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Dreizehntes Kapitel.
Wolfgang wird Werkstudent

Die Linden waren verblüht. Im Lietzenseepark hatten die Rosenrabatten bunten Dahlien und Herbstastern Platz gemacht. Renate rechnete bei Mutter Buttermilch keine Spargel, Erdbeeren und Kirschen mehr zusammen, sondern Gurken, Kürbis und Preiselbeeren. Die Ferienreisenden hatten sonnengebräunt und gestärkt wieder ihren Einzug in die Großstadt gehalten.

Peter war, den Rucksack vollgestopft mit Birnen und Pflaumen, unter jedem Arm ein selbstgebackenes Trömerbrot, selber vollgestopft mit ländlichen Erlebnissen und herrlichen Gebirgseindrücken, eines Tages wieder da. Mit ihm kam Leben in die Bude. Das Radio »blökte« wieder früh und spät; Lump blaffte; Goldkehlchen flatterte. Denn Peter verstand, alles aus der Ruhe aufzuscheuchen. Er hatte den Kopf voll von Erfindungen für landwirtschaftliche Maschinen, bastelte Modelle zusammen und sah die Schule nur als notwendiges Übel an.

Gut, daß die Eltern ebenfalls bald heimkehrten und den auf dem Lande verwilderten Jüngling wieder mit Schulpflichten und städtischen Gewohnheiten vertraut machten. Peter konnte nicht genug von Trömerhof erzählen. Wie nett sie alle zu ihm und Fritz Kunze gewesen. Und daß sie alle beide nächsten Sommer bestimmt wiederkommen sollten. Dann würde ihnen Klein-Christel schon entgegenlaufen.

Gitta war in Stolpmünde tüchtig gewachsen. Ebenso ihre blonden Zöpfe. So schön es auch bei der Oma gewesen war, Gitta war glücklich, wieder bei Renate und Wolfgang zu sein. Besonders die große Schwester hatte ihr sehr gefehlt. Eigentlich waren sie alle froh, daß sie wieder zu Hause waren. Die Mutter sehnte sich nach ihren Pflichten und meinte, es sei höchste Zeit, daß sie ihre Große entlaste. Dabei hatte Renate die Last gar nicht allzu schwer gedrückt. Sie hatte es ganz nett gefunden, mal Hausfrau zu spielen.

Erstaunlich frisch war der Vater. Er hatte allerlei Pläne, wie er wieder lohnende Beschäftigung finden und den Lebensunterhalt für seine Familie verdienen könnte. Frau Felsing sah dies wiedererwachte Selbstvertrauen bei ihrem Mann für ein großes Glück an. Seine Zweifel an seinen Fähigkeiten, seine Niedergeschlagenheit darüber, daß ihm alles fehlging, war ihre größte Sorge gewesen.

Auch die Lerche kehrte von ihrem Flug in die bayrischen Berge wieder heim ins Nest. Sie hatte Felsings ordentlich gefehlt. Die Kinder hatten das Gefühl, als ob eine liebe Tante zu Besuch käme. Dagegen war Doktor Ma-wu in den Universitätsferien mit Herrn Tai-fi ins Berner Oberland abgedampft. Nachdem er seiner Wirtin einen herrlichen Willkommensstrauß, der kleinen Dame Gitta einen Kasten Schokolade und Herrn Peter einen Radioverstärker, den er sich gewünscht, verehrt hatte. Aber Renate und Wolfgang durften auch nicht leer ausgehen. Renate erhielt ein Buch und eine Schachtel Pralinen, »weil sie gewesen so gutes Hausfrau«. Und »damit Herr Wolfgang nix soll weinen«, bekam er Zigaretten. Wußte doch Doktor Ma-wu, daß der Student, so gern er auch rauchte, den Genuß aus Sparsamkeitsrücksichten einschränkte. »Abschiedsgaben« nannte es Doktor Ma-wu.

»Hoffentlich kommt er wieder«, äußerte Frau Felsing etwas beklommen. »Für den August hat er ja seine Miete bezahlt.«

»Er hat doch seine Bücher und einen Teil seiner Sachen hiergelassen«, beruhigte sie Renate.

»Doktor Ma-wu will nach seiner Reise die Beethovensche Mondscheinsonate mit mir durchnehmen. Der kommt bestimmt wieder.« Der Japaner fehlte Wolfgang am meisten oder vielmehr sein Geld für die Klavierstunden. Die Mutter rechnete mit der monatlichen Wirtschaftsbeihilfe. Woher sollte Wolfgang die zum 1. September nehmen?

Alles kam wieder ins gewohnte Geleis, als ob man gar nicht fort gewesen war. Der Vater verlor allmählich seine Hoffnungsfreudigkeit, als keiner von seinen Plänen sich verwirklichte. Die Mutter sorgte im geheimen und ging äußerlich tapfer ihren Weg. Sie fand immer noch ein aufrichtendes Wort trotz aller Fehlschläge. Renate tat wie immer freudig ihre Pflicht in der Schule, in der Konfirmationsstunde und im Hause. Jeden Dienstag und Freitag versorgte sie den Haushalt mit Lebensmitteln, die sie auf dem Markt errechnete. Es roch bei Felsings nach eingekochter Marmelade und Gurken. Die Steintöpfe und Glaskrausen in der Speisekammer mehrten sich.

Peter hätte seine Pflicht sicher nicht getan, wenn die Mutter ihm nicht immer wieder zu Gemüt geführt hätte, daß er der Freischule verlustig gehen würde, wenn er zu Klagen Anlaß gäbe. Na, an der Schule lag ja Peter eigentlich wenig. Die konnte er gern entbehren. Aber er war ein guter Junge und wollte seinen Eltern keineswegs Kummer machen. Auch sorgte Wolfgang, der jetzt Hochschulferien hatte, dafür, daß Peter erst Schularbeiten machte und dann bastelte. Winkte doch als Lohn der Eintritt in den Charlottenburger Sportklub, wozu er das Beitragsgeld dem Großen abgebettelt hatte. Wolfgang konnte ruhig mal »die Spendierhosen anziehen«, wie es in der Gymnasiastensprache heißt. Dabei zerbrach sich der große Bruder den Kopf, auf welche Weise er die Hochschulferien zu einer einträglichen Arbeit verwenden könnte. Täglich ging er ins Studentenwerk, das Arbeitsmöglichkeiten für Werkstudenten vermittelte. Aber es waren Tausende von Studenten, die Arbeit suchten, während die Arbeitsangebote nur gering waren. Wolfgang kehrte stets unverrichtetersache heim. Genau wie sein Vater. Nur daß der Sohn mit dem Vorrecht der Jugend immer von neuem hoffte und etwas zu erreichen suchte, während der Vater der aussichtslosen Wege allmählich müde wurde.

Am unbekümmertsten lebten Gitta, Lump und Goldkehlchen. Gitta lachte, sang und sprang durchs Haus und verstand es, selbst den Vater immer wieder aufzuheitern. Sie war recht froh, daß der Japaner fort war. Wenn sie sich auch schämte, daß sie immer noch geheime Angst vor ihm und seinem »Zauberbuch« hatte. Jetzt durfte man auch den Balkon benutzen, auf dem Petunien und Pelargonien in bunter Fülle blühten. Gitta lag gar nichts daran, daß der »olle« Japaner zurück kam. Bloß seine Schokolade war nicht zu verachten.

Wieder mal hatte Wolfgang seinen täglichen Weg nach der Johannisstraße zum Studentenwerk eingeschlagen. Ob er heute etwas finden würde?

Trotz geöffneter Fenster war die Luft in den Räumen schwül und drückend. Lauter junge Menschen, die arbeiten wollten und keine Beschäftigung fanden. Die meisten kannten sich. Man begrüßte sich und besprach die Arbeitsaussichten. Man war guter Dinge, lachte, scherzte und machte Witze. Denn so leicht läßt sich die Jugend nicht unterkriegen.

»Sie hätten sich nicht nur für musikalische Arbeit melden sollen. Felsing«, sagte ein junger Musikhochschüler zu Wolfgang. »Da hat man nur wenig Aussicht, heranzukommen. Der Tonfilm hat Klavierspieler fürs Kino überflüssig gemacht. Und in den Cafés wird auch Saxophon verlangt.«

»Ich beherrsche das Saxophon. Selber beigebracht. Außerdem habe ich mich aber für alle technischen Arbeiten ebenfalls gemeldet. Natürlich würde ich lieber auf musikalischem Gebiet tätig sein.«

»Man muß froh sein, wenn man überhaupt was kriegt.« Der Hochschüler brach ab, denn der Leiter der Arbeitsverteilung begann auszurufen:

»Es werden gesucht für Zettelverteilen zwei Studenten. Täglich drei Stunden. Stunde dreißig Pfennige.«

Eine Anzahl der jungen Leute meldete sich als Zettelverteiler. Sie mußten um den Posten losen. Die glücklichen Gewinner zogen mit der ihnen angegebenen Adresse ab.

»Für ein Kohlenbergwerk acht Studenten angefordert, Ingenieure bevorzugt«, erschallte es.

Diesmal meldeten sich weniger als das erstemal. Im Kohlenbergwerk gab es schwere Arbeit. Und es war nicht jedermanns Geschmack, in der Nacht des Bergschachtes Kohlen zu hauen. Die Arbeit wurde gut bezahlt. Wolfgang überlegte. Aber inzwischen hatten sich schon andere dazu gemeldet.

»Zur Erntearbeit zwölf Mann verlangt.« Hui – wie die Hände da in die Luft schnellten. Landarbeit war begehrt. Da kam man aus diesem heißen Steinbaukasten Berlin hinaus, arbeitete in Gottes freier Natur und stand nebenbei noch gut im Futter.

Im Umsehen war das Dutzend durch das Los ausgemustert. Wolfgang war nicht darunter.

»Erdarbeiter für ein Stauwerk, fünf Mann.« –

»Zweiter Kapellmeister zur Vertretung an ein Provinztheater.«

Was an Musikstudierenden im Studentenwerk war, trat erwartungsvoll vor.

»Mensch, warum melden Sie sich denn nicht?« Wolfgangs Bekannter gab ihm einen aufmunternden Rippenstoß.

»Ich habe doch noch gar nicht richtig Musik studiert.« Während Wolfgang noch gewissenhaft überlegte, ob er sich wohl für einen derartigen Posten bewerben dürfte, hatte bereits ein anderer Glücklicher die Kapellmeistervertretung erwischt.

»Straßenbau – sechs Mann.« Das war heiße Arbeit jetzt in der Augustsonne. Aber trotzdem. Du darfst nicht wählerisch sein. Du mußt Geld verdienen, wo es auch ist, redete sich Wolfgang selber zu. Aber er kam schon wieder einen Posttag zu spät.

»Nachtwächter für ein Schuhgeschäft.« Hallo – kaum ausgerufen, war die Stelle auch schon besetzt.

»Nun habe ich nur noch für September mehrere Angebote. Falls sich jemand vormerken lassen will. Für Malerarbeiten und Tapetenkleben zwei Studenten. Ferner werden als Hilfsarbeiter bei Umzügen von verschiedenen Möbeltransportfirmen junge Athleten gesucht. Sporttüchtige Studenten können sich melden.«

Nein, um schwere Möbel auf dem Buckel zu schleppen, dazu fühlte sich Wolfgang, trotzdem er sportgeübt war, nicht stark genug. Und bis September warten? Er mußte sofort Geld verdienen. Hätte er bloß nicht solange gezögert und gleich zugegriffen. Nachtwächter wäre ganz nett gewesen und gar nicht anstrengend. Er hätte sogar dabei zum Examen arbeiten können. Nun war's zu spät. Er hatte nun mal die Natur seines Vaters, erst in Ruhe zu überlegen und dann zu handeln. Schade, daß er sowenig von Mutters schneller Entschlußfähigkeit geerbt hatte.

Trotzdem gab sich Wolfgang einen Ruck und trat in dem bereits geleerten Raum zu dem Leiter heran.

»Ist denn gar keine Aussicht, daß ich noch etwas für August finde?« erkundigte er sich.

»Wie war der Name? Felsing?« Der Herr zog die betreffende Karte, auf der Name, Wohnung und Gesuch eingetragen waren, aus der Kartothek. »Technik, Musik – hm – schade, daß Sie den Kursus als Fremdenführer nicht durchgemacht haben. Ein Amerikaner wünscht Berlin zu sehen und hätte gern einen jungen Akademiker, der technisch Bescheid weiß und ihn auch in bezug auf Theater, Konzerte und musikalische Veranstaltungen beraten kann. Er zahlt zehn Mark pro Tag.«

»Das wäre ja famos. So was habe ich mir gewünscht«, rief Wolfgang erfreut.

»Es kommen natürlich erst die dafür in Betracht, die als Studentenführer ausgebildet sind. Lassen Sie mal sehen, wer sich da gemeldet hat.« Der Herr schlug das Register der Studentenführer auf. »Mediziner – schalten aus. Juristen? Techniker wäre besser. Kunsthistoriker werden stets bevorzugt. Aber ich glaube nicht mal, daß einem Amerikaner besonders viel an Kunststudien liegt. Was für Techniker haben wir denn? Hier ein Architekt, der wäre geeignet. Aber ob er musikalisch ist? Nichts angegeben. Außerdem muß er die englische Sprache beherrschen.«

»Ich kann mich gut englisch verständigen. Ein Japaner wohnt bei uns. Mit dem habe ich mich viel englisch unterhalten. Habe ihn auch öfters in Berlin herumgeführt und ihn mit den Sehenswürdigkeiten bekannt gemacht. Neulich zeigte ich ihm Potsdam.«

»Also praktisch als Fremdenführer vorgebildet?« Der Leiter des Studentenwerks warf einen wohlwollenden Blick auf den gut aussehenden jungen Mann von tadellosen Umgangsformen.

»Würden Sie es nicht mit mir versuchen?« bat Wolfgang in seiner gewinnenden Art. »Ich könnte ja den Kursus später noch nachnehmen.«

»Also meinetwegen. Da keine geeignetere Meldung vorliegt. Versuchen wir es immerhin. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr stud. ing., daß der Gentlemanfremdenführer nicht nur die Schönheiten unserer Hauptstadt zeigen soll, sondern dem Fremden den Aufenthalt bei uns auch so angenehm wie möglich gestalten muß. Sie müssen auf die Nationalität, auf die persönlichen Wünsche und Interessen des Ihrer Obhut Anvertrauten eingehen. Individualität, das ist die Hauptsache für den Studentenführer. Der Fremde muß sich in der Gesellschaft seines Führers geborgen und angeregt fühlen.«

»Ich werde mir die größte Mühe geben, den Amerikaner zufriedenzustellen«, versprach Wolfgang und nahm freudestrahlend die Adresse von Mr. Charles Edward Smith aus Chikago in Empfang. Vorstellung Edenhotel zwölf bis ein Uhr vormittags.

Ob ich gleich hinfahre? überlegte Wolfgang, als er wieder unten in der Johannisstraße stand. War es nicht richtiger, sich zu Hause erst in seinen Sonntagsdreß zu werfen, um möglichst gentlemanlike aufzutreten? Aber wenn ihm ein anderer zuvorkam? Vielleicht mochte der Amerikaner nicht bis morgen warten. Time is money – Zeit ist Geld in Amerika.

Angelegentlich spiegelte sich Wolfgang, der sonst wenig Eitelkeit kannte, in dem Schaufenster eines Friseurs. Er sah eigentlich ganz anständig aus. Mutter hatte seinen Anzug erst aufgebügelt. Zum Überfluß pflegte Wolfgang die Beinkleider nachts unter das Bettlaken zu legen, um mit seinem Körpergewicht die Bügelfalte der Hosen tadellos zu erhalten. Dieses Patent war eine Erfindung von Peter.

Also auf zum Edenhotel.

Wolfgang Felsing war von Natur aus schüchtern. Er hatte nicht das forsche Draufgehen, das seinen Bruder Peter auszeichnete. Die große blumengeschmückte Hotelhalle mit den livrierten Portiers und Liftboys, mit den eleganten fremdländischen Gästen, die in Klubsesseln ihre Post lasen, auf Telephonanruf warteten oder ihr Gepäck verladen ließen, machte einen beklemmenden Eindruck auf den bescheidenen Studenten. Aus den Restaurationsräumen klang Musik. Elegant gekleidete Damen, vornehm aussehende Herren schritten vorüber. Wolfgang wandte sich an den wie ein König in seinem Reich herrschenden Portier und fragte nach Mr. Smith aus Chikago.

»Mr. Smith ist beim Lunch. Kann ich etwas bestellen?«

»Ich möchte ihn selbst sprechen.«

»Bitte Namen und Angelegenheit hier zu notieren.« Der Portier schob ihm Block und Stift zu. Wolfgang notierte seinen Namen und fügte in englischer Sprache hinzu: Gentlemanführer, empfohlen durch das Studentenwerk.

»Bitte Platz zu nehmen.« Der Portier wandte sich bereits wieder andern zu.

Wolfgang ließ sich in einem der großen Ledersessel nieder und wartete. Es war ganz amüsant, das Kommen und Gehen in so einem großen Hotel an sich vorüberziehen zu lassen. Blumensträuße wurden geliefert, Modistinnen mit Hutschachteln, Telegrammboten, Agenten, Ankommende und Abfahrende drehte die unermüdlich kreisende Glastür in die Hotelhalle hinein. Die Reisenden sahen alle recht wohlhabend aus. Aber vielleicht waren sie mit all ihrem Geld weniger glücklich als er.

»Mr. Smith läßt bitten«, erklang es in Wolfgangs Überlegungen. Vor ihm stand ein niedlicher Pikkolo, angehender kleiner Kellner, und führte ihn über Plüschteppiche, die den Schall der Schritte unhörbar machten, in den Rauchsalon. Dort lehnte Mr. Carles Edward Smith in einem Klubsessel, eine dicke, große Zigarre zwischen den Lippen.

»Herr Felsing«, meldete der Pikkolo.

Der Amerikaner warf einen prüfenden Blick über den sich verneigenden Studenten. » Well, Mr. Felsing, Sie wollen so freundlich sein, mir Berlin zu zeigen«, sagte er in recht schnellem, gaumenquetschendem Englisch und schüttelte dem jungen Mann die Hand.

Wolfgang hatte sich eine passende Antrittsrede zurechtgelegt. Er ließ sie in möglichst fließendem Englisch vom Stapel. Aber Mr. Smith unterbrach die Mitteilung, daß sich der junge Student bemühen würde, seinen Wünschen nachzukommen und ihn zufriedenzustellen, mit kurzer Handbewegung: » Allright, was für ein Programm haben Sie für heute, Mr. Felsing?«

Wolfgang erschrak. Daran hatte er nicht gedacht, daß er sofort sein Amt anzutreten habe. Sein heutiges Programm bestand darin, zu Hause Schellfisch mit Senfsoße zu essen, Peter an sein Arbeitspult zu jagen, Lump tanzen und singen zu lassen und selbst Musik am Klavier zu machen. Aber jetzt hieß es, schnell von Entschluß zu sein, nicht lange zu überlegen und zu zaudern wie sonst.

»Ich möchte vorschlagen, bei dem schönen Wetter Aquarium und Zoo zu besuchen. Da ist gutes Orchesterkonzert, und man trifft dort nachmittags die elegante Welt.« Wolfgang dachte, daß er seit Jahren nicht im Zoo gewesen war.

» Very well. Kann man dort nehmen five o'clock tea?«

»Jawohl, man kann dort Kaffee und Tee trinken. Abends könnten wir den Funkturm besteigen. Der Blick über die erleuchtete Stadt ist besonders zu empfehlen.«

»Oh, sehr gut, Mr. Felsing. Wo werden wir nehmen das Dinner?«

»Im Funkrestaurant«, sagte Wolfgang mit einer Selbstverständlichkeit, als ob er täglich dort zu dinieren pflegte. Dabei war er noch kein einziges Mal dort gewesen.

»Oh, I see, ich sehe. Sie scheinen ein sehr gewandter Gentlemanführer zu sein von großer Erfahrung.« Wenn Mr. Smith wüßte, was für ein Neuling sein erfahrener Führer war.

»Wann wollen wir aufbrechen?«

»Sie wünschen gewiß, noch ein Weilchen zu ruhen«, meinte Wolfgang. Er selbst hoffte, schnell noch zum Mittagessen nach Hause fahren zu können.

» Not at all – ganz und gar nicht. Wir können sofort gehen. Ich habe nur fünf Tage Zeit und will die ganzen Sehenswürdigkeiten von Berlin sehen. Für Technik bin ich besonders interessiert. Und abends will ich hören gute Musik.«

»Die Oper ist leider während der Sommermonate geschlossen. Aber es gibt Operette und gute Konzerte.«

» Well – gut, machen Sie Programm für jeden Tag.«

Mr. Smith erhob sich, der Pikkolo sprang hinzu und holte Hut und Waterproof – Regenmantel – aus der Garderobe. Denn auch bei schönstem Sommerwetter ging der Amerikaner nicht ohne seinen »Waterproof« aus.

Wieder durchschritt Wolfgang die Hotelhalle, und diesmal fühlte er sich durchaus nicht mehr so klein und bescheiden wie bei seinem Eintritt. Er war Gentlemanführer und für das Vergnügungsprogramm von Mr. Smith verantwortlich, vor dem selbst der hoheitsvolle Portier tief dienerte.

»Taxe gefällig?« Ein Liftboy sprang dienstbeflissen herbei.

Der Amerikaner nickte.

»Auto ist unnötig – es ist ganz nah«, stellte Wolfgang seinem Begleiter vor.

»Ich liebe nicht, Kräfte zu verschwenden. Go on – vorwärts.« Mr. Smith bestieg das Taxenauto.

»Aber das Aquarium liegt ja gegenüber, Sir. Wir brauchen nur über den Fahrdamm zu gehen.«

»Gut, fahren wir über den Fahrdamm.« Der Chauffeur, dem er noch ein Trinkgeld zuwarf, dachte: Sicher ein Dollarkönig, der nicht weiß, wo er sein Geld lassen soll. Na, bei mir ist Platz dafür.

Auch Wolfgang dachte Ähnliches.

»Nehmen Sie tickets – Billetts, Mr. Felsing. Wir rechnen abends ab.« Wolfgang zog seine Geldtasche und nahm Eintrittskarten. Hoffentlich reichte seine bescheidene Barschaft für die Wünsche des Amerikaners.

Warme, feuchte Treibhausluft schlug ihnen im Aquarium entgegen. Der Amerikaner ging mit großen Schritten durch das grünliche Dämmerlicht. Ab und zu trat er an einen der großen Glasbehälter und warf einen Blick auf die sich im Wasser lustig tummelnden Bewohner. Wolfgang machte ihn auf das »wandelnde Blatt« und auf die insektenfressenden Blumen aufmerksam. Mr. Smith wollte es nicht glauben, daß diese schönen, farbenleuchtenden Chrysanthemen Wassertiere sein sollten, die ihre Blumenblätter wie Fänge um das Insekt, das ihnen zu nahe kam, schlugen und es verspeisten.

»Oh, very interesting indeed – in der Tat, sehr interessant.« Dabei gähnte Mr. Smith. Denn es war Mittag, und die feuchte Tropenluft ermüdete. Von den Riesenkrokodilen wollte er wissen, wieviel so ein nettes Tierchen kostet. Wolfgang hatte keine Ahnung. Er sank sichtlich in des Amerikaners Achtung, als er das ehrlich zugab.

»Sie müssen die Wünsche des Ihnen anvertrauten Ausländers erraten und darauf Rücksicht nehmen«, hatte der Leiter des Studentenwerks Wolfgang ans Herz gelegt. Darum erkundigte sich der junge Führer: »Haben Sie genug von dem Aquarium, Mr. Smith? Sind Sie abgespannt?«

» Not at all – durchaus nicht.« Mr. Smith gähnte noch lauter.

»Wollen wir in den Zoo gehen?«

» Oh no, Sir. Wir haben unser Eintrittsgeld noch nicht genügend abgesehen.«

Wie merkwürdig, dachte der deutsche Student, einerseits wirft der Amerikaner mit dem Gelde, und andererseits will er den Groschen ausnützen. Schließlich fand Mr. Smith doch, daß man das Eintrittsgeld jetzt genügend »abgesehen« hätte. Nachdem er Wolfgang noch mit einigen Fragen über die Zuleitung des Wassers und wieviel der Unterhalt des gesamten Aquariums wohl jährlich koste, in Verlegenheit gesetzt hatte, gingen sie in den benachbarten Zoo.

Dort gefiel es Mr. Smith entschieden besser. Besonders der »Kinderzoo« machte ihm viel Spaß. Die Löwen- und Bärenbabys, die so täppisch und drollig durcheinanderkegelten, die rosigen Ferkelchen, die frei umherliefen, die kleinen Schäfchen und Ziegen, die vertrauensselig an ihm hochsprangen und gefüttert werden wollten, und alle die kleinen Kinder, die sich jauchzend und kreischend mitten unter den jungen Tieren tummelten, das war » very nice indeed – in der Tat sehr hübsch«.

Mr. Smith machte photographische Aufnahmen von einem kleinen Teddybär, der sein Milchfläschchen wie ein Baby trank. Er photographierte kleine Jungen und Mädel, Löwen- und Bärenbabys auf dem Arm. »Das glaubt man sonst nicht in Chikago«, sagte er.

Die Affen imponierten dem Amerikaner nicht besonders. »In Amerika hat fast jede Lady ihr Äffchen, wie man sich in Deutschland kleine Hunde hält.«

Bei den Raubtieren war gerade Fütterung. Mr. Smith erkundigte sich bei seinem Führer, wieviel Pfund Fleisch ein Löwe täglich erhalte. Wolfgang wollte nicht wieder dumm erscheinen. »Ein Pfund«, sagte er auf gut Glück, ohne zu wissen, ob es richtig sei. Mr. Smith war zufrieden. Aber Wolfgang ärgerte sich über sich selbst. Man soll nur das sagen, was man wirklich weiß. Peter pflegte in der Schule öfters zu raten und dann eklig reinzurasseln. Nun hatte er es ebenso gemacht.

»Ist das Lunch oder Dinner?« fragte Mr. Smith, interessiert der Fütterung zuschauend.

»Beides zugleich«, lachte Wolfgang. Dabei knurrte sein Magen lauter als die Raubtiere. Er selbst war ja heute um seine »Fütterung« gekommen. Es fiel ihm ein, daß man zu Hause gar nicht wußte, wo er geblieben war. Wenn er auch seine Familie in bezug auf Pünktlichkeit nicht verwöhnt hatte, einfach von einer Mahlzeit fortzubleiben, das pflegte er nicht zu tun. Mutter hatte sicher den Fisch warmgestellt. Er mußte unbedingt daheim anrufen. Gut, daß man das Telephon der Mieter wegen noch beibehalten hatte.

Als Wolfgang den Amerikaner an einem Cafétisch nahe der Musikkapelle gut untergebracht hatte, beurlaubte er sich, um nach Haus zu telephonieren. Im Vorbeigehen ließ er an der Würstelbude noch ein Paar Würstchen in seinen hungrigen Magen spazieren.

Renate, die am Telephon war, wollte es nicht glauben, daß er Fremdenführer geworden sei. »Jawoll, du verkohlst mich ja bloß«, lachte sie und hängte ab.

Mr. Smith hatte unterdessen Tee und Gebäck bestellt. Kaffee wäre Wolfgang lieber gewesen. Trotzdem tat er dem Gebotenen alle Ehre an. Der Amerikaner wunderte sich über den guten Appetit der Deutschen.

Die Kapelle spielte aus Opern von Mozart, Wagner und Verdi.

Mr. Smith war jetzt einwandfrei begeistert von seinem jungen Führer. Der Junge wußte was. Jede Arie, jede Ouvertüre kannte er Ton für Ton und hatte ein gutes Urteil. Es machte Mr. Smith Freude, sich mit dem musikalischen jungen Mann zu unterhalten. Wolfgang selbst war froh darüber, wie gut die Verständigung funktionierte. Trotzdem Mr. Smith jedes Wort kaute, gewöhnte sich sein Ohr rasch an die amerikanische Aussprache.

Gegen sieben Uhr saßen sie im Funkturmrestaurant beim Diner. Der bescheidene Wolfgang fand es eigentlich ganz nett, so aus dem vollen zu leben und sich die auserwählten Gerichte schmecken zu lassen. Aber schließlich, »mehr als satt essen kann man sich nicht«, pflegte seine Mutter zu sagen. Im Grunde war es gleich, ob das mit Hummern und Geflügel oder mit Schellfisch geschah.

Hoch oben auf der Plattform des Funkturms standen sie dann im Abenddunkel und blickten hinab auf das beleuchtete Berlin. Voll heimatlichen Stolzes wies der Student von dieser Höhe hinab dem Fremden das Brandenburger Tor, die Siegessäule, das Schloß und den Dom. Verschiedene Hochhäuser, die nach amerikanischem Muster aus dem Häusermeer emporragten, interessierten Mr. Smith besonders. Als sich der Amerikaner und der deutsche Student im Hotel voneinander verabschiedeten, waren beide gleich befriedigt voneinander.

Die ganze Familie Felsing half, das Vergnügungsprogramm für den Amerikaner zu entwerfen. Peter war ganz unglücklich, daß er nicht führen helfen durfte. Besonders als Mr. Smith mit Wolfgang vom Flughafen aus einen Rundflug über die Stadt unternahm, war er geradezu neidisch auf den großen Bruder. Und da behauptete Wolfgang noch, daß ihm da oben im Flugzeug zumute gewesen sei, als ob er die ganze Nacht durchkneipt und einen Riesenkater hätte. Wer's glaubt!

Am Pergamonmuseum und den Kunstgalerien lag Peter ja weniger. Aber die AEG., das große elektrische Werk, hätte er für sein Leben gern mitbesichtigt. Renate dagegen hätte am liebsten die Nachtrundfahrt »Alt-Berlin im Mondschein« mitgemacht. Und Gitta fand das elegante Hotel und die feinen Mahlzeiten, die Wolfgang mit dem Amerikaner einnahm, am verlockendsten. Die einfache Kost zu Hause wollte dem Leckermäulchen gar nicht mehr recht munden.

Als Mr. Smith nach fünf Tagen die deutsche Hauptstadt verließ, hatte er nicht nur Berlin und Potsdam kennengelernt. Er hatte durch seinen jungen Führer auch den denkbar günstigsten Eindruck von Deutschland und der deutschen Jugend bekommen.


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