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Fünfzehntes Kapitel.
Wo kriegen wir Kohlen her?

Der Herbstregen, der in einförmigem Grau herniederging, hatte Erkältungsfieber im Gefolge. In den Klassen fehlten Schüler und auch bald Lehrer. Eine Grippewelle flutete über Berlin und verschonte kaum eine Familie.

Peter kam strahlend eine Stunde früher aus der Schule nach Hause. »Unser Alter ist krank – knorke!«

»Aber Peter, wie unehrerbietig«, verwies ihn die Mutter. Denn »unser Alter« war die oberste Schulinstanz, der Direktor. »Schämst du dich denn nicht, Junge, dich darüber zu freuen, daß dein Direktor krank ist?«

»Nee«, meinte Peter mit anerkennenswerter Wahrheitsliebe. »Da fällt morgen Klassenaufsatz aus – prima Sache. Aus unserer Klasse fehlen schon fünfzehn.«

»Ja, die Grippewelle scheint noch im Steigen zu sein. Doktor Ma-wu hat auch heute über Erkältung und Gliederschmerzen geklagt. Er hat sich gelegt. Ich will ihm heißen Tee mit Rum und Zitrone zum Schwitzen bringen.«

»Laß mich, Mutti, ja?« Peter griff nach dem roten Lacktablett, das schon bereit gestellt war.

»Nein, Peter, du kannst dich anstecken.«

»Du dich auch, Mutti. Ich bin so neugierig, wie ein Japaner im Bett aussieht.«

»Du hast ja 'nen Vogel, Junge. Warum sollte denn Doktor Ma-wu im Bett anders aussehen als sonst?«

»Weil er doch keine Schlitzaugen mehr hat, wenn er sie zumacht.«

Frau Felsing lachte und griff nach dem Tablett. »Du gehst nicht zu Doktor Ma-wu hinein, Peter. Ich habe genug an einem Patienten.«

Peter lief hinter der Mutter her, ihr in ungewohntem Diensteifer die Tür zu öffnen. Aber er konnte durch die Türspalte nicht erspähen, ob Doktor Ma-wu im Bett Schlitzaugen hatte oder nicht. Er mußte sich damit begnügen, ein bißchen an der Tür zu horchen.

»Bleiben Sie ruhig in Ihren Kissen liegen, Herr Doktor«, hörte er die Mutter drinnen sagen. Peter lachte. Gewiß hatte der höfliche Japaner der Mutter im Bett eine Verbeugung gemacht.

»Wie geht es Ihnen, Herr Doktor?«

»Oh, sleckt, serr sleckt. Kopf hat Feuer. Rucken hat Kälte. Bein ist verbrocken. Augen drucken.«

»Der scheint mit seinen Schlitzaugen ein Buch zu drucken«, lachte der Horcher an der Tür.

»Soll ich nicht Peter zum Arzt schicken, Herr Doktor?«

»Natürlich, ich bin wieder Schickedanz«, brummte der arg in den Flegeljahren steckende Junge.

»Oh, danke serr, gnädiges Frau.« Die Stimme des Japaners klang heiser. »Werden ick schreiben an Japanarzt Doktor To-ko, ist einer mein Freund. Wird kommen, zu maken mir gesund.«

»Erst trinken Sie bitte den heißen Tee mit Rum und Zitrone, Herr Doktor. Dann werde ich Ihnen noch Decken bringen, daß Sie tüchtig schwitzen. Das ist gegen Grippe das beste Mittel auf deutsch und japanisch.«

»Oh, danke serr. Ick bin serr traurik, zu mussen nehmen in Anspruck gnädiges Frau.«

»Tut nichts. Aber Sie sollen mir nicht immer Verbeugungen machen, Herr Doktor. Wenn man Patient ist, hört die Höflichkeit auf.«

Lautes Lachen klang von der Tür her ins Krankenzimmer. Peter kam der im Bett dienernde Japaner zu komisch vor. Warte nur, mein Junge, du sollst einen Denkzettel für dein Horchen kriegen. Erst aber packte Frau Felsing Decken auf den kranken Japaner.

»Oh, danke serr – danke serr – ick ersticken tot!« rief Doktor Ma-wu kläglich.

»So schnell erstickt man nicht. Jetzt bleiben Sie eine Stunde lang so liegen, Herr Doktor, und bewegen sich nicht«, meinte Frau Felsing in ihrer resoluten Art.

»Werden ick nix bewegen, wenn ick mussen ersticken tot«, versprach der Kranke mit rührender Bereitwilligkeit.

Wieder das Jungenlachen hinter der Tür.

»Ich hoffe Sie in einer Stunde noch lebendig anzutreffen.«

Frau Felsing öffnete energisch die nach dem Korridor führende Tür. Ein lautes »Au!« erklang. So, mein Junge, da hast du deine Beule weg. Ein andermal horche nicht.

Die Grippe hatte den armen Doktor Ma-wu tüchtig gepackt. Trotz Frau Felsings Schwitzkur und der Kunst des Arztes Doktor To-ko erholte er sich nur sehr langsam.

»Der sieht aus wie 'ne japanische Leiche auf Urlaub«, meinte der unverbesserliche Peter, als Doktor Ma-wu in seinem buntblumigen Kimono, den er an Stelle eines Schlafrockes zu Hause trug, zum erstenmal wieder sichtbar wurde.

Auf Renates teilnehmende Frage, wie es ihm ginge, antwortete Doktor Ma-wu: »Oh, swack in Fieße. Aber Frau Mutti hat Sorge um mir wie Sohn. Kockt Suppe mit Huhns und Taubes fur mir. Werden ick sein bald wieder dick.«

Renate mußte lachen. Denn vorläufig sah der Japaner noch wie ein Skelett aus. »Das gelbe Gespenst« nannte ihn Gitta, wenn es Mutti nicht hörte. Das rächte sich. Am nächsten Tag kam Gitta mit Kopfschmerzen nach Hause. Sie behauptete zwar, ganz gesund zu sein, und wollte sich nicht Temperatur messen lassen. Denn am Nachmittag sollte das erste Kränzchen bei Susi stattfinden, wo die Kinder Weihnachtsarbeiten anfertigen wollten. Aber Mutti ließ nicht locker. Und siehe da – Gitta wanderte ins Bett anstatt ins Kränzchen. Denn das Fieberthermometer zeigte fast neununddreißig Grad. Gitta weinte, weil sie nicht zum Kränzchen gehen konnte und eine kalte Packung bekam. »Die Grippe hat mir bestimmt das gelbe Gespenst angedeibelt.«

»Aber Gitta!« Nur das Fieber rettete Gitta vor einer mütterlichen Strafpredigt.

So lag auch Gitta in Betten und Decken verpackt und schwitzte.

»Wer kommt von uns jetzt dran?« Diese Frage warf Peter gemütvoll auf. Er hätte ganz und gar nichts dagegen gehabt, wenn er selbst »derjenige, welcher« gewesen wäre. Er erwog ernsthaft, was angenehmer sei, lateinische Klassenarbeit oder eine kalte Packung.

Die Grippe fragt nicht nach den Wünschen schulfauler Jungen. Peter blieb zu seiner Empörung kerngesund. Dagegen legte sich der Vater, noch ehe Gitta fieberfrei und der Japaner aus der Pflege entlassen war.

Station eins, zwei und drei – von einem Patienten zum andern ging die Mutter in selbstloser Aufopferung. Keins von den gesunden Kindern durfte die Krankenzimmer betreten. Als ob der Grippebazillus an der Tür haltmachte.

Den Vater hatte die heimtückische Krankheit besonders scharf gepackt. Sein Körper hatte durch all die vorangegangenen Aufregungen nicht die nötigen Abwehrkräfte. Er brauchte gute Pflege. Aber selbst das Beste schlägt nicht an, wenn man es mit Sorgen hinunterschluckt. Stundenlang konnte der Vater ohne zu sprechen vor sich hin grübeln. Mußte es denn immer weiter bergab gehen? Gab es denn nirgends eine Möglichkeit, wieder Arbeit zu bekommen und aufzubauen?

Ein ehemaliger Bankkollege, ein Glücklicher, der noch nicht abgebaut war, besuchte ihn. Es tat Herrn Felsing gut, sich wieder mal auszusprechen. Denn seiner Frau, die jetzt so überlastet war, mochte er nicht auch noch die seelische Bürde aufhalsen. Als ob Frau Felsing nicht ebenso schwer daran trug, wenn sie ihren Mann vor sich hin brüten sah.

Der Kollege verstand es, dem Rekonvaleszenten neuen Mut zuzusprechen. »Mensch, Felsing, Sie sind doch ehemaliger Frontoffizier. Haben das E.K. Erster Klasse. Bewerben Sie sich doch um eine Lotteriekollekte bei der Staatslotterie. Ist eine ganz einträgliche Sache. Frontsoldaten und besonders Bankbeamte werden bevorzugt.«

»Ach, bis da mal eine Stelle frei wird – inzwischen kann man mit seiner Familie verhungern«, meinte Herr Felsing achselzuckend.

»Sie können doch wenigstens darum einkommen und sich vormerken lassen, Felsing. Man darf nicht schon vorher die Flinte ins Korn werfen«, redete der andere zu.

»Wer so oft enttäuscht und zurückgewiesen worden ist wie ich in diesem letzten halben Jahr, der bringt keine Hoffnung mehr auf. Wenn nicht meine tapfere Frau und meine braven Kinder so unverwüstlich an eine bessere Zukunft glauben würden, ich selbst ...«

Er schwieg beredt.

»Sie sind noch Patient, Felsing, und darum so niedergedrückt. Mit den zurückkehrenden Kräften kommt auch die Lebensfreude und der Wille, sich durchzusetzen, zurück. Hier steht ja eine Schreibmaschine. Gleich setzen wir zusammen das Gesuch an die Staatslotterie auf. Ich schreibe es Ihnen mit der Schreibmaschine.«

»Glauben Sie wirklich, daß es einen Zweck hat?« Aber es klang nicht mehr ganz so mutlos. Herr Felsing holte selbst seine Militärpapiere und Bankzeugnisse herbei, von denen Abschriften eingelegt werden sollten, und setzte mit dem Kollegen die Eingabe auf. Der nahm das Schriftstück gleich mit, um es zur Post zu geben.

»Du siehst heute viel frischer aus, Ernst«, stellte seine Frau erfreut fest, als sie ihm das Mittagessen, das er noch immer vorher einnahm, brachte. Trotz der vielen Arbeit setzte sie sich zu ihm, plauderte von den Kindern und freute sich, daß das Hühnchen heute viel besser mundete als die Tage vorher.

»So, von morgen an esse ich wieder mit am Familientisch. Jetzt hat es ein Ende mit Tauben, Hühnern und sonstigen Leckerbissen«, sagte ihr Mann mit neuerwachter Energie. »Um mich zu pflegen, müßt ihr es euch abhungern.«

»Stimmt nicht, mein Alter. Wir haben uns immer noch satt gegessen. Dies Hühnchen hat dir Renate von ihrem Stundengeld mitgebracht. Von Mutter Buttermilch hat sie es geholt. Die wollte durchaus kein Geld dafür nehmen. Und als Renate darauf bestand, es zu bezahlen, hat die brave Frau noch Eier und Butter zur Pflege für dich zugelegt. Es gibt doch noch gute Menschen.«

»Wenn du dein Vertrauen auf bessere Tage und zu den Menschen nicht hättest, Lotte!«

»Vor allem zu dem da oben. Gottvertrauen hilft einem, wenn man noch so verzagt ist.« Frau Felsing strich ihrem Mann liebevoll über das früh gebleichte Haar und ging wieder an ihre Arbeit.

Ach, sie brauchte ihr Gottvertrauen jetzt ganz besonders. Die unvorhergesehene Krankheit von Mann und Kind hatte einen großen Riß in der Kasse verursacht. Nun stand der Winter vor der Tür, und der kleine Kohlenvorrat, den man bisher bestellen konnte, nahm von Tag zu Tag erschreckend ab. Der Japaner war an warmes Klima gewöhnt. Er fror bei zwanzig Grad. Und wenn er auch jeden Monat Heizungsgeld bezahlte, das mußte zur Miete zugenommen werden. Denn ihr Mann verdiente seit Wochen keinen Pfennig mehr. Woher das Geld für Kohlen nehmen?

Wolfgangs Nebenberuf als Studentenführer war während der Grippezeit auch nicht mehr einträglich. Die Fremden mieden der Epidemie wegen augenblicklich Berlin. Renate hatte seit Oktober eine kleine Schülerin, die sie täglich bei den Schularbeiten beaufsichtigen mußte. Sie bekam dafür zehn Mark im Monat, die sie getreulich in die Wirtschaftskasse ablieferte. An Neuanschaffungen für die Kinder zum Winter konnte man gar nicht denken. Wenn Peter nur seine Schuhsohlen nicht so bald wieder durchlief. Aber Kohlen – Kohlen mußten sein. Man konnte doch die Mieter nicht frieren lassen. Und auch ihr Mann brauchte ein warmes Zimmer.

»Mutti, die Winterhilfe beginnt wieder«, berichtete Peter beim Mittagbrot. »Von nächster Woche an sollen wir wieder Pfundpakete Lebensmittel mitbringen.«

»Müssen wir auch, Renate?« fragte Gitta, die nach ihrer Krankheit noch nicht wieder zur Schule gehen durfte.

Die Schwester schüttelte den Kopf und wurde rot. Sie hatte bereits ihrer Klassenlehrerin gesagt, daß ihr Vater seit Monaten abgebaut sei und daß daher weder sie noch Gitta in diesem Jahre zur Winterhilfe beisteuern könnten. Leicht war es Renate nicht gefallen, sich von der allgemeinen Spende auszuschließen. Und als Fräulein Studienrat verständnisvoll fragte: »Renate, wäre Ihrer Mutter mit Lebensmitteln gedient, bis der Vater wieder Stellung hat?«, da hatte sie den Kopf geschüttelt: »Danke, Geschenke nehmen wir nicht!«

»Das ist eine falsche Scham, Renate«, hatte Fräulein Studienrat darauf erwidert. »Wem es heute noch gut geht, der hat die Pflicht, für die mitsorgen zu helfen, denen unverschuldet ihr Brot genommen worden ist.«

Während Renate noch einmal die peinlichen Minuten durchlebte, hörte sie die Mutter sagen: »Kinder, in diesem Jahre könnt ihr keine Lebensmittelpakete zur Schule mitnehmen. Wir müssen froh sein, wenn wir selbst ohne die Hilfe von andern durchkommen.«

Peter war ein Dickhäuter. Auf den machte das keinen besonderen Eindruck. Gitta aber konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Da schaniere ich mich doll, wenn all die andern was mitbringen, bloß ich nicht.«

»Du bist ein dummes Kind«, sagte die Mutter. Natürlich waren jetzt Gittas Tränenschleusen geöffnet.

»Weinst du eigentlich um die andern, denen du nichts mitbringen kannst, oder um dich selbst, Brigittchen?« erkundigte sich Mutti.

Gitta gab keine Antwort.

»Denkst du gar nicht daran, Kind, daß du es mir mit deinen Tränen noch schwerer machst?« fuhr die Mutter fort. »Du wolltest uns doch helfen wie die Großen. Hast du das schon wieder vergessen?«

Gitta schüttelte den Kopf und trocknete ihre Tränen. Nein, sie wollte es Mutti nicht noch schwerer machen.

Peter hatte das Amt, jeden Tag Kohlen aus dem Keller heraufzuholen. »Es sind höchstens noch zwanzig Briketts unten«, teilte er unbarmherzig mit. »Wir müssen neue bestellen.«

Frau Felsing erschrak. »Was – nur noch sowenig? Das ist ja gar nicht möglich.«

»Soll ich beim Kohlenfritzen bestellen, wenn ich zum Sportplatz gehe, Mutti? Lieber gleich mehrere Zentner.«

»Aber Junge, wir haben doch kein Geld, soviel Kohlen auf einmal zu kaufen. Bestelle vorläufig nur einen Zentner. Mehr können wir nicht bezahlen.«

»Aber bestellen können wir doch fünfe.«

»Peter, Junge, was sind denn das für Grundsätze? Du weißt doch, wie gewissenhaft dein Vater ist, daß er nie irgend etwas kaufen würde, wenn er es nicht gleich bar bezahlen kann.«

»Andere Leute lassen auch beim Kohlenfritzen anschreiben.«

»Wir aber nicht!« Wie schwer war es doch, in solchen Zeiten seinen Grundsätzen treu zu bleiben und sie seinen Kindern einzuschärfen.

Den ganzen Tag verfolgte Frau Felsing heute die Vorstellung: Wo sollen wir bloß in diesem Winter Kohlen hernehmen? Die Kinder, Wolfgang und Renate, hatten bereits ihre Ersparnisse für den täglichen Lebensunterhalt opfern müssen. Soviel die Mutter auch überlegte und sich den Kopf zerbrach, sie fand keinen Ausweg.

Am Abend erschien Wolfgang mit üblicher Verspätung. »Es lebe die Grippe!« rief er schon von der Tür her.

»Wieso? Hast du wieder einen reichen Amerikaner in Berlin herumzuführen?«

»Nee. Es lebe die Grippe, habe ich doch gesagt.« Wolfgang machte eine Kunstpause, um die Erwartung zu steigern.

»Du hast als Werkstudent irgendeinen Posten bekommen, weil einer an Grippe krank ist?« Peter traf den Nagel auf den Kopf.

»Stimmt, mein Söhnchen. Aber was für einen Posten?«

»Einen einträglichen?« erkundigte sich Renate aufgeregt.

»Mädel, was bist du materiell geworden. Auch dieses – einträglich ist er auch. Aber ihr sollt raten, was es für eine Anstellung ist.«

»Nachtwächter – Feuerwehrmann – als Ingenieur auf dem Flugplatz –.« Das war Peters Ideal.

Wolfgang schüttelte unentwegt den Kopf, während er seinen Milchreis mit Zucker und Zimt löffelte. »Ratet weiter.«

»Als Kellner – als Monteur – als Lumpensammler – vielleicht bei den Gas- oder Elektrizitätswerken?«

Wolfgang bekam beinahe schon den Veitstanz vom Kopfschütteln.

»Ist es was Musikalisches?«

»Vater ist doch der Klügste.«

»Gehst du als Leierkastenmann auf die Höfe singen?« Das fand Gitta besonders schön.

»Nee! Ich bin in einem Café bei der Kapelle als Vertretung für Klavier und Saxophon eingestellt. Von nachmittags um fünf bis in die Nacht um eins. Aber täglich zehn Mark.«

»Donnerwetter!« sagte Renate andächtig. Und dann begannen sie alle wie auf Kommando anzustimmen: »Es war einmal ein Musikus, der spielte im Café.«

Gott sei Dank, daß die Kinder immer wieder Frohsinn ins Haus brachten.

»Nun können wir Kohlen bestellen.« Eine Last, schwerer als die Kohlenzentner, fiel der Mutter von der Seele.

»Hoffentlich hat der Klavierspieler die Grippe recht doll.« Das war natürlich Peter, der diesen frommen Wunsch hegte. Und wenn die andern dem erkrankten Musiker auch nichts Schlechtes wünschten – daß er sich recht langsam erholen möchte, den Wunsch konnte man verantworten.

Hatte Frau Felsing nun nicht recht behalten mit ihrem Gottvertrauen? Auch ein anderes Wort, das sie selbst geprägt hatte, sollte sich bewahrheiten: Ein Unglück kommt selten allein, aber auch ein Glück pflegt meistens noch ein anderes im Gefolge zu haben.

Am nächsten Morgen fragte Herr Felsing seine Frau: »Sag' mal, Lotte, was hast du denn mit dem Rechtsanwalt zu tun? Führst du Prozesse?«

»Nicht daß ich wüßte«, lachte seine Frau. »Wie kommst du denn darauf, Ernst?«

»Hier ist ein Brief an dich von einem Rechtsanwaltsbüro.«

Einen Blick warf Frau Felsing darauf. »Von Doktor Lutze, bei dem ich früher gearbeitet habe. Was mag er wollen?« Dabei ahnte sie, was in dem Brief stand.

»Frau Felsing, Charlottenburg«, las sie. »Die könnten auch sehr geehrte Frau schreiben.« – »Durch die Grippe fehlen verschiedene Kräfte in unserm Büro. Hierdurch fragen wir an, ob Sie eine Vertretung als Stenotypistin übernehmen würden. Ihrer gefälligen umgehenden Nachricht entgegensehend, hochachtungsvoll ...« Frau Felsing ließ den Brief sinken und sagte zuerst mal gar nichts. Blitzschnell kreuzten sich die Gedanken in ihrem Gehirn. Eine Vertretung konnte fünfundsiebzig bis hundert Mark einbringen, je nach der Dauer derselben. Das war eine große Summe. Da hatte sie für den ganzen Winter in bezug auf Kohlen ausgesorgt. Und Weihnachten stand vor der Tür. Eine kleine Freude wollte man seinen Lieben machen, wenn sie auch noch so bescheiden war. Aber draußen hatte sie Wäsche eingeweicht. Und ihr Mann war auch noch Rekonvaleszent. Der brauchte seine regelmäßige Pflege, wenn er sich ganz erholen sollte. Und wie sollte man es mit dem Aufräumen der Zimmer für die Mieter machen? Doktor Ma-wu stand spät auf und war jetzt nach der Grippe fast den ganzen Tag zu Hause. Selbst wenn sie das Mittagessen für den nächsten Tag abends im voraus kochte, der Mieter wegen ging es nicht. Die mußten ihre Ordnung haben.

»So nachdenklich, Lotte?« hörte sie ihren Mann mitten hinein in das Für und Wider ihrer Überlegungen fragen. »Hast du irgendeine schlechte Nachricht erhalten?«

»Im Gegenteil – eine günstige. Doktor Lutze will mich wieder vertretungsweise einstellen. Es sind Stenotypistinnen an der Grippe erkrankt.«

»Der weiß wohl nicht, daß du inzwischen verheiratet und Mutter von vier Kindern bist.«

»Doch, das weiß Doktor Lutze. Ich habe mich nämlich im Frühjahr bei ihm gemeldet und um Vertretungen gebeten.«

»Was willst du nicht noch alles tun, Lotte. Du kannst dich doch nicht zerteilen. Ich denke, du bist gerade genug durch Haushalt und Patienten in Anspruch genommen.«

»Wenn ich nur nicht die Wäsche eingeweicht hätte. Halt – ich hab's. Ich bitte Frau Mulack – das war die Hausmeistersfrau –, einen halben Tag für uns zu waschen. Vielleicht kann sie auch jeden Vormittag auf eine Stunde heraufkommen und die Zimmer von den Mietern aufräumen. Das kostet ein paar Mark, und ich kann statt dessen vielleicht das Fünffache verdienen.« Frau Felsing war bereits entschlossen, die Vertretung anzunehmen.

»Und ich muß hier sitzen und untätig zuschauen, wie Frau und Kinder alle Kräfte anspannen, um uns über Wasser zu halten. Nicht mal Wäsche einweichen und Zimmer aufräumen kann ich.«

»Hahaha – Herkules am Spinnrocken. Das müßte ja ulkig aussehen, wenn du dich ans Waschfaß stellen würdest, Ernst. Du bist Patient und hast nur die Pflicht, so schnell wie möglich gesund zu werden.«

Frau Felsing sprach mit der Hausmeistersfrau und verabredete mit ihr alles Notwendige. Sie schrieb einen Schreibmaschinenbrief an das Anwaltsbüro, in welchem sie sich für den nächsten Tag zur Vertretung meldete. Als die Kinder heimkamen und Einspruch erheben wollten, weil die Mutter sich zu sehr anstrenge, war bereits alles in die Wege geleitet. Sogar das Essen kochte schon für den nächsten Mittag. Renate brauchte es nur zu wärmen, wenn sie aus der Schule kam.

Wolfgangs Vertretung als Musikus ging Mitte Dezember wieder zu Ende trotz Peters Wünsche. Aber Frau Felsing saß bis zum neuen Jahre auf ihrem gewohnten Schreibmaschinenplatz von einst. Es machte ihr Freude, wieder im Büro tätig sein zu können. Die Kinder waren verständig, jedes bemühte sich, der Mutter im Haushalt sowenig Arbeit wie möglich zu lassen. Renate überraschte Peter, wie er versuchte, sich selbst ein Loch im Strumpf zu stopfen, damit Mutti abends sich nicht noch damit mühen sollte. Da die Stopfe besser gemeint als gemacht war, übernahm Renate die Fertigstellung. Statt dessen handhabte Peter den Staubsauger, der Teppiche und Möbel absurrte. Gitta stand auf der Fußbank und spülte das Tassengeschirr. Wenn Mutti heimkam, sollte alles fertig sein.

»Sie haben brave Kinder, Frau Felsing«, sagte Fräulein Lerche, welche das emsige Treiben beobachtete, anerkennend.

»Das will ich meinen«, war die frohe Antwort. »Da freut man sich den ganzen Tag während der Arbeit, heimzukommen zu Mann und Kindern.« Und das Gehalt, das am Ersten in die Kasse wanderte, war auch nicht zu verachten. Für Kohlen war diesen Winter ausgesorgt.


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