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Sechstes Kapitel.

Eine Krisis.

Es gibt eine überraschende Verwandtschaft zwischen Theorie und Praxis, Traum und Leben, Phantasie und Wirklichkeit, mit – Farbe und Form. Die Theorie, der Traum und die Phantasie ohne Rücksicht auf äußere Gestaltung, auf Anwendung und Verwirklichung, reizen sofort und ziehen ohne Kampf siegreich mit klingendem Spiele und fliegenden Fahnen in Kopf und Herz des Menschen ein. Der Jubel ist so groß, daß man den inneren Widerwillen der Natur gegen diese Elemente im Augenblicke völlig übersieht und erst später das Unzureichende, Unbefriedigende zu fühlen anfängt. Ganz ebenso wirkt die Farbe auf das Kinderauge, und der Beobachter kann dabei dem seltsamen Schauspiele zusehn, daß der äußere Sinn sich sichtlich gegen etwas sträubt, das von der »Quintessenz« der Sinne mit Jauchzen aufgenommen wird. Bunte Farben ziehen Kinder unwiderstehlich an, sie jubeln und greifen danach, aber es ist eine Art von schmerzlicher Wollust, die sie empfinden, ihre Lider zucken, man kann an dem Blinzeln, an dem wechselweisen Dehnen und Zusammenziehen der Pupille, das stets selbständig neben den Äußerungen der Freude hergeht, deutlich wahrnehmen, daß die Sehnerven durch das vielfach gebrochne Licht unangenehm affiziert werden. Das Spiel, das Händeklatschen dauert eine Zeit, dann wenden sich die Augen ermüdet ab, das Kind überzeugt sich, daß die Farbe nichts Tastbares ist und verlangt nach neuem Spielwerke.

Gegen die Praxis und alles Wirkliche sträuben wir uns dagegen mit einer gewissen Angst, es muß uns fast aufgedrungen werden, wir müssen uns daran gewöhnt haben, ehe wir es fest anfassen. Wir ziehen ungern ein neues Kleid an und dachten uns doch in diesem Kleide vorher ganz prächtig. Haben wir uns in ein Verhältnis aber erst eingewöhnt, sind wir mit einer Sache erst vertraut, so finden wir nur im Verkehre damit, im Schaffen und Handeln volle Befriedigung. – Man gebe Kindern einen greifbaren Gegenstand, ein geformtes Etwas, das ihnen fremd ist, und sie werden sich fürchten, wohl gar weinen, – haben sie aber erst den Versuch gewagt zu tasten und zu befühlen, so wollen sie von ihrer Puppe nicht mehr lassen, sie drücken sie an sich und überhäufen sie mit Zärtlichkeiten. Das ist Kinderart. Und wie uns trotz jenes Bangens eine nicht zu betäubende Sehnsucht in das Leben zieht, so fühlen sich auch die Kinder zu Gegenständlichem gedrängt, und ist der Ausdruck ihrer Augen, wenn auch ihr ganzer übriger Körper von Furcht zittert, nie ein anderer als – Neugier. Sie fürchten das tastbare Unbekannte, aber sie wünschen es. Es liegt dies also in der Naturanlage des Menschen, solang' sie unverfälscht ist. Die Verbindung der Farbe mit der Form ist entweder Raffinement oder Verklärung; die Praxis von der Theorie erläutert, steht höher als gedankenlose Empirie; das Leben im Schmuck des Traumes, die Wirklichkeit im Mondlichte der Phantasie, – so sind beide erst mit jenem schmerzlich wollüstigen Reize ausgestattet, den man zugleich liebt und fürchtet. Der Schein als Putz für die Wahrheit, – denn die Farbe ist Schein, – macht auch in den verkehrtesten Verhältnissen das Leben möglich, wenn man die Fähigkeit hat, das Wirkliche äußerlich, objektiv und fern zu fassen und aus dem Inneren heraus das Reizende, den Schein, die Farbe hinan zu dichten. Aber die Farbe muß eine subjektive sein, man muß, um solches Leben zu lieben, in der Gesellschaft nach außen so stumpf und dumpf geworden sein, daß man gar keine objektiv gegebne »Farbe« mehr anerkennt. Das ist das einzige Mittel, ohne Verstimmung durch das Treiben von oben und unten zu schreiten. An das Förmliche gewöhnt man sich nach und nach aus angeborner Trägheit, und für die Farbe, an die man sich nicht gewöhnen kann, trägt man selbst Sorge. Es unterliegt keinem Zweifel, daß auf diese Weise jene Reihe nicht alltäglicher Menschen, die eine Art von »höherem« Egoismus affichieren, mit dem Leben fertig werden. Daß wir aber jetzt den Schein brauchen, um das förmlich Gegebne schön zu finden, ist entweder ein Zeugnis gegen uns oder die Form selbst. Die Farbe ist heiter, wirkt rasch und – verstimmt zuletzt; die Form ist ernst, wirkt schwerfällig und macht – heiter. Daher kömmt die höchste ernst-freundliche Bedeutsamkeit der farblosen Form in der plastischen Kunst und jene edle, fast kindliche Einfachheit, die wir an allen großen plastischen Künstlern wahrnehmen können. Ihr ganzes Wesen ist ein Entkleiden des Seins vom Scheine. Thorwaldsen würde seine besten Werke, seinen Ganymed und seinen Mars lieber zerschlagen haben, ehe er Tünche hätte darankommen lassen. So wie die Summe des Lichtes farblos ist, müßte die höchste Phase der Lebensentwickelung auch farblose Reinheit geben, d. h. wir müßten auf der letzten menschlichen Bildungsstufe allem Reize durch Schein entsagen und das nackte Wahre allein für begehrlich halten. Wir kommen auch dahin, wir kommen zu jener ernsten Heiterkeit, die das Ungestüm, aber nicht die Innigkeit ausschließe, nur gilt es erst die lügenhaften Farben, den täuschenden Köder, den wir uns selbst hinhalten, zu entfernen. – Dieser Schluß widerspricht nur scheinbar der oben angeführten Läuterung und Verklärung durch Farbe und Theorie. Theorie, die praktisch Form nimmt, so daß sie sich nicht als für sich bestehend geltend macht; Farbe, die mit der Form zugleich wird, so daß sie als natürliches Aggregat erscheint, das keine selbständige Berücksichtigung verlangt, geben an und für sich keine Gelegenheit zur Täuschung, und endlich hat diese Läuterung und Verklärung nur Sinn und Zweck, wenn die Form, das Wirkliche, unvollkommen ist, nicht aber in einem Normalzustande, von dem unten die Rede war. Man verzeiht in einem Gemälde Titians wohl der Farbe zuliebe eine inkorrekte Zeichnung, man bewundert aber die Galathea Rafaels auch unkoloriert im ersten besten schwarzen Umrisse.

Der Formsinn ist der überlegne, der Farbensinn der minder solide und vergängliche. Der Formsinn ist der Sinn der Zukunft; das Zeitalter der Farben ist vorüber, sie verschwinden immer mehr, – nicht aus der Welt, sondern aus der Gesellschaft. Sie verschwinden dort, wo sie mit dem andern Scheine kokettierten, nicht aber, wo sie eine Wahrheit sind. – Es liegt eine gewisse Vornehmheit in diesem Entsagen, obgleich es nicht offiziell ist, in dieser Verachtung des gemeinen Kitzels, und sie wird gute Früchte bringen. So wie die eine Wagschale steigt, muß die andere sinken, je leichter der Schein wird und je weniger Wert man ihm beilegt, desto gewichtiger wird die Wirklichkeit, und in dem Momente, in dem wir uns ernstlich und ohne optische Täuschungen, ohne vage Spekulation und traditionelle Maskeraden mit ihr befassen, ist auch ihr Sieg für alle Zeit entschieden.

Dieser Kampf zwischen Form und Farbe, Sein und Schein, wiederholt sich allenthalben in der Welt und im Menschen und tobt lange Zeit und mit wechselndem Kriegsglücke, bis ihn endlich ein äußerer Anstoß zwingt einen Namen für sich selbst zu finden und über die Regenbogenbrücke hinweg ein festes Ziel zu suchen.

Hennings täuschte sich fortwährend, das Flimmern und Blinken seines Traumlebens, dem er jetzt weniger als je eine Form gab und es auch nur unbestimmt an eine Person zu knüpfen wagte, brachte ihn scheinbar über alles hinweg, er lebte ohne sich wie früher eines Lebenszwecks bewußt zu sein. Die Umstände hatten ihm von außen eine Charaktermaske umgehangen, aber dieser Charakter hatte sich nicht von innen heraus gestaltet, die Maske war eine aufgelegte, nicht mit ihm verwachsne Folie, sie konnte ebenso wieder von außen vernichtet und abgerissen werden. Er war als Jüngling Mann geworden und hatte Form gewonnen, und jetzt als Mann schien er die versäumte Jünglingszeit mit ihren Farbenspielen nachholen zu wollen. Seine Phantasie nahm einen immer wilderen, phantastischeren Schwung, es war so viel Begeisterung und Feuer in seinen Reden, daß der Handwerker mit dem Schurzfelle unter Spänen und Werkgerät nun wirklich für Cecile die originelle unterhaltende Figur war, die sie gehofft. Sie kam immer häufiger und legte immer weniger Herablassung in ihre Worte, ja sie reichte dem Arbeiter sogar die Hand und vollendete dadurch die Verwirrung, in die ihn ihr Benehmen und seine Phantasie längst gesetzt.

So saß sie eines Abends ihm gegenüber und benutzte seine Schwärmerei dazu ihn von seinen Familienverhältnissen sprechen zu lassen. Er erzählte ihr, wie er dahin gekommen, sich so früh zu verheiraten, was ohnehin in einer Zeit, wo die Mehrzahl der jungen Männer Militärdienste that, nichts Auffallendes war, bei ihm aber noch durch besondre Verhältnisse herbeigeführt worden. Er schilderte seine Frau, seine Kinder, – aber die Art, wie er von diesen sprach, war nicht freudig und offen, wie er ihrer früher gedacht, sondern es klang eine gewisse Verdrossenheit, Mißmut und Gedrücktsein durch.

Cecile glaubte ihn auf dem Wege, auf dem sie ihn wünschte. Sie verstand seine Gedrücktheit so, daß sie meinte, er sehne sich danach frei und fessellos zu sein, um jung wie er war, nochmals den Stab zu ergreifen und sich für die Kunst auszubilden. Das war ihre Lieblingsidee. Rücksicht auf ein ganz gewöhnliches, hausbacknes Weib zu nehmen und so eine vom Zufalle herbeigeführte Voreiligkeit mit dem Untergange eines Talents und lebenslangem Entsagen zu büßen, schien ihr ungerecht und sinnlos. Diese kränkliche Frau konnte nicht die Ursache eines solchen Fehlgriffs werden; diese Knaben, die anderweitig unterzubringen waren und vorläufig noch gar nicht der leitenden Hand des Vaters bedurften, konnten ihrem Plane ebenso wenig störend in den Weg treten. Daß die Trennung, zu der sie reizen wollte, eine unverantwortliche Härte gegen Hennings Familie enthielt, fiel ihr nicht ein, denn – wie gesagt – ein gewöhnliches Weib durfte den Künstler in seinem Fluge nicht hemmen. Eine mächtige Neigung, wie Cecile sie dem Drechsler wohl zutraute, hätte einzig allein ein wirkliches Hindernis abgeben können, aber sie glaubte genau genug zu wissen, daß eine solche jetzt wenigstens nicht mehr da war. Sie wollte den Knoten durchhauen und eine Entscheidung herbeiführen.

»Wollen Sie einmal ganz ehrlich sein?« sagte sie.

»Ich denke es immer zu sein.«

»Wollen sehn! Ich bin überzeugt, daß Ihnen die Verhältnisse, in denen Sie leben, jetzt nachdem Sie wieder ein wenig Kunst gekostet, ganz unerträglich sind. Zugleich fühlen Sie, daß Ihnen eine Reihe von Studien nötig wäre, um aus einem Bildschnitzer ein plastischer Künstler von Verdienst und Ruf zu werden. Ihr Talent ist unverkennbar, aber zwischen dieser Kniebank und einem Relief in Marmor liegt eine Kluft. Und Ihr Beruf ist zu deutlich ausgesprochen, als daß Sie nicht nach dem Höchsten greifen und streben müßten. Sie fühlen das auch und sehnen sich danach, – eins aber hindert Sie, – Ihre Familie …«

»So mächtig ist der Trieb nicht …«

»Lassen Sie mich ausreden. Wenn Ihnen die Erhaltung Ihrer Familie garantiert würde, Sie aber in den Stand gesetzt nach Italien zu pilgern, um dort die Meisterschaft zu erringen …«

»So ginge ich doch von Hehlenried jetzt, jetzt nicht mehr fort!« brach Hennings aus. »Ich fühle immer mehr, ich fühl's an dieser Arbeit, daß die Kunst nicht so mächtig in mir ist, als ich geglaubt, ich hätte sonst hier Großes leisten müssen. – Und dann«, sagte er mit wiederkehrendem Stolze, »würde ich weder für meine Familie noch für mich eine ›gnädige‹ Unterstützung annehmen. Was geschehn ist, ist geschehn, – und meine Heirat ist das Schlimmste nicht. Bin ich denn so tief gesunken, daß Sie mir vorschlagen dürfen Weib und Kind zu verlassen um einer Möglichkeit nachzujagen? – Ach ja, Sie haben recht, es ist bei mir nicht mehr alles, wie es sein soll …« Er preßte seine Hände an die Stirn und versetzte Cecile, die nichts weniger als einen solchen Aufschrei aus dem Innersten von einem Manne erwartete, den sie vollkommen gezähmt zu haben glaubte, in das höchste Erstaunen.

»Nun, Sie sagen, ich habe recht, und doch wollen Sie scheinen, als sei mein Vorschlag ein Unrecht gegen Sie und Gott weiß wen?«

»Wissen Sie, daß ich wünschte, ich hätte Sie nicht am Grabe Ihres Vaters gesehn, kein Unrecht gegen Sie gut zu machen gehabt, und wäre der Drechsler im Dorfe geblieben, statt hier im Schlosse meine Entschlossenheit, meine Festigkeit, mein ruhiges Gewissen, kurz alles zu verlieren, auf das ich stolz war.«

»Aber Sie sind wahrhaftig ein Kind …«

»Gut, gut!« sagte Hennings bitter, »ich hab' es verdient gescholten zu werden und muß es sogar von Ihnen tragen. Das ist immer noch nicht so schlimm als sich selbst schelten zu müssen.«

»Sogar von mir? Sie verfallen, glaub' ich, wieder in die barbarischen Sitten, die Sie abgelegt zu haben schienen. Ihre Arbeit ist brav, aber Ihr Wesen scheint nun doch inkorrigibel. Ich werde mir ferner nicht Mühe geben …«

»Wäre auch gar zu liebenswürdig von dir, mein Herz, lasse du mir den Burschen, wenn er ungehobelt ist, ich werd' ihn schon korrigieren. – Guten Abend!«

Graf Hugo war eben angekommen und hatte auf dem Wege nach seinen Zimmern in der Kapelle Ceciles Stimme gehört. Er war eingetreten und ihre letzten Worte einem Manne im Arbeitsanzuge gegenüber gaben ihm seiner Ansicht nach das Recht etwas derb »dazwischen zu fahren«, auch begleitete er sein Anerbieten mit einer bezeichnenden Bewegung der Reitpeitsche, so daß Hennings blutrot wurde und einen Schritt vortrat.

Wie es immer zu gehn pflegt, nötigte die größere Heftigkeit der beiden Männer, deren Ausbruch sie vorbeugen wollte, Cecile, die vorher selbst heiß geworden, nun vermittelnd aufzutreten. Die Bank war noch nicht fertig, sie wünschte darum gar nicht, daß Hennings durch eine direkte Beleidigung aus dem Hause gewiesen würde. Nach flüchtigem Willkommen erzählte sie, zwischen Hugo – der noch immer mit der Peitsche spielte und durch den ruhigen Blick des Handwerkers ein wenig aus der Fassung gekommen war, – und Hennings stehend, im Umriß den Hergang.

»Du bist im Irrtume, Hugo«, sagte sie, »Herr Hennings« – sie betonte das »Herr!« – »Herr Hennings hat die Güte für uns diese Kniebank anzufertigen. Du siehst, wie schön die Arbeit ist. Ich war vorhin nur ärgerlich, weil er nicht nach Italien reisen will und meine Vorschläge abweist. Herr Hennings, dies ist mein Bräutigam, der Sie nicht kennen konnte …«

»Ich meine indes, man droht nur Hunden mit der Peitsche!« sagte Hennings scharf betont ohne seine Stellung zu ändern.

»Den Teufel auch, wer kann wissen, was in einem solchen Kittel steckt! Lassen Sie Gras drüber wachsen, es ist unter vier Augen geschehn …«

»Ich bin kein Kavalier, daß ich Zeugen dazu brauchte, mich beleidigt zu fühlen.«

»Nun, alle Welt, ich werde Sie doch nicht jetzt vor Zeugen um Verzeihung bitten sollen? Da meine Hand, Herr …« Gleichviel wie, ich habe Sie verkannt, damit abgemacht! Weiß der Henker, was ich heute für ein Pechvogel bin. Wie ich durch den Wald reite, attackiert mich eine halbe Stunde von hier eine Horde Zigeuner, halbnacktes, wüstes Gesindel, erst bettelnd, hernach drohend und mich und Hans halb von den Pferden zerrend, so daß ich mir mit Gewalt Luft machen mußte …«

»Es ist dir doch nichts geschehn? Und wie kommen Zigeuner hierher?«

»Mir ist nichts, aber einige von den Kerls dürften die Hufe meines Hannibal im Abdrucke und einige Eindrücke meines Peitschenknopfes mit nach Hause nehmen. Du fragst, wie das Gesindel hierher kommt? Ist dir das so rar? Von Böhmen aus schleichen sie sich im Gebirge hier ein, zur Hälfte wirkliche Zigeuner, zur Hälfte Ausschuß aller Nationen noch von der letzten Kampagne her.«

»Warum schossest du nicht?«

»Weil mein teurer Hans, der fast dafür gebüßt hätte, so weise war, die Pistolen in den Mantelsack statt in die Halftern zu stecken! – Das war die eine Affaire, aus der ich mit Hilfe von Peitsche und Sporen kam, in eine andere, die ich dir eigentlich wohl nicht erzählen darf, kam ich wieder grade durch die Peitsche. Indes du wirst lachen, also erzähle ich lieber.«

Cecile lachte in der That schon, aber mehr über die Art, mit der sich Hugo immer halb an Hennings wendete, als wolle er ihn durch diese Aufmerksamkeit vollends beschwichtigen. »Erzähle nur«, sagte sie, »da du mich heute so angenehm überrascht hast, denn ich erwartete dich erst übermorgen, werd' ich wohl schlimmsten Falls Gnade für Recht üben.«

»Denke also, und denken Sie, Herr …«

»Hennings! Ich sollte glauben, mein Name sei nicht so ungefüge.«

» Merci! Eine Bäuerin oder sonst etwas hier aus dem Dorfe hat dir, Cecile, ein verzweifelt schlechtes Kompliment über deinen Geschmack gemacht. Ich reite durchs Dorf, der Weg ist staubig, mein armer Hannibal arg müde, ich lass' ihn also recht behaglich schlendern und schlage dabei in der Luft nach Mücken. Bei dieser Gelegenheit fliegt der Knopf von der Peitsche herunter, wahrscheinlich durch die Zigeunerprügelei lose gemacht, und fällt in das Gestrüppe am Straßenrande. Ich habe nicht Lust ihn zu verlieren, – du weißt, es ist der ziselierte Löwenkopf, den ich aus Paris mitbrachte, – jage also Hans aus dem Sattel und bitte außerdem eine hübsche Blondine, Frau oder Mädchen, was weiß ich, kurz eine sehr hübsche, sauber aussehende Person, die eben vorüber ging, den Knopf suchen zu helfen. Die kleine zarte Person ist gutmütig, sucht und findet das Ding richtig. Als sie mir den Knopf aufs Pferd hinaufreicht, halt' ich ihre Hand fest und sage, daß ich sie zum Danke küssen wolle. Sie entreißt mir die Hand, aber Hans, der glaubt, daß mir wunder was dran läge, hebt sie in demselben Momente zu mir hinauf. Ich denke nun, daß sie entweder schreien oder sich beruhigen wird, statt dessen bekommt die Person wie eine Stadtdame Nervenaffektionen und wird ohnmächtig. Da hatten wir die Bescherung, – und kaum tret' ich hier ein, so bekomme ich fast ein Duell mit Herrn … Hennings! Sie sehn, ich habe jetzt Ihren Namen behalten!«

»O, Sie werden ihn behalten, Herr, Sie werden ihn behalten, wenn das, was ich vermute, wahr ist«, rief Hennings, der das letzte Abenteuer mit steigender Aufregung und mühsam unterdrückter Wut angehört hatte. Damit wandte er dem Paare den Rücken und verließ mit raschen Schritten die Kapelle.

»Sag mir um alle Welt, wo hast du dies Animal aufgejagt? Der Kerl ist rein verrückt! Ich glaube, wenn die nervenschwache Dirne zufällig seine Schwester gewesen ist, schickt er mir morgen einen Kossaten als Kartellträger, der auf der Spitze einer Mistgabel die Ausforderung dieses Originals überbringt. – Aber nun möcht' ich auch wissen, wozu uns diese Kniebank soll! Meinst du, ich würde als Ehemann devot werden? Wenn der Anblick eines Möbel mich stets an den Namen des rasenden Rolands Hennpix oder wie das Ding heißt erinnern soll, hätte er uns etwas anderes machen müssen, was ich wahrscheinlich öfter sehn werde als dies Marterwerkzeug …« Er faßte seine Braut um die Taille und zog sie mit sich aus der Kapelle, indem er ihr lachend etwas ins Ohr flüsterte. –

Hennings hatte kaum den Schloßhof verlassen, als er Christian sich entgegen kommen sah. Der Knabe hatte sich ganz außer Atem gelaufen, und wenn Hennings nicht durch die Erzählung des Grafen den Zusammenhang hätte erraten können, würde er in den abgerißnen Sätzen, die Christian hervorstieß, keinen Sinn gefunden haben. Das Kind war so erschöpft, es zitterte dermaßen und weinte aus Wut und Angst, daß der Vater es auf den Arm nehmen und nach Hause tragen mußte. Sein Vorgefühl hatte ihn nicht getäuscht. Seine Frau, das einzige Wesen im Dorfe, das auf »Zartheit« Anspruch machen konnte, war der Spielball einer Herrenlaune gewesen und auf offner Straße gekränkt worden. Ihm wurde wüst und wirr im Kopfe. Es war ganz gleichgültig, ob er das alte innige Interesse für Gertrud hegte oder nicht; die Frau, die seinen Namen trug, die Mutter seiner Kinder, hatte als Dank für eine Gefälligkeit von einem Herrn eine unverschämte Zumutung und von einem Diener eine rohe Frechheit erdulden müssen, die bei ihrem Zustande einem Attentate auf ihr Leben gleichkam. Es war auch gleichgültig, daß der Graf nicht wissen konnte, daß die Frau, die er antastete, nicht eine stumpfe Bäuerin und daß sie leidend sei. Mit welchem Rechte durfte er es wagen, Weib oder Kind eines Fremden mit seinen Zumutungen zu verfolgen? Recht? Es fiel ihm ein, daß hier der Vorwurf nicht so schwer den Herrn träfe als die Niedrigkeit der Gesinnung, die Hundegeduld, ja die freiwillige Prostitution der Masse. Wenn sich die unteren Schichten der Gesellschaft nicht oft eine Ehre daraus machten, von den oberen beschimpft zu werden, würden die »Herren« nicht wagen, was ihnen jetzt nur ein kleiner Scherz scheint. Wer Schmach für Ehre nimmt, ist nicht wert, anders behandelt zu werden. – Er lachte wild auf und drückte sich die Nägel in die Hand.

So kam er heim. Gertrud war wieder erwacht, die Magd hatte sie halb entkleidet auf das Bett gelegt und durch Einflößen von kaltem Wasser, sowie durch Umschläge um die Stirn die Ohnmacht gehoben. Der kleine Richard saß neben ihr auf dem Kissen und schluchzte, da es ihm nicht gelang der Mutter, die er in seinem kindlichen Lallen mit dem ganzen Wortschatze seiner Zärtlichkeit überhäuft hatte, ein Lächeln abzugewinnen. Sie starrte tonlos vor sich hin und von Zeit zu Zeit flog ein Hauch unendlicher Wehmut, der sich in lebenssatte Müdigkeit auflöste, über ihre Züge. Sie drängte dann auch ihr Kind von sich ab, das immer aufs neue Versuche machte, sie mit seinen Armen zu umschlingen und mit seinen kleinen Lippen warm zu küssen.

Ihre Augen leuchteten, als ihr Mann eintrat, aber es war ein düstres Feuer. Sie sah ihn mit einem Hohne an, der um so schneidender auffallen mußte, als er ihrem Gesichte völlig fremd war; sie heftete ihre Blicke so stechend fest auf ihn, daß er glaubte, sie liege im Fieber und Phantasiere.

»Nun bist du doch zufrieden? Du siehst, so ist alles in Ordnung! Du bei seiner Braut, er bei deiner Frau. Er hat dich gestört, sonst wärst du wohl noch nicht hier, denn du wirst mich doch nicht etwa überreden wollen, daß du meinethalb eine Stunde angenehmer Unterhaltung aufgegeben hast? Nicht wahr, er kam zur Unzeit, ich hätte ihn noch ein wenig beschäftigen sollen? Was ich doch auch dumm und ungeschickt war.«

»Gertrud, du fieberst, sonst würdest du solch häßlichen Unsinn nicht reden. Du weißt, daß ich arbeitete …«

»Nicht wahr, du meinst, es sei ein zu großer Abstand zwischen der Gräfin und dir? Das soll ich jetzt glauben, nachdem du mir hundertmal das Gegenteil bewiesen. Das soll mich jetzt beruhigen? Ich kenne deine Überredungskunst, du hast sie an mir gezeigt, und da die schöne Gräfin doch auch nur ein »Weib« ist, wird sie ja auch Augen und Ohren gehabt haben. Es ist wahr, du wirst erst jetzt ein recht hübscher Mann, während ich verfallen und halbtot bin …« Sie sprach das heftig und rasch, so daß er sie nicht unterbrechen konnte. Damit war aber auch ihre Kraft zu Ende, sie rief schluchzend: »O Gott, o Gott, daß es dahin kommen mußte!« und drückte den Kopf in die Kissen.

»Und wirst du die Mutter so weinen lassen?« fragte Christian, da der Vater ratlos neben dem Bette stand. »Bist du, wie sie sagt, daran schuld …?«

Es kam heute alles auf einmal zum Ausbruche. Auch Christians Erziehung begann Früchte zu tragen, er kehrte seine Starrheit nun auch gegen den Vater und forderte Rechenschaft.

Aber Hennings belauschte die tiefen Atemzüge, die mit einem leisen Pfeifen in die Brust seiner Frau sanken und kurz abgestoßen wiederkehrten. Er preßte schmerzlich seine Hände an die eigne keuchende Brust und hörte nichts von der Frage seines Sohnes.

»Liebe, liebe Mutter, sehr krank!« lallte der kleine Richard und brach aufs neue in herzzerreißendes Weinen aus.

Dieser schrille Naturlaut brachte wieder etwas Licht in das dumpfe Sinnen des Mannes. Er nahm den Knaben auf seinen Arm und bat Gertrud sich ganz zur Ruhe zu legen. Sie machte eine verneinende Bewegung. Er nahm ihre Hand. Sie entzog sie ihm hastig und schluchzte laut auf.

»Du willst mir schmeicheln!« murmelte sie. »Pfui, pfui, Fritz, seit wann hältst du mich für so gemein!«

Nun setzte er sich auf den Bettrand, immer den Knaben im Arme haltend, und wendete ihren Kopf mit leiser Gewalt herum, so daß sie sein trübes ernstes Gesicht und den angstvollen Kinderkopf sehn mußte.

»Gertrud!« sagte er mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke, so zerrissen, schmerzlich, weich und kummervoll zugleich, daß sie wie von einem Erinnerungsschauer überrieselt am ganzen Körper zitterte.

»Laß mich ruhen«, sagte sie dann matt, »ich bin sehr, sehr krank.« Aber ihre Stimme klang nicht mehr so gereizt, sie drückte ihr heißes Gesicht an die Hand, die es emporgehoben, als wollte sie zeigen, wie krank sie sei.

»Aber du kannst so nicht ruhen, Gertrud, ich will dir dein Lager in Ordnung bringen, damit du schlafen kannst. Es geht vorüber, nur die Aufregung und die Entrüstung haben dich angegriffen. Komm!« Er setzte den Knaben auf die Erde, nahm die Kranke, die leicht wie ein Kind war, vom Bette und trug sie, ohne daß sie sich gesträubt hätte, auf einen Stuhl. Dann machte er das Lager zurecht und entkleidete seine Frau. Sie ließ es bewegungslos mit geschloßnen Augen geschehn. Als er niederkniete, um ihre Schuhe zu entfernen, und er von unten in das fieberglühende Gesicht sah, das schlaff auf den Busen herunter hing, überkam ihn aufs neue der wilde Schmerz. Er warf die Schuhe hin und umschlang knieend und trostlos zu ihr aufsehend die einst so frische, lebensvolle Gestalt.

»Was fällt dir ein? Fritz, du träumst wohl?« sagte sie traurig.

»Gertrud, willst du mir denn nicht mehr glauben?«

»Ach, ich bin so schwach und krank; vielleicht ist nur meine Krankheit an alledem schuld, und dann wollt' ich's schon tragen, dann ging's auch wohl vorüber.«

»Glaube mir, es ist nicht mehr. Du hast Fieber und siehst irre. Gib unsern Kindern Gute Nacht und schlafe. Ich werde bei dir wachen.«

»Du wirst wachen? Weißt du noch, als du zuerst wachtest und ich auch nicht schlief, wie ich heute nicht schlafen werde? Ich war auch krank und litt viel, – weißt du noch? Aber so werden wir heute nicht wachen. Wie doch so alles vorübergeht, und das Schöne, Liebe am allerschnellsten. Gehe du nur auch zu Bett, ich wecke dich, wenn es sein muß. Damals sprachen wir trotz meiner Schmerzen viel, aber was sollten wir heute sprechen?«

Der kleine Richard langte an ihr hinauf. Sie küßte ihn, hielt ihn so von sich ab, daß sie ihn betrachten konnte, und küßte ihn dann nochmals innig.

Christian, der die ganze Zeit in der Lieblingsstellung seines Vaters, mit vorn gekreuzten Armen, am Tische gestanden hatte, trat heran und sagte ihr mit ungewöhnlicher Bewegung: »Du bist sehr gut, Mutter, ich habe dich mehr lieb als du weißt!«

Gertrud sah ihn einen Augenblick ebenso erstaunt an als Hennings, dann zog sie ihn lebhaft an sich und sagte, mit dem feinen Gefühle der Kranken die Stimmung des Knaben erkennend, »es hat dich auch niemand so lieb als dein Vater und ich; gute Nacht, mein liebes, liebes Kind!« Sie küßte ihn auf Mund und Augen und gab ihn sogleich in Hennings Arme, der ihn, obwohl dem Dringen seiner Frau nur mechanisch folgend und ohne sie ganz zu verstehen, ebenfalls küßte. Nun ließ sie sich zu Bett bringen, drückte ihrem Manne, der seinen Mund an ihre feuchte Stirn preßte, mit einer gewissen Scheu die Hand und schien bald zu schlummern, wenn es Hennings auch scheinen wollte, als sei ihr Schlaf mehr eine dumpfe Bewußtlosigkeit, eine Regungsunfähigkeit von großer Erschöpfung herrührend, als eine erquickende Ruhe.

Christian versuchte sein Rollbette selbst hervor zu ziehn und schien zum erstenmal durch das Bewußtsein seiner Hilfsbedürftigkeit zu leiden. Es standen ihm dicke Thränen in den Augen, als er den Vater bitten mußte, ihm zu helfen, auch setzte er mit einem gewissen Trotze hinzu: »Aber, bitte, thue es leise, damit die Mutter nicht erwacht.« Richard war nicht eher zu beruhigen gewesen, bis er einen Platz neben der Mutter bekam. Die Bedingung, die Kranke nicht durch enge Berührung zu stören, erfüllte und umging er zugleich dadurch, daß er vorsichtig zwei seiner kleinen Finger auf ihren Arm legte. In dieser Stellung und vielleicht im Nachdenken darüber, ob dies eine enge Berührung sei, schlief er ein und war wohl die einzige der vier Personen, die keinen Groll, keinen Kummer und keinen nachhaltigen Schmerz für den nächsten Morgen bewahrte. Denn auch Christian weinte noch lange Zeit und suchte sein Schluchzen unter der Decke zu verstecken. Es ging etwas in dem Knaben vor, seine Thränen waren weder von Rührung noch Schmerz erpreßt, sie bedeuteten Kampf und Krampf. Er schlief unruhig und kam wiederholt an das Bette der Mutter heran und sah nach, ob sie ihre Stellung verändert; dann legte er sich ohne des Vaters Frage, was er wolle? zu beantworten, wieder in seinen Kasten nieder.

Hennings verschanzte die Lampe so, daß das Bett ganz im Schatten lag, und nahm ein Buch. Er las mechanisch Buchstaben für Buchstaben, ohne am Ende der Seite ein Wort von dem zu wissen, was er gelesen. – Man kann im Sitzen denken, wenn man fährt, man kann es, wenn uns Krankheit an einen Ort fesselt, aber eine lange Zeit nur um jedes Geräusch zu vermeiden, gesund, wach und nachdenkend an einem Platze zu sitzen, das ist eine Folter. Man sucht unwillkürlich die Bewegung auf und will den Körper mit den Gedanken zugleich spazieren führen, es liegt eine Befriedigung darin, den Schritt beschleunigen zu können, wenn das Sinnen sich erhitzt, und es ist eine Erleichterung, gleichsam ein räumliches Hinauskommen aus einem finstern Traume möglich, wenn man sich Herr seines Körpers fühlt. Im Sitzenmüssen aber liegt eine Lähmung für heitre Phantasiebilder, und für düstere eine furchtbare, grenzenlose Steigerung. Sie engen die Brust ein, und man kann ihnen nicht entfliehn; nach und nach scheinen die Glieder paralysiert, abgestorben, lästig, – zu dem allem, was den Gedanken niederhält, kommt noch eine Art von Alp. Dies Gefühl ist so auflösend und vernichtend, daß es dem eines Scheintoten gleichen mag, der im Starrkrampfe alles genau hört, was um ihn her gesprochen wird, der alle Anstalten zu seinem Begräbnisse treffen sieht und keinen Laut, kein Zucken, ja nicht einmal einen Hauch findet, um sich vor dem entsetzlichen Schicksale zu bewahren, lebendig dem Grabe zu verfallen. – So war Hennings Lage eine schreckliche. Er konnte nicht lesen, er konnte aber auch nicht denken; er konnte nicht hoffen und konnte doch auch niemand so verdammen, daß ihm diese Verurteilung eine Genugthuung gewährt hätte. Was geschehen war, hatte hundertmal gespielt ohne dauernde Folgen zu haben. Hier waren es die Verhältnisse, die eigne Disposition, die das, was sonst nur eine allgemeine Verdammung verdient hätte, zu einer verderblichen Spitze machten, die so recht ins Herz seines Familienlebens gestoßen wurde. Er verzweifelte nicht an der Heilung, aber einmal fürchtete er auch im besten Falle die Narbe, und zweitens mußte er sich sagen, daß er nicht so rein, nicht so ohne Schuld sei, um die Heilung der moralischen Wunde wesentlich zu fördern. Er hatte nichts gethan, was schlecht war, aber er hatte unterlassen, was gut war, er hatte seine kranke Frau vernachlässigt und durch immerwährende, von ihm unbeachtete Gemütsbewegungen ihren Zustand zu einer Spannung kommen lassen, der jene Szene mit dem Grafen weit über ihre ursprüngliche Tragweite hinaus gefährlich machte. Er konnte sich's nicht ableugnen, daß er sogar schuldiger als Hugo, denn dadurch, daß er – freilich ohne direkte Schuld – Veranlassung zu den Beziehungen gab, die Gertrud ausgesprochen, war die Kränkung erst recht intensiv geworden. Entschuldigt war aber die Barbarei, mit der ein Reitknecht sich's vor den Augen seines Herrn heraus zu nehmen wagte, eine Frau anzutasten, dadurch immer nicht. Ohne diesen »Herrenspaß« hätte die Umkehr, zu der ihn die heutige Debatte mit Cecile trieb, das Wiederfinden seiner Würde, die er sich von dem schönen Mädchen spielend hatte entwinden lassen, alles wieder ins Geleise bringen können … So kämpfte in ihm Selbstanklage und Drang sich zu rechtfertigen. Er floh vergebens aus dem Bereiche des einzelnen Falles, er versuchte umsonst durch eine Darstellung der allgemeinen Verhältnisse, die einen solchen Konflikt möglich gemacht, sein Brüten auf ein anderes Feld zu bringen. Umsonst! Die Macht des Traumes war gebrochen durch die Wirklichkeit, die Farben verwischt durch die Gestalt, durch die Form. Er konnte sich nicht entrinnen. Trost ist Unsinn oder Beleidigung, und die beste Doktrin paßt immer auf alles, nur nicht auf den konkreten Fall. – Er litt und büßte in dieser Nacht schwer und geriet selbst in ein Fieber, dessen rasende Bilderjagd sich auf der einförmigen Pendelbewegung der Schwarzwälder Wanduhr wiegte und mit Tick und Tack taktmäßig an seine Schläfe hämmerte. Als ihn endlich der Morgen erlöste, war er stumpf und verfallen. Es war in der That keine Nachtwache gewesen wie jene, von der Gertrud sprach, jene, in der sie die Geburt ihres ersten Kindes erwarteten.

In Gertruds Zustand hatte sich nichts geändert, ein erschöpfender Schweiß machte sie noch hinfälliger, sie war kaum imstande, die Arme zu bewegen. Als sie den Wunsch äußerte, sich aufzusetzen, und zu diesem Zwecke das Unterstopfen eines Kissens verlangte, Hennings aber im Augenblicke erst etwas aus der Hand legen mußte, schwang sich Christian auf das Bett und brachte es mit Anstrengung all seiner Kräfte dahin, daß wirklich der Dienst schon geleistet war, als der Vater kam; ebenso rasch brachte er der Kranken ein Glas Wasser, kurz seine Bemühungen, der Mutter die Handleistungen des Vaters so entbehrlich als möglich zu machen, waren im höchsten Grade auffallend und wurden von Gertrud mit einer gewissen Ängstlichkeit überwacht. Hennings dagegen schien sie nicht zu bemerken oder fand doch nicht das darin, was die Kranke darin suchte.

Gegen Mittag kehrten die Kräfte einigermaßen wieder, und Gertrud verlangte mit der derartigen Kranken eigentümlichen Unruhe und Ungeduld aufzustehen. Nur mit Mühe konnte sie überredet werden, nicht nur im Bette, sondern auch müßig zu bleiben.

»Du bist so krank, daß ich es für meine Pflicht halte, einen Arzt aus der Stadt kommen zu lassen. Ein Versehn könnte deinen Zustand nur verschlimmern.«

»Einen Doktor? Der ist teuer und wir sind so arm. Glaubst du, daß ich das Geld meiner Kinder anrühren lasse? Hättest du Spinnräder gemacht, ja hättest du die hübsche Elfenbeingruppe noch, die mir so lieb war, aber alles, alles blieb im Schlosse, alles was mich gesund machen könnte …«

Hennings' Gesicht bot einen gräßlichen Anblick. Die fixe Idee seiner Frau, die all jene Milde, die ihr sonst eigen war, vertilgt zu haben schien, jetzt auch noch in dieser rauhen Weise angewendet, beschwor alle Furien seiner Heftigkeit herauf und die Gewalt, die er der Kranken gegenüber gegen sich anwenden mußte, verzerrte alle seine Muskeln. Er war dunkelrot, und nochmals im Innersten verwundet, warf er sich an dem Bette nieder und stierte die Frau an … Sie las auch in seinem Gesichte und sagte, indem sie leise ihre Hand auf seine Haare legte: »Hab' ich dir weh gethan? Und ich sagte doch nur die Wahrheit. Wie lang aber wühlst du schon in meinem Herzen, und es wollte noch immer nicht brechen. Es bricht auch jetzt noch nicht, wenn du nie, nie mehr dort …« Sie machte mit Abscheu eine Bewegung nach der Gegend des Schlosses. »Ich werde wenigstens den Kindern etwas sein, wenn auch dir nicht mehr.«

Hennings weinte, weil er keine Worte fand.

»Ich werde mich erholen, selbst arbeiten, und wenn du fleißig bist und mir hilfst, werden wir auch eignes Geld für den Doktor haben, wenn wir ihn brauchen.«

Grade die Einfachheit, mit der sie sprach, war es, die aus jedem ihrer Worte einen Dolch machte. Sie sprach immer schlicht und mit einer gewissen kindlichen Innigkeit, jetzt aber schien es ihrem Manne, als bedeute diese Weise mehr. Sein Herz blutete, aber er sah ein, daß es im Moment, und solang' sie so heftig krank war, keiner Macht gelingen würde, ihren Glauben zu zerstören. Er mußte sich darein finden, er mußte es tragen, wenn er nicht neue aufregende Szenen und damit neue Gefahr herbeiführen wollte. Er hoffte dagegen, sobald ihre Kräfte sich nur einigermaßen gehoben, ihr mit einer einfachen Erzählung den Beweis zu liefern, daß sie im Irrtume sei, und dadurch, durch die Freude, die ihr seine Unschuld machen würde, mächtig auf ihre Genesung einzuwirken.

Gegen Abend trat wieder Fieber mit einer Anwandlung von Delirium ein, die abgezirkelt roten Kreise auf ihren Wangen brannten, sie klagte über lästige Hitze in Handtellern und Fußsohlen und verlangte durchaus an die Luft gebracht zu werden, da sie in der Stube, durch Hitze und Beängstigung ein immerwährendes Flirren vor den Augen, ein Spiel von Millionen glühender Mücken aushalten müsse.

Kaum hatte sie sich mit Hilfe ihres Mannes und der Magd angezogen, um sich in den Garten zu setzen, als ein unerwarteter Besuch kam. Christian führte den Kapelan, der einem kleinen, runden Herrn in einem roten Rocke den Vortritt ließ, in die Stube und lief mit dem Rufe: »Da ist der Doktor!« auf seine Mutter zu.

Er hatte das Gespräch seiner Eltern, worin der Elfenbeingruppe Erwähnung geschah, angehört und erinnerte sich genau, daß Hennings früher erzählt, das Geschäft mit den Statuetten sei noch nicht abgeschlossen, da er sie nur als Geschenk aus den Händen geben und die Gräfin sie so nicht nehmen wolle. Hierauf hatte der Knabe seinen Plan gegründet. Es war unzweifelhaft, daß die Mutter in den Verkauf der Schnitzerei zur Bestreitung der Kurkosten willigte, sonst hätte sie nicht daran gemahnt. Sobald er sich hierüber klar geworden, machte er sich auf und ging mit der ihm eignen Unbefangenheit ins Schloß hinauf; die Leute, die ihn schon kannten, wiesen ihn zum Kaplane, nach dem er fragte, und von diesem wieder ertrotzte er durch seine kategorische Forderung, daß er sogleich zu Gräfin Cecile geführt wurde. Sie erinnerte sich seiner vom Friedhofe her und würde den Sohn des Drechsler Hennings auch ohne die Vorstellung durch den Kaplan erkannt haben.

»Nun, warum kommt dein Vater heute nicht? Ist deine Mutter wieder krank?« fragte sie ihm lebhaft entgegen. »Schickt dich dein Vater?«

»Mein Vater kommt nicht mehr zu dir«, sagte der Knabe, ihr voll ins Gesicht sehend, »und meine Mutter ist sehr krank, weil dein Bräutigam sie gemißhandelt, und der Vater ihr weh gethan hat. – Ich aber komme zu dir, weil ich will.«

»Bursche, du sprichst zwar eine verzweifelte Naht zusammen und verdientest mit Herrn Kloppstock Bekanntschaft zu machen, außerdem lügst du auch, wenn du sagst, ich habe deine Mutter gemißhandelt, denn ich habe nur mit ihr gescherzt, also ist dein Vater wahrscheinlich mehr schuld als ich …«

»Das glaub' ich auch!« sagte Christian, der vorher gar keine Notiz von dem Grafen genommen hatte, obgleich er dicht neben Cecile stand. »Aber ich lüge nie.«

»Meinst du wirklich? Du bist ja ein kleiner Teufelskerl, Junge, – die Sache ist die, daß es mir leid thut, wenn deine Mutter irgendwie durch mich gekränkt worden ist, und daß ich's gern übernehme, sie wieder gesund machen zu lassen, wenn es irgend geht. Das Leid, das ich ihr angethan habe, läßt sich jedenfalls reparieren.«

»Ich will einen Doktor, aber nicht von dir. Zu dir komme ich nicht.«

»Also zu mir? Sage nur endlich, was du willst.«

»Ich hätte gar nichts weiter gesagt, wenn ihr nicht immerfort fragtet.«

»Wie jammerschade, daß das Menschlein so winzig ist und wohl kaum dem Kaplan über den Kopf wachsen wird, was gäbe das für einen resoluten Soldaten.«

»Werdet ihr mich nun bald anhören, statt über mich zu spotten, weil ihr alt und lang seid, ich aber jung und klein?

»Ja, ja, rede nur!«

Christian ging an einen kleinen ausgelegten Tisch heran, auf dem die Arbeit seines Vaters stand, deutete mit dem Finger darauf und sagte: »Mein Vater will dir das schenken, du willst es kaufen. So bekommst du es nicht, – aber du kannst es doch behalten, ohne dem Vater Geld dafür zu geben: schicke der Mutter einen Doktor, der sie gesund macht. Das kostet Geld, und wir haben keins, denn der Vater war nicht fleißig, und die Mutter will sich für das, was Richard und mir gehört, nicht gesund kaufen.«

So konfus die Worte des Knaben auch für die Zuhörer waren, leuchtete es Cecile doch ein, daß er durch sie einen Arzt verlange, aber so wenig wie sein Vater etwas geschenkt haben wolle.

»Dein Vater war sogar sehr fleißig, aber er wollte vor Beendigung seiner Arbeit weder einen Preis machen noch Geld nehmen. Ich will dir, denn du bist ja so klug, daß du es gewiß nicht verlieren wirst, Geld als Abschlagszahlung mitgeben und außerdem gleich einen Reitenden nach der Stadt um den Doktor schicken. Über die Schnitzerei spreche ich schon noch mit deinem Vater. Schreiben Sie doch gleich, Kaplan, an Dr. Vermilio und schicken Sie einen Reitknecht damit ab. – Du bist deiner Mutter wohl sehr gut?«

»Ja, seit der Vater den ganzen Tag im Schlosse war und uns allein ließ, und seit gestern erst recht. Kommt der Doktor aber auch gewiß?«

»Er wird nachmittags, spätestens fünf Uhr hier sein. Bist du zufrieden, kleiner Sicherheitskommissarius?«

»Gut. Jetzt geh' ich wieder, aber du mußt mir die Thüre aufmachen, ich bin ja so ›winzig‹, wie dein Bräutigam sagt.«

»Nimm nur zuerst das Geld für deinen Vater.«

»Nein, ich kam nur um den Doktor zu verlangen.«

»Aber so sieh dich doch wenigstens hier ein wenig um, Junge, so habt ihr's bei euch doch wohl nicht; und willst du nicht ein Stück Kuchen haben?«

»Ich will nichts, gar nichts von euch. Für den Doktor hast du die heilige Cäcilie, wir brauchen also nicht zu danken.« Und der Knabe sah in der That nur die Thüre an, als fürchtete er von den Bildern an den Wänden und den hundert andern ihm fremden Dingen im Auge etwas mitzunehmen, wofür er am Ende doch danken müßte.

Hugo öffnete ihm die Thüre und rief ihm noch nach: »Warte nur, kleine Range, du wirst schon noch gezähmt werden. – Das ist ja eine verzweifelte Brut. Der Vater nimmt sich Freiheiten gegen dich heraus und will dir gar Geschenke machen, die Mutter wird ohnmächtig, weil ich sie anrühre, als wäre sie eine verzauberte Prinzessin und die Majestät in ihr beleidigt worden, und der Bengel endlich benimmt sich mit einer Keckheit, die zu komisch ist, als daß man ihn, wie er's verdient, zur Thüre hinauswerfen könnte.«

Wir wissen nicht, ob Graf Hugo durch diese Bemerkungen oder einen andern glücklichen Zufall der Gardinenpredigt entging, die Cecile für ihn in petto hatte, – wenigstens hatte sie weder über den Knaben noch über Hugos Zusammenstellung gelacht. Der Konflikt mit Hennings war ihr überaus unangenehm und sie war überzeugt, daß er sich nur schwer würde ausgleichen lassen.

Christian war nach Hause gegangen, hatte es über sich gewonnen zu schweigen und die Uhr zu kontrollieren, die ihm heute merkwürdig langsam zu gehn schien. Nach vier Uhr verließ er das Zimmer und stellte sich auf die Lauer. Kaum sah er endlich, nachdem doch wohl noch mehr als zwei Stunden vergangen waren, also seiner Ansicht nach eine Lüge der Gräfin vorlag, einen Herrn in Begleitung des Kaplans vom Schlosse herunterkommen, als er ihm entgegenlief und kurz fragte: »Sind Sie der Doktor?«

»Ja, mein Junge!« antwortete das behäbige Männchen und ließ sich nun nebst seinem neugierigen Begleiter den Weg weiter zeigen.

So kam es, daß plötzlich Herr Vermilio, medicinae Doctor, nebst Herrn Ambrosius Feigenblatt, Baccalaureus liberarum artium und Schloßkaplan zu Hehlenried, die kleine Wohnung des Drechsler Hennings mit seiner Gegenwart beehrte.

Der Doktor war ein in seiner Art berühmter Mann und namentlich als Frauenarzt weit und breit in den höheren Kreisen beliebt. Er war hochbejahrt, galt für höchst diskret und hatte zu viele Proben seiner Geschicklichkeit abgelegt, als daß jemand gezweifelt hätte, ein anderer als er sei im Besitze des möglichsten Lebensverlängerungselixiers. An seinem Äußeren war noch viel aus jener Zeit, wo die Arzneikunde nicht bloß eine halbe Charlatanerie war. Und es liegt in dem Gedanken, der dahin geleitet, nichts so ganz Unrichtiges. Bei jener Heilmethode durch ewiges Aderlassen und Purgieren nebst vielem unnützen Pflastern und großem Latwergengebräu mußte der Glaube, die Superstition doch ein übriges thun. Reell und sinnig war nur die Chirurgie, wie sie bis heute noch der einzige Zweig der medizinischen Wissenschaften geblieben ist, deren Wesen fern von aller Charlatanerie und auf den Glauben berechneter Gaukelei Bestimmtes versprechen und leisten kann. – Dr. Vermilio trug einen roten Rock mit blanken Knöpfen, kurze Hosen und weiße Strümpfe. Seine runde Perücke war gepudert, in der Busenkrause steckte eine große Brillantnadel, die er einst für eine Wunderkur an einer polnischen Fürstin bekommen, – eine Geschichte, die er sehr gern erzählte, – aus der Seitentasche seiner langen Schoßweste, die sich nur mühsam über dem portativen Globus seines Bauches schloß, sah neben einer dicken goldnen Uhrkette mit Breloques verschiednen Kalibers eine große goldne Dose, ebenfalls ein von der Dankbarkeit gewidmetes pretium affectionis, und in der Hand wiegte er einen schönen Rohrstock mit schwerem, goldnem Knopfe. Fügen wir hiezu ein rundes, rotes Gesicht mit freundlich pfiffigen Augen, einer Burgundernase, einem etwas breiten, leicht beweglichen Munde und einem Doppelkinne, alles unter einem kleinen, an den Seiten aufgekrempten Hütchen, so haben wir eine Gestalt, die nach allen Regeln der Kunst den Kranken Vertrauen einflößen mußte. Das Männchen hatte sich selbst zu gut erhalten, als daß es nicht auch andere konservieren konnte. Sein Auftreten war durch eine Mischung von jener Bonhommie, die wir fast immer bei thätigen Menschen finden, die sich eines gewissen Wohlstandes erfreuen, und echtmedizinischer Rücksichtslosigkeit bezeichnet. Seine Erfahrungen über die »Hinfälligkeit des Menschen« mit oder ohne Wappen, mit oder ohne Renten, seine genaue Bekanntschaft mit dem großen Nivelleur Tod gaben ihm auf der einen Seite eine gefühlte Überlegenheit, die sich vornehmen Herrschaften gegenüber oft in kleinen Schikanen und Plackereien äußerte, während er anderseits für Arme eine ganze beispiellose Milde und Gefälligkeit hatte – wenn er eben guter Laune war. Man sagte ihm zwar nach, daß seine Armenpraxis eine Art von Hospital- oder Experimentalpraxis sei und daß er sich für seine unentgeltlichen Studien bei ihrer weiteren Anwendung hinlänglich entschädigen ließe, aber es unterlag doch keinem Zweifel, daß er oft in Hütten wie in Palästen mit dem Nimbus eines Retters erschienen war und daß sein roter Rock, obgleich genäht und nicht tausend Jahre alt, schon viele Wunder gewirkt.

Diesmal brachte er zum Unglücke den Kaplan mit und hatte dadurch Gelegenheit seine einzige große Untugend, eine wahre Uhrwerksgeschwätzigkeit in Gegenwart des Kranken und seiner Angehörigen, auszukramen.

Hennings ging den Herren entgegen und fragte in natürlicher Überraschung, was sie hierher geführt? Er dachte daran, daß Cecile das Kommen des Arztes veranlaßt und war überzeugt, daß eine Silbe davon genügen würde, Gertrud aufs neue heftig anzugreifen. Aber ehe Dr. Vermilio, der eine Prise nehmend zwei Schritte von der Thüre entfernt die Stube musterte, oder der Kaplan antworten konnte, trat Christian wieder vor und erklärte, er habe den Doktor verlangt und würde hernach schon erzählen wie.

»Ja, ja«, sagte der dicke Mann im roten Rocke, »wir haben viel über den kleinen Burschen gelacht. Ihr habt einen braven Jungen, Meister Hennings … so heißt Ihr ja wohl? Ich bin auf seine Ordre hier und braucht Ihr für Kosten etc. etc. keine Sorge zu tragen. Alles in Ordnung! Auch ohne die hohe Gönnerschaft, derer Ihr Euch rühmen könnt.«

»Erlauben Sie mir Herr Doktor, daß ich doch vorher …«

»Laßt es nur jetzt«, sagte Vermilio gemütlich, »wir wissen, daß Ihr ein sonderbarer Kauz seid, haben im Schlosse von Euch gehört, werdet aber doch darum Eure Frau nicht ohne Hilfe lassen wollen? He? Sind auch wie Ihr arm gewesen, sind es jetzt nicht …« er spielte mit den goldnen Breloques seiner Uhrkette, »wissen Eure Delikatesse zu schätzen, aber ist ein eignes Ding um den Arzt, sehr eigen. Der Arzt ist eine Art Gottgesandter, ein Engel –.« Er wie die Umstehenden mußten trotz der Spannung, die auf ihnen lag, und trotz der Feierlichkeit, mit der er sprach, beim Anblick seiner kurzen, kugligen Gestalt über den Vergleich lächeln. – »Ja wahrhaftig eine Art Engel unter den Menschen, der Leben bringt von oben und durch das Auflegen der Hände gesund machen kann, – wenn es nämlich die Natur des Menschen erlaubt. Die Gesundheit läßt sich nicht bezahlen, Ihr dürft mich also nicht fortweisen, weil Ihr nicht zahlen könnt. Ich schenke Euch auch nichts, ich thue nur, was Pflicht und Gewissen dem wissenden Manne auflegen, und will darum, daß Ihr mir vollständig freie Hand laßt.«

Ob er diese Lehre überall anwenden wollte, oder ob er sie überhaupt im stillen mit einem Rückblicke auf die hohe »Gönnerschaft« versah, kann nicht verbürgt werden, auch machte trotz des freundlichen Gesichtes die überflüssige Emphase auf den Drechsler keinen Eindruck, und dieser war in seiner Störrigkeit immer noch bereit seinen Platz zwischen dem Arzte und der Kranken zu behalten, bis ein fester Kontrakt ohne jede Zweideutigkeit abgeschlossen worden. Gertrud saß mit einer überraschend gleichgültigen Miene dabei und sah aus, als kümmere sie die ganze Verhandlung nichts.

Unterdes war der Doktor mit seiner Inspektion des Zimmers fertig geworden und wiegte zum Zeichen seiner Zufriedenheit mit dem Kopfe auf und ab. Dann nahm er eine neue Prise Spaniol, die er vorn übergebeugt mit großer Vorsicht in die Nase praktizierte, schob die Dose in die Tasche, schlug die Manschette an der rechten Hand zurück und hob den Stock mit der linken Hand zur Höhe des Kinnes empor. Jetzt erst fand sich die rechte Amtsmiene ein, und mit zusammengezognen Brauen und vorgeschobnen Lippen sagte er: »Einen Stuhl, Meister Hennings!«

Der Drechsler gehorchte unwillkürlich und gab dadurch den Raum zur Kranken frei, den der Doktor sofort einnahm. Er zog sich den Stuhl bequem heran, bedeutete den Kaplan, sich neben ihn zu stellen, und sagte mit unendlicher Gewichtigkeit: »Thun wir unsre Pflicht!« Dann zu der Kranken gewendet: »Liebe Frau, Ihr seid nicht wohl, wo fehlt's?« – »Überflüssige Frage«, sagte er zum Kaplan halblaut, »müßte ein Stümper sein, und das ist Dr. Vermilio nicht, wenn ich die Diagnosis nicht beim ersten Anblicke dieses casus fertig hätte, aber muß der Kranken Mut machen und zu Ihrer Belehrung, – denn es ist ein casus criticus, – alle Symptomota gründlichst eruieren.«

»Überall, ich bin matt und schwach!« sagte Gertrud.

»Das ist's. Kein örtliches Leiden?«

»Nein, überhaupt keinen Schmerz, aber wie eine Lähmung aller Glieder.«

»Und schon seit langer Zeit?«

»Seit mehreren Monaten, seit mein jüngstes Kind wenige Tage nach der Geburt starb.«

»Ah! Sehr jung geheiratet, eins, zwei«, er deutete zählend mit dem Stocke nach den Anwesenden, – »drei Kinder, selbst gestillt, – gar nicht wunderbar! Eine Amme hätte sehr gut gethan, sehr gut. Zartes Geschöpf, viel Arbeit, ja, das ist's eben. Weiter also, liebe Frau, bejaht oder verneint nur, was ich frage. Ich will Euch die Mühe des Sprechens ersparen. – Gegen Abend fiebröse Exacerbation … will sagen Hitze, Unruhe, Aufregung, kurz ein allgemeines krankhaftes Gefühl? Etwa, wie jetzt, fadenförmiger Puls …« er fühlte ihr den Puls und sagte dem Kaplan: »Da, da, mit dem Finger zu zerdrücken, fühlen Sie, das ist bezeichnend!« Dann fuhr er in seinem Examen fort. »Zunge … rein, ohne Belag, – etwas trocken, nicht wahr? … Kleine Störungen im chylopoëtischen Systeme, will sagen in der Verdauung? Unbehaglichkeit während der Digestion? Hm, hm! Remissionen in der Nacht, Schlaf ohne eigentliche Erquickung, Kolliquationen durch die Haut, will sagen starke Schweiße, die Euch angreifen, so daß Ihr des Morgens erst einige Erholungsstunden braucht, ehe Ihr die Schwäche überwindet? Gelähmte Energie des motorischen Nervensystems gabt Ihr schon an. Ist Euer Geist rege, habt Ihr Delirien? Ja so, lieber Meister, das müßt Ihr mir beantworten, sind wir bereits in dem Stadium des Delirierens, d. h. hat Eure Frau Vorstellungen, die keinen Zusammenhang mit der Wirklichkeit haben, glaubt sie Dinge zu sehn, die kein anderer bemerkt?«

»Bis auf eine Art von Mückenspiel vor den Augen …«

»Ah, ah, immer besser. Das wollt' ich nur hören. Deliria muscitantia. Damit sind wir fertig, die Kranke hat alles bejaht, Domine, wir fügen durch eignes Anschauen und Untersuchen, frequenten, kleinen, zitternden Puls hinzu, ebenso: abgeschnittne Röte, trockne Zunge und trockne Hitze in den Händen. Nun ist es leicht lege artis den Namen für die Krankheit zu finden.« Er setzte sich zurück, rieb wiederholt seine Nase mit dem Stockknopfe und fixierte den Kaplan, dann sagte er, jede Silbe scharf accentuierend: »Die Kranke leidet seit ihrer letzten Niederkunft an einer febricula depascens, seu febris nervosa lenta. Köstlicher Name das, febricula depascens, so bezeichnend, o, es ist eine große, schöne Sache um die Wissenschaft! Diese febricula, die ihrem Wesen nach schleichend ist, hat durch gemütliche Affektion einen Stoß erhalten, der sie mit Gewalt in das äußerste Stadium drängt, die Prognosis ist also, wie immer – – pessima, Domine, pessima! Was ist zu thun? Ehrlich gestanden, lieber Kaplan, bin ich kein Freund der bisher üblichen Methode den ganzen antiphlogistischen Apparat in solchem Falle in Anwendung zu bringen. Es ist sichtlich kein Aderlaß indiziert; Digitalis, solutio Tartari stibiati, sulphur aurat. nützen nur scheinbar und resolvierende Kräuter, Chelidonium, Taraxacum etc. sind purer Streusand. Die Krankheit liegt in einem Schwinden der Kräfte; was gethan wird, muß also dahin zielen, die Kräfte zu mehren. Wir verschreiben plumbum aceticum gegen die Kolliquationen, Caragaheen oder Lichen islandicum zum Tranke und verordnen außerdem mit Rücksicht auf die Vermögensverhältnisse der Kranken zwar weder Schildkröten noch Wildbret, obgleich wir ihr das letztere zu verschaffen wissen werden, aber doch Ziegen- und Eselsmilch, kräftige Fleischsuppen, Schneckenbrühen und vor allem – hören Sie das, lieber Meister Hennings, – Entfernthalten jeder Gemütsbewegung. Andere Vorschriften, die zu geben nötig wären, sind bei dem jetzigen Zustande der Kranken als von selbst verboten, überflüssig. – Wir schicken Euch das Nötige morgen früh, bis dahin haltet Zugluft und dergleichen von der Kranken fern und gebt ihr nur Milch!«

Die Gegenwart des Kaplans hatte ihn zu einem förmlichen Vortrage über die febricula depascens hingerissen, auch der Laie konnte sie jetzt vorkommenden Falls nicht verkennen. Als er sich am Schlusse der Rede erhob und somit das Katheder verließ, kehrte auch seine reinmenschliche Teilnahme zurück, und obgleich die Blicke der Kranken stumpf geblieben waren, und er nur für den Kapelan und in der Übersetzungs- und Interpretations-Paranthese für Hennings gesprochen und erklärt hatte, vergaß er doch nicht der Kranken jetzt die Versicherung zu geben, daß sie durch nahrhafte Kost und Vertreibung des Fiebers sowie der erschöpfenden Schweiße bei großer Ruhe nach und nach wieder Herrin ihres Körpers werden würde.

Sie dankte ihm, und Christian, der fühlte, daß er in diesem Drama eine Rolle übernommen, ging ebenfalls an den Arzt heran und gab ihm die Hand.

»Nun, du kleiner verzweifelter Bursche, bist du mit mir zufrieden?« sagte Dr. Vermilio.

»Die Mutter ist noch nicht gesund!«

»Das geht auch nicht so rasch. Was Monate verdorben haben, kann nicht in einer Viertelstunde gut gemacht werden. Du mußt den Arzt nicht allein nach dem beurteilen, was er leistet, sondern auch nach dem, was er aufhält und verhindert, mein Junge. Eine hübsche Sache, meine Kunst, nicht wahr?« Und er hielt dem Knaben den prächtigen Stockknopf vor die Nase, als wollte er ihm dadurch einen rechten Begriff von seiner Kunst geben.

»Werden Sie mir nun, nachdem ich mich in alles gefügt und Ihren Bemühungen nichts in den Weg gelegt, endlich sagen, wie wir zu Ihrem Besuche kommen und in welcher Weise Sie die Entschädigung dafür wünschen? Ich bin in der Welt nicht so fremd, daß ich nicht wüßte, die Arzneikunde sei so gut wie jedes andre »Gewerbe« eine Kapitalsanlage, die andre Interessen bringen muß als den Dank geretteter Menschen. Ohne dies wären Sie auch nicht, wie Sie vorhin bemerkten, arm gewesen.«

»Wir haben nur mit dem kleinen Burschen, Eurem Sohne zu schaffen«, sagte der Doktor mit vielem Humor, »und sind darum Euch darüber keine Rechenschaft schuldig. Ihr werdet gestehn müssen, daß es dem Knaben wohl ansteht, so früh schon für seine kranke Mutter zu sorgen. Ihr habt ein sehr braves Kind.«

Übrigens winkte der Arzt dem Drechsler ihn hinauszubegleiten. Draußen stellte er sich wieder mit der Amtsmiene vor ihn hin und sagte: »Ich sah französische Bücher bei Euch, könnt Ihr auch lateinisch?«

»Nein!«

»Dann will ich Euch etwas sagen, damit Ihr auch auf das Wahrscheinliche, Schlimmste vorbereitet seid. Depascere heißt abweiden, febricula depascens nennen wir ein Fieberchen, das seinem Auftreten als Fieber nach äußerst unbedeutend scheint, aber nach und nach die besten Kräfte ab-wei-det. Der Organismus strengt sich immer mehr an thätig zu bleiben, daher in den Remissionen der Schweiß, aber alles, was er hervorbringt, weidet das Fieberchen Tag für Tag ab. Gelingt es, die Produktion der neuen Kraft nachhaltig über die Gewalt des Fiebers zu spannen, so haben wir gesiegt, aber das geschieht selten, das Fieber wächst in der Regel gleichmäßig mit der Kraft, und zuletzt tritt allgemeines Erschlaffen aller Organe und der Tod durch prostratio virium, Aufhören aller Lebensfähigkeit, ein. Das laßt Euch gesagt sein. Die Krankheit ist zu lang vernachlässigt, die Inklination durch den Körperbau bedingt, der Ausbruch durch rasche Folge der Entbindungen und Stillen der Kinder in geschwächtem Kräftezustande sowie durch geistige Aufregung gefördert worden … Ihr müßt Euch darein finden, wir thun, was wir können, aber viel Hoffnung hab' ich nicht.«

Damit gingen sie und ließen den Drechsler, der sich an die Mauer des Hauses lehnen mußte, halb vernichtet stehn.

Ihm schien nun der rote Doktor ein Henker und der schwarze Kaplan, der die ganze Zeit nicht eine Silbe gesprochen und offenbar nur beobachtet hatte, um zu Hause Bericht zu erstatten, ein Leichenrabe.

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