vollständig vernünftige Arzneikunde, noch eine zivilisierten Zuständen in Wahrheit angemessene Kriminaljustiz denkbar, solang' der Glaube an den Dualismus nicht ausgerottet ist. In ihm wurzelt aller Irrtum und alle Barbarei, durch ihn wurden die Verzerrungen menschlicher Zustände, die zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der Erde zum Elende verdammen, möglich. Durch ihn läßt sich jede Grausamkeit, jede Trägheit und das Scheußlichste des Scheußlichen selbst, jene greinende Frömmelei, die ihre eigne gemeine Rachsucht hinter »göttliche« Befehle versteckt, rechtfertigen.

Aber die Axt ist an diesen Baum gelegt, ein zweiter Bonifacius schlägt die Physiologie, die Wissenschaft der Erlösung vom Übel, die Quelle wahrer Sittlichkeit, den Zauberbaum zusammen … die Gaffer erwarten einen Blitz der Rache, die Thoren, der Blitz kommt, aber er zündet ihren mit dem Baume zugleich niedergeworfenen Kram an, und dieser Brand ist eine Fackel, eine Hochzeitsfackel, welche die Vermählung des Gedankens mit der Natur beleuchtet. Und diese Ehe ist unlöslich, sie wird im Himmel und auf der Erde geschlossen sein.

Krankheiten, also Hindernisse, die sich der normalen Entwickelung des Organismus in den Weg stellen; Überbildungen, Bevorzugungen einzelner Organe, durch welche das Gleichgewicht des Ganzen gestört wird, führen am leichtesten zu gründlicher Erkenntnis der Norm für das Ganze und der speziellen Bedeutung der Organe selbst. Treue Krankheitsgeschichten, die nicht zu einem dogmatischen Schlusse kommen und nicht einzig und allein den Zweck haben, den Belag für ein abstraktes Bild zu liefern, helfen jenes Erkennen vermitteln. Das Kurieren nach Symptomen allein ist eine reine Baderwirtschaft, der wirkliche Arzt muß durchaus Physiolog, Menschenkenner und vor allem divinatorisch begabt sein. Er muß die ganze Lebensgeschichte, er muß auch die sogenannte geistige Entwickelung seines Patienten kennen und fähig sein, diese Elemente zur Begründung der symptomatischen Krankheitserscheinungen zu benutzen. Es gibt ärztliche Genies, die durch Intuition das Fehlende ergänzen, aber erzogen werden sie noch nicht.

Ganz dieselben Requisite braucht die Kriminaljustiz, ganz dieselben jeder Mensch, der über einen andern urteilen will, ohne ungerecht zu sein. Es genügt gar nicht zu wissen, daß Unterleibskranke hypochondrisch sind und mitunter Vorstellungen haben, die der Wirklichkeit fern liegen, sondern man muß im Leben und vor Gericht Bezug darauf nehmen. Vor Gericht nun gar. Es sollte nie ein Mensch abgeurteilt werden, ohne daß festgestellt wird, durch welche subjektiven und objektiven Einwirkungen er zu der That kam, die ihn anklagt. Bei solchem Verfahren würde sich die Zahl der »Verbrecher« sehr rasch vermindern und die Geschworenen selten ein verdammendes Verdikt fällen müssen. Man würde unter hundert Beispielen sogar kaum einmal die natürliche aprioristische Anlage finden, während aus den übrigen neunundneunzig sattsam hervorginge, daß es die »Gesellschaft«, die jetzigen verkehrten Institutionen waren, die den Organismus dahin stimmten und präparierten, daß seine »verbrecherische« That ein notwendiges Resultat der Verhältnisse wurde. Es gibt jetzt, wo die Zustände selbst Verbrechen sind, die ihr Recht haben, nur imaginäre Verbrechen, nur relativ verbrecherische Thaten, bei natürlichen, sittlichen Zuständen, bei vernünftiger, rein menschlicher Ordnung verliert auch diese Kategorie ihre Möglichkeit, – und, wir sagen es allen Theologen und Juristen der Welt zum Trotz: das Verbrechen an sich, das absolut Böse hat nie existiert. Die Mühe der Jahrhunderte (die an diesem fleischlosen Knochen nagte und so auf einen neuen, noch viel alberneren Dualismus kam, als der Witz der Realisten und Nominalisten, der Sektierer, die man verbrannte, und der Narren, die man kanonisierte) ist verloren, – das Böse, dessen Ursprung sie finden wollten, existiert gar nicht. So wie die Natur in ihrem genetischen Gange durch fortwährendes Experimentieren unwillkürlich Verbindungen zu stande brachte, die wir Gifte nennen, wie sie Organismen schuf, die uns als Ungeziefer erscheinen, – so schuf der experimentierende Gedanke seinerseits auch Zustände, die giftig und ungezieferhaft sind. Es hat kein Gedanke existiert, der nicht seiner Zeit ein notwendiger gewesen wäre, sogar die Hexenprozesse, die Inquisition und die Judenverfolgungen haben ihr Recht gehabt. Die römischen Kaiser hatten von ihrem Standpunkte aus gute Gründe, die Christen als eine staatsgefährliche Sekte zu verfolgen. Die Erfolge haben es gezeigt. Das Christentum, damals noch ein weicher Liebes- und Friedenskultus, arbeitete den Barbaren vor, die Kraft Roms war gebrochen, die Eroberer hatten die halbe Partie voraus. Nero that instinktiv, was Julian der Apostat, der eigentliche Grenzstein der Heidenzeit, später mit Bewußtsein zu thun versuchte. Es war zu spät, der neue Gedanke besiegte den alten. All jenes Treiben war giftpflanzenhaft, die Inquisitoren und Hexenrichter sind ekelhaftes Geschmeiß, aber Verbrecher waren sie so wenig als ihre Opfer. Sie waren zu ihrer Zeit sogar im Rechte. Ihre Grundsätze ins neunzehnte Jahrhundert hinüberschleppen zu wollen ist dagegen, wie all der mittelalterliche Unfug, der noch besteht, ein relatives Verbrechen gegen uns und unsre Zeit. Wir haben unser Recht, wie jenes Treiben es gehabt, wir siegen und schreiten vor, man wird uns endlich folgen, weil man muß.

Das Gesetz der Notwendigkeit ist ein uralt anerkanntes, es ist nur durch ein abermaliges Paroli auf das Edikt der Sorbonne bisher nicht überall angewandt worden. Es lag zu nahe, als daß man es nicht übersehn hätte, man konnte auch keine rechte Formel dafür finden, weil man die Wissenschaft in Sonderwissenschaften ohne stete Verbindungskette zerspaltete, mit einem Worte, weil man nicht praktisch studierte und jeder »Weise« seinen Fund hinter das Gitter einer Terminologie brachte, wo er den Augen der ganzen Menschheit verborgen blieb und nur Auserwählten (für mäßiges Entree) gezeigt wurde. Es gilt das Wissen Einzelner aller Welt nutzbar zu machen; das ist die Aufgabe der Zeit und der Wissenden insbesondre. Propaganda für das Urteil, für den Gedanken. Anderes thut nicht not. Wer will denn gegen eine Überzeugung, die Millionen gemein ist, mit plumpen Waffen brutaler Gewalt zu Felde ziehn? Woher wird er die Waffen nehmen, woher die Menschen, sie zu führen?

Es ist nur so viel Barbarei in der Welt, weil es so viel Glauben und so wenig Überzeugung gibt. Überzeugung aber kann nur das Wissen geben. Aus der Überzeugung geht der unüberwindliche Drang hervor, das Rechte zu thun, und dieser Drang fordert wieder genaue Untersuchung und Gründlichkeit. Nur der Glaube kann zu Fanatismus führen, die Überzeugung nie, denn die Überzeugung ist klar über sich selbst, sie weiß, daß eine Reihe von Urteilen nötig ist, zu ihr zu gelangen, der Glaube dagegen hat einen mystischen Hintergrund, er kennt sich selbst nicht ganz, drum vermag er es, anderen auch die gleiche Ungründlichkeit zuzumuten oder sie ihnen gar mit Schwert und Feuer aufdringen zu wollen. Darin ist der politische Glaube dem religiösen völlig gleich. Die politisch Roten sind ebenso gläubig wie die Weißen, obgleich sich beide einbilden – eine Überzeugung zu haben. Der Glaube muß fallen, nur die Überzeugung führt zum Heile, auch für die feste Ordnung des sozialen Verkehrs muß sie an die Stelle des Glaubens treten. Man wird sie dadurch gewinnen, daß man sich gewöhnt, jede einzelne Handlung nur im Zusammenhange mit dem ganzen Wesen des Handelnden aufzufassen und so immer nur gerecht zu urteilen. Man wird nicht mehr über Kategorien, sondern über Individuen richten und den Kranken nicht mit der Elle messen, die für den Gedanken paßt.

Mit welchem Rechte will man denn Brustkranken die Folgen ihrer Reizbarkeit oder gar Herzkranken ihre künstliche Bewältigung von Affekten und die daraus hervorgehenden Zuckungen aus einem Extreme ins andere neben mühsam unterdrückter Bitterkeit als Schuld anrechnen?

Das Herz, dieser wunderbare Muskel, der zuerst lebt und zuletzt stirbt, – wie kann man von ihm sagen, es sei weiter nichts als der Hauptsitz des »tierischen« Lebens? Allerdings ist er der Anfang jedes warmblütigen Organismus' in so hohem Maße, daß es scheint, als sondre sich im Fötus alle andre körperliche Substanz nur aus dem Blutschaume ab, den seine Rhythmen weiter treiben. Es ist ein Saug- und Druckwerk, es verwendet den soeben erst aufgenommenen Stoff sofort dazu, um sich herum ein Gehäuse zu bilden; ein Zweck, den es durch seine Triebkraft erreicht. Der Körper ist bis zu einem gewissen Grade unzweifelhaft das Produkt der eignen Herzthätigkeit. Und wieder fand man noch fünfunddreißig Minuten, nachdem einem Menschen der Kopf abgeschlagen worden, das Herz pulsierend. Es ist also Anfang und Ende, es ist die Achse des sogenannten tierischen Lebens auch nach der Annahme der Dualisten. Wie sie aber ohne Deus ex machina motivieren wollen, warum auch die sogenannte »geistige« Gefühlsrichtung, der Nerv, der das Subjekt mit dem Objekte verbindet und das Denken erst möglich macht, ebenfalls seinen Sitz im Herzen aufgeschlagen hat, da es immer und immer dieses Organ ist, das bei geistigem Leiden physisch schmerzhaft affiziert und durch die Gewohnheit und Wiederkehr solcher Schmerzen verbildet und krank wird, wünschten wir doch zu wissen? Wir, die wir den Menschen für ein Ganzes halten, finden die Erklärung dieses nicht wegzuleugnenden Faktums leicht. Es ist in der That im Herzen der Lebensfunke, die Konzentration der dem Individuum zugekommenen Urkraftspartikel, daher vom Herzen aus der Zug zum Allgemeinen (Ewigen) und wieder der Einfluß des Draußen auf das Herz. Das Herz ist das erste Lebendige am neuen, entstehenden Wesen, durch das Herz tritt das neue Individuum zuerst in Verbindung mit der Welt, sein Herz ist ihm gegeben, der Schluß auf seine Bedeutung und die Antwort auf jenes ›Warum?‹ hat also keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil erklärt sich hierdurch auch das »Dämonische« jedes übermächtigen Gefühls, es sei passiv oder aktiv; es erklärt sich der Einfluß der Musik, des einzigen puren Gefühlsausdrucks, und die Macht der menschlichen Stimme, die wie durch Magie oft in der That nicht in den Ohren, sondern im Herzen widerhallt. Das Wort für das Rätsel heißt: das Herz ist der Sitz des Weltgefühls; weil es das von der Welt überkommene Stück ist, muß alles, was unmittelbar das Gefühl angeht und durch seine Beziehung zum »Ewigen« Wert hat, im Herzen resonieren. Dazu bedarf es, wenn man nur einfach die von der Natur sichtbar gegebenen Fingerzeige verfolgt, keines erfundnen Leitdrahts.

Ein Mensch, der von früh auf harten Gefühlserschütterungen ausgesetzt war, dessen Herz also überreizt und gewaltsam aus seiner normalen Thätigkeit gezwungen worden, wird auch dann, wenn nicht schon durch die Bedingungen, die bei der Bildung seines Herzens gewaltet haben, der Keim späterer Ausartung gegeben ist, herzkrank, – ja eine einzige große Katastrophe vermag noch im späteren Alter das edle und zarte Organ so zu verstimmen, daß der vollständig entwickelte Körper welk wird und abstirbt, der in der Entwickelung begriffne aber nie zu voller Blüte gelangt.

In den seltensten Fällen ist die Anlage dazu eine von der Geburt datierende, und da auch mag sie – was sich freilich schwer nachweisen läßt – am häufigsten erst bei dem Akte der Geburt selbst durch mechanische Einwirkung von außen herbeigeführt werden. Im übrigen rührt sie zum Teil von Stürzen, Druck und andern Verletzungen her, zum Teil aber, ja sogar viel öfter als in allen anderen Fällen zusammen – und das ist für unsere früheren Behauptungen wesentlich, – ist sie rein die Folge von Gemütsbewegungen. Während der Schreckenszeit in Frankreich grassierten Herzkrankheiten in nie vorhergeahnter Zahl, und in den letzten Jahren tauchten sie ebenfalls wieder in bedenklicher Weise auf. Die Kranken haben eine immerwährende Unruhe, sie wagen es nicht, sich lebhaft zu freuen, sie dürfen nicht zornig, nicht betrübt werden, – denn bei ihnen ist das »Springen« des Herzens vor Schmerz oder Lust nicht eine Hyperbel, sondern eine Mahnung, eine Drohung. Bei den einen äußert sich das Übel durch erhöhte Spannung, bei den andern durch Erschlaffung, ihre Phantasie ist wild und ungezügelt oder trüb und schwer, kurz, sie sind notwendig anders als andre Menschen und prinzipiell fast für keine ihrer Handlungen verantwortlich zu machen. Ihr Leben ist durch die oben angedeuteten Beziehungen des Herzens zum Allgemeinen ein überwiegend Dämonisches und ihr Erkennen ein intuitives. Das verträgt sich übrigens ganz gut mit der Lehre vom »freien Willen«, wie man überhaupt, wenn man Lust hat, gegen die Orthodoxie gefällig zu sein und die Begriffe gut zu wenden weiß, allenthalben eine Brücke findet. Der Wille ist allerdings frei, aber das Wollen im konkreten Falle ist und bleibt immer ein durch gegebene Umstände als notwendig Hervortretendes. Damit ist wieder eine Brücke zur Prädestinationslehre gefunden und der so verzweifelt schwierige Einklang der Allwissenheit und des freien Willens ergibt sich ohne alle Mühe. – Wir arbeiten der Theologie in die Hände: mag es ihr wohlbekommen! Uns kommt es auf einen Gedanken, den wir der armen ausgesäckelten Person schenken, nicht an. Indes raten wir ihr, nebenbei an das Timeo Danaos! zu denken. – Schade nur, daß man mit all diesen Dingen, ob wollend, ob unwillkürlich, Herzkranke ebensowenig als mit Digitalis gesund macht.

Es war ein Herzkranker, zu dem Tetarskoff fuhr, und zwar ein solcher, der von seiner Krankheit wußte und darum sein Leben durch all jenen Zwang verstümmelte, dessen wir vorhin erwähnt. Er wohnte Boulevard d'Enfer, in einer Gegend, nach welcher sich der Fremde etwa nur dann verschlagen läßt, wenn er vom Hotel des Invalides oder vom Marsfelde kommend, das Observatorium besuchen will, oder einen Ball in der Chaumière zu sehn wünscht. Aber auch da begrenzt der Boulevard du Mont Parnasse seine Wanderung und nur das Hospice des Enfants trouvés kann ihn dahin verlocken.

Hier an der Spitze der Rue d'Enfer, in der dritten Etage eines schmalen Hauses, lebte auf drei Zimmer beschränkt ein junger Mann mit seiner sehr hübschen Frau, die stets dafür sorgte, daß der üble Humor ihres Gatten durch ein Übermaß ihrer eignen unversieglichen Heiterkeit für den Dritten unfühlbar wurde. Der Mann war seinem Namen nach ein Deutscher, er hieß »Schneider«; da er aber in Frankreich erzogen worden, sprach und schrieb er die fremde Sprache wie die eigne und als eigne. Er arbeitete für Journale der Opposition und namentlich für die kleinen Blätter, deren Leserkreis sich in den Arbeiterfaubourgs findet; außerdem gab er in der deutschen Sprache Unterricht. Davon lebte das Paar. Clarisse, so hieß die Frau, war sich nicht ganz klar geworden, in welchem Verhältnisse Tetarskoff zu Schneider stand, und nach vergeblichen Bemühungen den Faden zu erhaschen, begnügte sie sich damit, zu glauben, was ihr Gatte ihr erzählt, daß nämlich Tetarskoff sich seiner als einer Waise angenommen und ihn habe unterrichten lassen. Daher kam also das Patronisieren, das der alte Herr sich ihr gegenüber erlaubte. Sie lachte ihn dafür aus, empfing ihn aber stets freundlich und das um so mehr, als er außer einigen nach ihrer Meinung wenig appetitlichen Journalisten der einzige Herrenbesuch war, der öfter durch die Woche eintrat.

Auch sie war eine Deutsche, aber sie hatte französisches Temperament, lebhaft, feurig, in einem Atem trostlos und übersprudelnd von Laune, ohne jedoch darum an Empfindungstiefe Mangel zu leiden. Ihre gewissermaßen trotzige Heiterkeit, die hinter sich eine Resignation hatte, die manchmal schmerzen wollte, aber gegen das glückliche Temperament nicht aufkommen konnte, machte sie zu einer überaus originellen und liebenswürdigen Erscheinung, die selbst dann nichts von ihrem Reize verlor, wenn ihre Weise für verwöhnte Menschen ein wenig emanzipiert schien.

Die Portiere sagte Tetarskoff, daß Herr Schneider ausgegangen und daß » sa bonne petite femme« zwar noch krank liege, aber munter wie immer und für ihn gewiß zu sprechen sei. Sie wollte noch mehr sagen, – ein Beweis, daß sowohl Tetarskoff als die junge Frau gut bei ihr angeschrieben standen, – aber » le m'sieur au chapeau gris« wollte heute durchaus nur eine Antwort, die sie nicht wußte: wo Herr Schneider zu finden sei?

Er stieg eilig hinauf, um sich zu erkundigen. Clarisse lag in der That zu Bett und die Unterhaltung wurde anfangs aus einem Zimmer ins andere geführt.

»Wie abscheulich von Ihnen«, rief sie heraus, sobald ihre Cameriere Tetarskoffs Namen genannt, »wie ganz abscheulich, grade jetzt zu kommen, wo ich … Auh! … wo ich Schmerzen habe. Vor zwei Stunden war ich ganz wohl. Und ich freue mich schon seit drei Tagen darauf, Ihnen eine köstliche Geschichte zu erzählen …«

»Ich möchte nur wissen …«

»Ah, das glaub' ich! Kommen Sie morgen oder setzen Sie sich an unsres lieben ›Tristans‹ oder wie ich ihn jetzt getauft habe, weil er so gar nicht aufzurütteln ist, an unsres Simpelpeters Schreibtisch, studieren Sie sein neuestes Pamphlet gegen die › bourgeois‹, zu denen Sie natürlich gründlich gehören mögen, quoique ou parceque Sie mir trotz aller Versprechungen Ihr Haus noch nicht gezeigt haben, – unterdes geht mein Anfall vorüber und ich kann Ihnen dann erzählen, wie ich meinen Simpelpeter doch in Wallung bringen werde.«

»Ich habe nicht Zeit, es ist dringend nötig, daß …«

»Nun meinethalb! – Da, Susette, rücke Herrn Tetarskoff einen Stuhl an mein Bett. Kommen Sie, ich will mich zwingen und Ihnen doch erzählen, da Sie durchaus darauf bestehen.«

Das Zimmer war niedlich und frischgelüftet. Man atmete nicht die Atmosphäre einer Krankenstube, wozu ein großer, schöner Blumenstrauß in einer einfachen Glasvase nicht wenig beitragen mochte. Die Frau lag oder saß vielmehr halb in einem Bette mit weißen Vorhängen; sie sah zwar angegriffen aus, aber ihr feines Profil gewann eher durch den Mangel an Fülle, es zeigte zu reine Linien, als daß es jemals hätte anders als reizend sein können. Dazu ihre nachlässige und doch anständige Haltung, ihre geistreichen aber unsäglich gutmütigen Augen und das weiße Negligeehäubchen, das ihr schönes dunkles Haar nicht fesseln konnte …

»Da, da, Sie sehn bekümmert aus, Mr. le bourgeois! Daß ihr Männer, ob alt oder jung, gleichviel, euch immer alles gleich so zu Kopf steigen laßt, daß man euch den Choral eures Kummers von den Stirnfalten absingen kann. Wär' ich nicht längst tot, wenn ich's triebe wie ihr? … Gott, meine arme Mama, ah! … Sehn Sie und ich darf nicht einmal an sie denken, weil Er mich braucht, weil ich ihn lieb habe, ich das einzige Wesen auf der Welt … Mama hat noch Luise, o wie mag es jetzt aussehn, das kleine sanfte Ding … Er hat niemand als mich, ich niemand als ihn. Und er hat mich doch lieb, obgleich er so närrisch ist, mich überreden zu wollen, er könne mich nicht leiden. Aber ich bekomme ihn jetzt, Sie sollen sehn … Wie? Sie sind noch immer betrübt, auch nachdem ich Ihnen gesagt, daß ich heiter bin und gewiß mehr Grund habe zu trauern als Sie?«

In der That hatten die Worte der jungen Frau die Stirn Tetarskoffs nicht entwolken können, obgleich sein Blick unwillkürlich milder ward und er die Hand, die sie ihm gab, fast herzlich drückte.

»Haben Sie gefühlt, wie rauh mein Finger ist? Denken Sie nur, daß Bruder Tristan in seiner üblen Laune jetzt auch noch verlangt, daß ich, krank wie ich bin, nähe oder sticke. Daß er es sonst verlangt, lasse ich gelten; er hat mich schon fleißig gemacht, als ich noch … zu Hause war. Das wußte er mir sehr hübsch als Ehrensache darzustellen. Aber jetzt, nachdem ich ihm alles geopfert, mich so zu plagen, das verdient Strafe. – Da, sehn Sie den Blumenstrauß, meinen Sie etwa, mein häßlicher Mann habe mir ihn gebracht? – Ich habe von ihm nur eine einzige Blume und zwar eine abscheulich garstige Giftblume bekommen, die ich denn auch der Seltenheit wegen die ganze Zeit über aufhob.«

»Sagen Sie mir nur, denn ich habe wirklich Eile …«

»So, so, ich lasse Sie in mein Kabinett, habe seit drei Tagen kaum zehn Minuten lang Zeit gehabt, mit jemand zu sprechen, das heißt mit Zunge und Lippen zu sprechen, und nun wollen sie unartig sein? Bah, wir sind in Paris, nicht in Moskau oder Sibirien, Sie werden gegen eine Dame artig sein, und müssen es erst recht gegen eine Kranke, die, wenn sie plaudern kann, ihre Schmerzen vergißt oder wenigstens nicht so heftig fühlt.«

»Aber dann eilen Sie!«

»Vortrefflich! – Also mit den Lippen sprach ich nicht, dagegen aber mit den Fingern. Das ist eben der Spaß. Vis à vis wohnt ein hübscher junger Mensch mit einem Schnurrbart, dem es Vergnügen macht, mich mit dem Tubus, der Lorgnette oder den bloßen Augen zu sehn und zu suchen, nachdem ich nämlich entweder gar nicht sichtbar oder nur halb oder ganz am Fenster bin. Im letzten Falle ist er so artig, seine Gläser beiseite zu legen. Wir sind schon so weit, daß er mir heute dies hübsche Boukett zeigte, als ich früh ein wenig Luft schöpfte. Fünf Minuten nachdem ich mit dem Kopfe genickt, brachte ein Kommissionär den Strauß herüber, ich machte eine dankende Verbeugung, – er machte ein glückseliges Gesicht, – und ich versichre, er sah sehr komisch aus mit seinem Schnurrbarte und den enthusiastischen Augenbrauen, die einander umarmen zu wollen schienen, – damit verschwand ich. Kommt Mr. Tristan nach Hause und affektiert, wie gewöhnlich, sich gar nicht um mich zu kümmern, setzt sich an den Tisch, studiert albernes Zeitungsgezänk, so rufe ich ihn unter irgend einem acceptabeln Vorwande, – denn, wenn ich rufe, kommt er doch –, herein, er erblickt zufällig den Strauß, spricht über hinausgeworfnes Geld, ich werde verlegen, Susette glaubt sich zurückziehn zu müssen, er bemerkt es, ich gestehe meine Schuld, – kurz, ich bringe endlich eine Szene zustande. Es gibt einen köstlichen Spaß, wenn ich ihn hernach mit der ganzen Geschichte foppe und Sie mir bezeugen müssen, daß ich's von vornherein bloß auf die Versöhnung angelegt habe.«

»Ich glaube, Sie thäten am besten, die Blumen zum Fenster hinaus zu werfen und keinen solchen Scherz zu treiben …«

»O Gott«, sagte die Frau, und es klang im Augenblicke tiefer Kummer aus ihrer Stimme, »soll ich denn jung, wie ich bin, auch schon für den Scherz gestorben sein, den ich so liebe, nachdem ich für die Welt, an die ich so viel Recht hatte, für meine Mutter, für den Vater, für Luise, für alles tot bin? – O, und ich langweile mich oft recht, wenn ich so ewig allein sein muß, ohne jemand, mit dem ich plaudern kann.«

»Arbeiten Sie!«

»Wohl, wohl, ich thu's«, sagte sie so lebhaft, daß ihr die Thränen in die Augen traten, »aber auch die ärmste Grisette führt nicht ein so einsames Leben als ich. Eh' ich krank wurde, war er anders, und es muß wieder anders werden; hab' ich ihn, so hab' ich genug, aber für seine Neckerei spiel' ich ihm einen Streich. Sie sollen sehn, wie komisch er sein wird, und hernach bittet er mich noch um meine Verzeihung, die ich ihm aber nicht eher gewähre, bis er mich wieder zeichnen und malen läßt. Er nennt das aristokratische Spielereien. Nun, so bin ich eine aristokratische Proletariersfrau. Ein hübscher Titel, nicht wahr? Er paßt aber, ich habe noch Tücher mit der Krone in der Ecke, auch eins von Mama … Warum muß ich doch heute immer wieder an sie denken. Das ist kindisch, denn sie hat mir ja selbst geschrieben, daß ich für sie tot bin. Ah, wenn sie mich sähe, ich bin doch immer noch ein hübsches Gespenst, nicht wahr? – Sie suchen schon wieder Ihren Hut … Nehmen Sie das Boukett mit, wenn Sie meinen, daß es meinem armen kranken Simpelpeter wehthun könnte«, sagte sie plötzlich so weich mit einem ihrer raschen Übergänge, daß ihre Worte den Mann wirklich rührten.

»Sie lieben Christian also doch trotz seines rauhen Wesens?«

»Ah, was verstehen Sie davon? Sie, Mr. le bourgeois, der nie Frau noch Kind gehabt hat, was verstehn Sie davon? Würden Sie sonst fragen? Wär' ich denn hier, wär' ich denn heiter, dächt' ich, krank und recht schmerzhaft krank, an Scherze, wenn er mir nicht über alles lieb wäre? Trüg' ich's denn seine Frau zu heißen? Nun können Sie gehn, ich habe mich nur üben wollen, ich habe viel gelitten während ich Ihnen vorplauderte. Ich weiß, daß er mit leidet, wenn ich stöhnen muß, ich wag' es aber auch nur, wenn er schläft. Das geht nicht leicht zu machen, drum versuch' ich's auch den Tag über, wenn er nicht da ist. O, ich hab' ihn sehr lieb, meinen armen Mann. Er quält mich auch nur, weil er krank ist. Sowie ich aber wieder auf bin, will ich ihn schon munter machen.«

Tetarskoff war schon zu Anfang dieser Apostrophe bleich geworden, und als sie geendet hatte, sagte er hastig, als fürchte er ein Gefühl zu zeigen, das er verbergen wollte: »Ich kam eigentlich nur herauf, um Sie zu fragen, wo ich Christian finde, den ich in einer dringenden Sache sprechen muß!«

»Sagt er mir etwa, wo er hingeht? Indes hab' ich ausgekundschaftet, daß seit … seit ich krank bin, der Friedhof hier drüben am Mont Parnasse sein Lieblingsspaziergang ist. Hätten wir den Tubus von dem Herrn mit dem Schnurrbarte zur Hand, so könnten wir ihn vielleicht in einer der Ulmenalleen spazieren sehn. Er liebte solche Spaziergänge immer, auch bei mir … zu Hause schon. Sagen Sie mir, warum denk' ich, seit Sie hier sind, immerfort dorthin? – Suchen Sie ihn links vom Eingange, in der zweiten Allee. Gehn Sie jetzt, ich will weinen, und da darf mich niemand sehn.«

Sie wendete sich im Bette nach der Wand und erwiderte seinen Abschiedsgruß nicht mehr.

»Und doch ist dies Weib ein Glück für ihn geworden, ein Glück, das er nicht würdigen mag und ohne das er noch viel elender wäre als jetzt. Wunderlich, wie das Geschick spielt und wie Haß und Rache ihre Spitzen durch den Humor eines heitren Kindes verlieren. Ich gesteh's, diesen Mann zu lieben, das ist fast groß.«

Tetarskoff murmelte noch im Wagen, der ihn nach dem Friedhofe fuhr, halblaut vor sich hin. Er fand Schneider wirklich langsam und gedankenvoll zwischen Gräbern auf und nieder gehend.

»Christian, Sie sind hier!«

»Wer?« fragte der Angeredete teilnahmlos. »Ach so! Ich weiß schon. Immer noch der alte Kampf gegen diese einzelne Familie, für den ich, weil ich albern genug war, mich zum Angriffe brauchen zu lassen, büßen muß. Wie kann dir diese kleine Sache so viel zu schaffen machen. Wir bereiten einen andern Kampf vor, nicht gegen eine Clique, sondern gegen alle Schurkerei in der Welt. Das ist ein Kampfplatz für mich. Ich habe genug an der einen Niederlage, die mein Sieg herbeigeführt. Mir ist es gleich, ob sie hier sind oder wo anders.«

»Höre nur, es liegt mir daran, sie von Clarissens Anwesenheit irgendwie zu unterrichten. Ich möchte wissen, welchen Eindruck ihre Lage auf die stolze Dame jetzt macht, wo sie selbst sehr zerknickt ist …«

»Das geht nicht, Clarisse ist krank, wie du weißt, es könnte ihr schaden!«

»Was kümmert's dich?« sagte Tetarskoff lauernd.

Schneider färbte sich einen Augenblick, dann sagte er mit einem Anfluge von Schärfe: »Es kümmert mich wohl, solang' sie in dieser Weise krank ist. Sonst mögt ihr sie hinnehmen, ich bezwinge sie nicht. Wäre sie mir nicht zuwider und könnt' ich lieben, so müßt' ich sie lieben, Bewunderung für ihren Heroismus hab' ich auch so. Zu brechen ist ihr Sinn nicht und noch weniger ihr Hochmut.«

»Ich dächte doch und habe mich eben wieder davon überzeugt, daß sie vollständig in ein ganz gewöhnliches harmloses Wesen verwandelt ist und die ›Vornehmheit‹ ganz und gar abgestreift hat.«

»Für dich, weil sie vielleicht deine Stellung zu mir ahnt, aber gegen alle andern ist sie immer die Dame. Sie zwingt mir Achtung ab, sie ist nicht zu korrumpieren. So ist es unmöglich geworden, daß ich sie verlasse, obgleich es nun wieder keine Fessel zwischen uns gibt. – Dort liegt das Kind begraben, d. h. die Bruchstücke eines Kindes …« sagte er bitter. »Und sie ertrug allen Schmerz, sie versuchte auch da heiter zu sein. Ich sagte ihr ein hartes Wort – »das meinst du nicht so«, antwortete sie. Kurz, so sehr sie mich geniert, ich werde sie nicht los. Das ist die Folge deiner Pläne und aller deiner Arrangements von früh auf. Mich ließt du unter fremden Leuten hart und rauh erziehen; daß ich die Mutter verloren, wußte ich und von dir hört' ich Jahre hindurch nichts. Ich sollte keine Familie haben, ich sollte allein stehn und bleiben. Ich hatte mich an diese widernatürliche Idee gewöhnt und ließ mir die Perspektive gefallen, die du mir plötzlich eröffnetest, als du mir dein Märchen erzähltest. Der Streich, den du führtest und bei dem ich nur als Waffe diente, gelang, – nicht durch mich, sondern durch die Eigentümlichkeit des Mädchens, das mich hinriß und einen Augenblick freundliche Gedanken, die ersten, die ich hatte, – dafür hast du gesorgt –, in mich hinein zauberte. Ich wollte nun eine Familie. Das mißlang und wird nie gelingen. Es mag auch gut sein, denn deine Weisheit hat mich unfähig gemacht, anders zu sein als ich bin. Ich bin ein Meisterstück deiner Erziehungskunst, obgleich du nun, da du alt geworden bist und mitunter Lust hast zu paziszieren, mich nicht dafür anerkennen willst. – Verteidige dich nicht, ich sage dir das nicht zum erstenmal. So wie ich bin, ist meine Rolle gegeben und ich führe sie durch. Versuche aber nie, mir gegenüber den Versöhner, den Ausgleicher zu spielen, dann kreuz' ich deine Pläne, sonst hab' ich nichts mit ihnen zu thun. Du protegierst jetzt Clarisse …«

»Weil sie dir notwendig ist, weil sie dich liebt!«

»Unsinn! Ich werde dem ein Ende machen, ich werde ihr sagen, wie sie allein durch einen wohlberechneten Plan von dir in meine Hand kam und was weiter über sie beschlossen war. Vielleicht bricht das ihren Nacken. – Übrigens glaub' ich fast an dein Märchen, denn für einen Proletarier von Geburt war dies Stückchen allzu cavalièrement ausgedacht. Der Proletarier gibt sich dazu nicht her, denn die Geschichte war schlecht, sehr schlecht. Ich wälze sie auf dich. – Deine Weise, den Kampf gegen die Kasten zu führen, ist meiner unwürdig, ich bin ein geborner Proletarier, ein Kind des Volks … thue du was du magst, ich thue was ich muß. Es ist trotz deiner Mühe so viel Natur in mir geblieben, daß ich nicht gradezu gegen dich auftreten mag, – oder vielmehr es ist dir gelungen, mich so schlecht zu machen, daß ich deine schlechten Mittel passieren lasse, weil der Haß sie gefunden und weil ich nichts verstehe als den Haß!«

Diese Worte klangen noch verletzender, der Vorwurf war um so intensiver als er ohne sichtbare Erregung, gedämpft und lau ausgesprochen wurde. Tetarskoff war heftig ergriffen, seine Lippen zitterten, aber er versuchte keine Entgegnung.

»Willst du, daß sie sich sehn?« fragte er.

»Das ist zwecklos!«

»Dann leb' wohl!«

»Adieu.«

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