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Zweites Kapitel.
Wer kriegt den blauen Brief?

»Sind die blauen Briefe schon fort, Herr Neumann?« – »Bin ich dabei?« – »Haben Sie meinen Namen gelesen?« – »Herr Neumann, sagen Sie doch, ob einer von uns darunter ist.« – »Sein Sie doch kein Frosch!« So bestürmten mehrere Gymnasiasten den Schuldiener des Gymnasiums.

Der machte ein vielsagendes Gesicht und zuckte die Achseln. »Darf ich nicht verraten – Amtsgeheimnis.«

»Mensch, haben Sie sich doch nicht. Erfahren wir noch früh genug, ob wir zu Ostern klebenbleiben oder nicht.« Der Sprecher überragte die andern Tertianer um Kopfeslänge. Er war schon mehrere Male »klebengeblieben«.

»Dumme Sache, wenn meine Eltern morgen den blauen Brief kriegen. Mutter hat sowieso schon immer 'nen Bammel vorm Ersten, ob Vater nicht abgebaut wird. Glaubst du, daß mir Latein den Hals bricht, Lange? Ein Extemporale habe ich drei minus geschrieben, eins drei und das letzte ganz verhauen.« Peter Felsing blickte sorgenvoll in den Frühlingshimmel.

»Mündlich hast du neulich ganz gut gekonnt. Es geht doch nicht bloß nach dem Schriftlichen. Und in Physik kannst du auch was, Felsing.«

»Na ja, Physik interessiert mich, wenigstens die Versuche.« Sein Freund Rolf Lange hatte es gut. Der brauchte keinen Bammel vor dem blauen Brief zu haben. Der wurde bestimmt versetzt. Hätte er doch nicht soviel am Radio gebastelt und sich statt dessen lieber auf die Hosen gesetzt und gelernt. Ein Flugzeug, das über den Jungen elegant seine Schleife zog, lenkte Peter von seinen Sorgen ab.

»Du, Lange, ich habe ein kleines Flugzeugmodell gemacht – prima Sache. Wenn ich erst aus der Bildungsanstalt raus bin, baue ich es in richtiger Größe. Und dann fliege ich damit um die ganze Welt.«

»Ich komme mit, Felsing, knorke! Du brauchst noch einen, wenn du niedergehen mußt oder wenn's was dabei auszuflicken gibt.«

»Hoffentlich fliege ich nicht erst aus der Schule. Vater hat neulich gesagt, wenn ich nicht versetzt werde, bezahlt er das teure Schulgeld nicht länger.« Da war Peter wieder bei seinen Sorgen.

Vor dem Hause traf Peter Renate und ihre Freundin Hanni Geißler. Sie pendelten vor der Haustür auf und ab und hatten sich schon ein halbes dutzendmal voneinander verabschiedet. Die Osterzensur spielte auch bei ihrem Gespräch eine wichtige Rolle.

»Komm doch nachmittags zu mir rauf, Hanni. Dann pauken wir zusammen Geographie. Wenn du die Arbeiten jetzt noch gut schreibst, wirst du am Ende doch noch mit rübergeschubst in die Obersekunda«, schlug Renate der Freundin vor.

Die zuckte gleichmütig die Achseln. »Hab' heute keine Zeit – Fechtstunde.«

»Hanni, du mußt dich jetzt auf deine vier Buchstaben setzen und arbeiten – aber feste. Meine Mutti sagt, ohne Schulbildung erreicht man nichts im Leben. Und wenn Mutti das sagt, dann stimmt's.«

Hanni Geißler schien von Frau Felsings Unfehlbarkeit weniger überzeugt. »Kinder, macht euch bloß meinethalben keinen Fettfleck. Wenn ich nicht mit rüberrutsche in die Obersekunda, dann bleibe ich eben sitzen. Das ist weiter kein Malheur! Vielleicht komme ich dann in ein Landschulheim am Bodensee über den Sommer.«

»Famos, Geißler. Wer's doch auch so gut hätte.« Zu Renates Ärger nannte Peter ihre Freundinnen mit Vatersnamen. Sie fand das unhöflich. Überhaupt, der Peter war jetzt in den Flegeljahren. Nicht mal die Mütze hatte er gezogen.

»Hast du Spatzen unterm Dach, Peter?« Renate wies auf die Mütze.

»Nee, Maikäfer.« Peter dachte gar nicht daran, seine blaue Gymnasiastenmütze vor Renates Freundinnen zu lüpfen. »Kommst du heute zum Eislaufen auf den Lietzensee, Geißler?« Hanni Geißler war Kunstläuferin. Sämtliche Jungen wetteiferten darin, mit ihr zu laufen.

»Weiß noch nicht. Vielleicht trainiere ich vor der Fechtstunde im Sportpalast.«

»Du hast doch sicher heute zu arbeiten, Peter.« Renate biß die große Schwester raus.

»Meine Sache!« Der Bengel wurde alle Tage frecher.

Renate und Hanni verabschiedeten sich jetzt endgültig. Denn es blies scharf vom nahen freien Messegelände herüber.

»Du, Renate.« Peter stieß die Schwester auf der Treppe mit dem Ellenbogen an. »Du – kommen die blauen Briefe von der Schule mit der ersten Post an?«

»Menschenskind, so steht das mit dir?« Renate war entsetzt. »Mensch, Peter, warum hast du das nicht früher gesagt? Dann hätten Wolfgang und ich doch mit dir gebüffelt. Wie wird sich Mutti aufregen.«

»Es ist ja noch nicht sicher. Vielleicht bin ich gar nicht dabei. Ekelhaft, wenn man nicht weiß, woran man ist. Aber 'ne mächtige Ungerechtigkeit wär's ...«

»Na, Peter, du hast dich wirklich in diesem Quartal nicht allzusehr angestrengt. Immer haste gebastelt und am Radio rumgemurkst ...«

»Das werde ich morgen schon noch zur Genüge zu hören kriegen«, fiel Peter der Schwester ins Wort. »Du, Renate, kann man den Brief nicht einfach verschwinden lassen?«

»Nee, wäre ja auch bloß 'ne Galgenfrist. Ostern merken's die Eltern ja doch, ob du versetzt bist oder nicht.«

»Ja, aber bis dahin sind noch zwei Monate. Wenn man noch tüchtig ochst, wer weiß, ob man's nicht doch noch schafft.«

»Menschenskind, du bist wohl plem-plem! Was du in zehn Monaten nicht gelernt hast, das willst du dir in den beiden letzten eintrichern? Und wenn auch – Briefe unterschlagen ist ebensolche Gemeinheit, als wenn du was maust. Das geb' ich niemals zu.«

»War ja auch bloß Spaß«, verteidigte sich Peter und wurde rot. Es war ihm ernst genug mit dem Spaß gewesen.

Am Nachmittag saß Peter, den Kopf in Büchern und Heften vergraben. Er ging nicht mit den Schwestern aufs Eis. Er bastelte weder am Radio noch an seinem Flugzeugmodell. Er saß und lernte und schwitzte und stöhnte. Weder das Kratzen von Lump an der Tür noch Goldkehlchens Geschmetter aus dem Nebenzimmer machten Eindruck auf ihn. Frau Felsing schüttelte verwundert den Kopf über den Jungen. Ihr schien der Eifer nicht recht geheuer.

So kam der erste Februar heran. Schon in aller Herrgottsfrühe gewahrte Wolfgang blinzelnd einen Hemdenmatz, der sich leise aus dem Zimmer stahl. Peter sah nach, ob schon Briefe angekommen seien, zu einer Zeit, wo die Briefträger wohl selbst noch in den Federn lagen.

Renate nahm zwei Stunden später die Post in Empfang.

»Gib her!« Peter riß ihr ungestüm die Briefe aus der Hand – ritsch – ratsch – da hatte er einen der Briefe zerrissen.

»Au weh – was wird Wolfgang sagen.« Der Brief war an den Bruder gerichtet.

Peter war das im Augenblick ganz gleichgültig. Er durchstöberte die eingegangene Post. Gasrechnung, neueste Frühjahrsmoden, unfehlbares Mittel gegen Wanzen, Plätterei empfiehlt sich, eine Wintersportkarte von Vetter Hans – Gott sei's getrommelt und gepfiffen, der gefürchtete blaue Brief aus der Schule war nicht darunter. Aber – Peters Herz sank wieder eine Etage tiefer. »Du, Renate, glaubst du, daß er mit der zweiten Post kommen kann?«

»Alles möglich.« Renate raste, um zur Zeit in die Schule zu kommen. Sie stand immer erst im letzten Augenblick auf. Selten fand sie noch Zeit, ihre und Gittas Betten am Fenster auszulegen, wie die Mutter es wünschte.

Die Frühstücksstunde war heute nicht sehr gemütlich. Gitta war bereits fort. Renate trank ihren Kaffee im Stehen. Zum Hinsetzen reichte die Zeit nicht mehr. Wolfgang schimpfte über den zerrissenen Brief. Peter hatte – o Wunder der Naturgeschichte – heute keinen Appetit. Der Vater, der nie viel Worte machte, schien heute noch wortkarger. Mutter bereitete Frühstücksbrote und hatte rote Flecken auf den Backen. Ein Zeichen, daß sie erregt war. Peter sah argwöhnisch von einem zum andern. Rochen die Eltern Lunte?

Soviel Mühe sich Peter auch gab, in der Schule aufzupassen, er konnte es nicht verhindern, daß seine Gedanken immer wieder zu dem gelben Briefkasten daheim an der Eingangstür entwischten. Jetzt war es halb elf. Ob die zweite Post schon da war? Hoffentlich hatte Mutti so viel zu tun, daß sie nicht dazu kam, den Briefkasten aufzuschließen. Man mußte irgendwas erfinden, daß er sich nur öffnete, wenn man auf eine geheime Feder drückte. Niemand durfte diesen Geheimverschluß kennen.

»Fortfahren, Felsing.« Der Studienrat hatte wohl bemerkt, daß Peter mit seinen Gedanken woanders war. Peter ließ seine Geheimkonstruktion im Stich und begann im Lesebuch zu suchen. Man nahm Schillers Glocke durch. Gerechter Strohsack – wo waren sie denn bloß stehengeblieben?

»Wehe, wenn sie losgelassen«, begann Peter auf gut Glück irgendwo zu lesen.

Schallendes Gelächter unterbrach ihn. Mußten die Affen auch lachen. Hätten ihm lieber vorsagen sollen.

»Wehe, wenn er losgelassen«, zitierte auch der Lehrer lachend. »Das haben wir bereits genossen, Felsing. Du hast allen Grund, aufmerksam zu sein.«

So, nun wußte Peter, woran er war. Das vielsagende Gesicht des Lehrers – jetzt war es sicher, daß er zu Ostern klebenblieb. Plötzlich hatte Peter die Empfindung, als ob ihm ein Hefekloß, den er so gern aß, im Halse steckengeblieben sei. Er würgte und würgte. Heiß stieg es ihm in die Augen. Weinen – nee! Tertianer weinen nicht, auch wenn sie nicht in die Obertertia versetzt werden.

Sein Nachbar Rolf Lange hatte ihm inzwischen gezeigt, wo man einsetzen mußte.

»Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet.
Durch der Hände lange Kette
Um die Wette
Fliegt der Eimer«,

las Peter mit belegter Stimme.

»Hoch im Bogen
Spritzen Quellen Wasserwogen.«

Es ging nicht weiter. Alles verschwamm vor Peters Blick. Es tropfte auf Schillers Glocke.

»Nanu, Felsing?« verwunderte sich der Lehrer. »Auch bei dir Wasserwogen? Willst wohl löschen helfen?« Die Schulkameraden wieherten vor Lachen. Gemeine Bande, ihn auszulachen. Na wartet man. Im Boxen nehme ich es mit euch auf.

»Weiter, Felsing.«

»Hoffnungslos weicht der Mensch der Götterstärke.
Müßig sieht er seine Werke
Und bewundernd untergehn.«

»Der Folgende. Nimm dich zusammen, Felsing. Willst doch zu Ostern versetzt werden? Na also!«

Was – es war noch nicht alles verloren? Plötzlich rutschte der Kloß in Peters Kehle hinunter. Er konnte wieder frei atmen. Famoser Mensch, der Studienrat. Ob er sich auch nicht irrte? Was hatte er gesagt? Willst doch zu Ostern versetzt werden. Natürlich wollte er. Darin lag aber eigentlich noch keine Bestätigung, daß er auch wirklich versetzt würde. Im Gegenteil. In den gefürchteten Briefen stand ja auch, daß es zweifelhaft sei, ob der Schüler die Reife für die höhere Klasse erreiche. Zwei aus der Untertertia hatten schon blaue Briefe bekommen. Er würde den seinigen mittags vorfinden. Der sonst so sorglose Peter hatte heute schwere Sorgen. Nicht mal die Turnstunde, in der er als fixer Kerl glänzte, konnte ihn aufmuntern.

»So muß einem zum Tode Verurteilten zumute sein«, sagte Peter, als er sich mittags von seinem Freunde Lange trennte.

»Mensch, an den Kragen wird es dir ja nicht gleich gehen. Behalte deinen Wintermantel an, im Fall es Dresche gibt«, riet Rolf vorsorglich.

»Nee, Dresche setzt es nicht. Bloß Mutti macht dann so traurige Augen. Und Vater redet überhaupt nicht mit einem. Das ist schlimmer als Dresche. Na, rin in die Kartoffeln!« Heute nahm Peter nicht zwei Treppenstufen auf einmal wie sonst immer. Er kam noch früh genug oben an.

Gitta öffnete ihm die Tür.

Einen Blick in den Briefkasten. Er war leer.

»Was macht Mutti?« begann Peter die Stimmung auszukundschaften.

»Bratklopse mit Sauerkraut.«

»Dumme Liese! Ich meine doch, ob sie vergnügt ist?«

»Ist mir ganz schnurz.« Gitta drehte ihm beleidigt den Rücken.

Alles war wie sonst. Renate deckte den Tisch. Mutti stand am Herd. Wolfgang kam wieder mal zu spät.

Aber die Stimmung beim Mittagessen, die immer eine recht lebhafte, meist sogar recht fidele war, blieb heute gedrückt. Renate erzählte zwar von diesem und jenem aus der Schule. Aber die Mutter, welche sonst für alles, was die Kinder betraf, lebhaftes Interesse zeigte, hörte nur halb zu. Sie schien mit ihren Gedanken woanders zu sein. Peter, der ein schlechtes Gewissen hatte, hielt es für ratsam, sich möglichst ruhig zu verhalten. Sicher hatte die Mutter den Brief bereits in Empfang genommen. Das konnte ja ein Blinder bei Nacht erkennen. Gitta maulte, weil sie eine »dumme Liese« war. Erst Wolfgang und Lump brachten Leben in die Bude. Beide, Herr sowohl wie Hund, hatten die glückliche Gabe, unbehagliche Situationen nicht an sich herankommen zu lassen. Wolfgang erzählte ein paar Späße aus der Hochschule. Lump machte schön. Alles lachte. Der Bann war gebrochen.

Trotzdem hielt es Peter für geraten, für den Nachmittag von der Bildfläche zu verschwinden. Die Untertertia traf sich zum Eishockey auf dem See. Da durfte er nicht fehlen.

Auch Gitta ging aufs Eis. Die Eltern begünstigten jeden Sport der Kinder zur Ertüchtigung des Körpers, soweit sie darüber ihre Pflichten nicht vernachlässigten. Frau Felsing verzichtete auf eigene Anregung durch Konzerte, Theater oder Kino, um den Kindern das gesunde Vergnügen ermöglichen zu können. Renate hatte heute keine Lust zum Schlittschuhlaufen, trotzdem ihre Freundinnen sicherlich auf dem Eis waren. Die Sorgen der Mutter empfand sie als Große mit.

»Wolfgang, hältst du es für möglich, daß Vater abgebaut wird?« fragte sie zaghaft in die Chopinsche Sonate hinein. Wolfgang saß am Klavier. Das war seine liebste Beschäftigung, wenn er zu Hause war. In das Reich der Töne rettete er sich, nachdem er in der Technischen Hochschule Verständnis für all das Maschinenzeug, das ihm mehr oder weniger uninteressant schien, hatte aufbringen müssen.

»Abgebaut – warum denn?« Wolfgang kam aus einer andern Welt. –

»Es ist doch heute der Erste ...«

»Das ist durchaus noch kein Grund, daß Vater abgebaut werden sollte. Ihr Weiber seid und bleibt unlogisch.«

»Mutti regt sich doch jedesmal so auf, Wolfgang!« meinte Renate vorwurfsvoll.

»Das tut sie zwölfmal im Jahr zu ihrem Privatvergnügen. Wartet doch ab, bis es so weit ist. Aber das werden wir hoffentlich nicht erleben. Ein so tüchtiger, pflichttreuer Beamter wie Vater!«

»Hast recht, Wölfchen.« Nur zu gern ließ sich Renate überzeugen. Plötzlich hatte sie wieder Lust, aufs Eis zu gehen. »Mohrrüben zu morgen bringe ich auf dem Rückweg mit und auch Brot zum Abend, Muttichen«, rief sie noch zur Tür herein.

Glückliche Jugend, die alles vergißt! dachte Frau Felsing und machte sich mit einem sorgenvollen Seufzer wieder an ihre Ausbessereien.

Als die Kinder in der siebenten Stunde zurückkehrten, war der Vater schon daheim. Gitta als Nesthäkchen wollte ihm wie immer trotz ihrer zehn Jahre auf den Schoß springen, aber irgend etwas hielt sie davon ab. Der Vater nahm ja gar keine Notiz von ihr. Peter, der nicht wußte, ob er sich hineinwagen dürfte, stellte von der Tür aus mit hungrigem Blick fest, daß der Vater heute noch ein gut Teil seines Mittagessens übriggelassen hatte. Renate, die ihre Mohrrüben in der Küche ablud, entdeckte sofort, daß die Mutter verweinte Augen hatte.

»Muttichen?« Angst, Sorge und Zärtlichkeit lag in dem einen Wort.

»Meine Ahnung hat diesmal nicht getrogen – Vater ist zu April abgebaut.«

»Abgebaut?« Renate hatte die Empfindung, als ob sie einen Schlag auf den Kopf bekommen hätte. Da war es nun da, das Gefürchtete. Aber andere Väter von Schulfreundinnen waren auch abgebaut worden, und es ging doch alles weiter. Und bis April war ja noch lange – – –.

»Muttichen, gräme dich nicht. In zwei Monaten kann Vater noch woanders Stellung finden.«

»In heutiger Zeit? Wo Millionen von Arbeitslosen herumlaufen? Nein, Kind, damit kann man nicht rechnen. Aber man muß trotzdem den Kopf oben behalten. Wir dürfen Vater das Schwere nicht noch schwerer machen. Er darf uns nicht mutlos sehen.« Energisch wischte Frau Felsing an ihren Augen herum. Dann ging sie ins Zimmer, schalt liebevoll mit ihrem Mann, daß er nicht aufgegessen hatte, und sprach dem Vorsichhinbrütenden Mut zu.

»Wer wird denn gleich die Flinte ins Korn werfen, mein guter Mann! Wir haben ja allerlei Beziehungen. Du wirst schon irgendwo ankommen. In der Industrie können sie solchen zuverlässigen Menschen wie dich auch brauchen. Wir werden an Gebrüder Schubert schreiben, die hatten doch immer Interesse für uns. Und Onkel Max kann sich mit Firmen aus der Maschinenbranche in Verbindung setzen. Ob Vetter Karl nicht bei dem großen Zeitungsverlag ein Plätzchen für dich findet? Unser Freund Lehmann ist doch Aufsichtsrat in verschiedenen Konzernen. Irgendwo werden sie solch eine tüchtige Kraft schon unterbringen, Ernst.« So sprach und tröstete die Frau, trotzdem sie selbst nicht von dem überzeugt war, was sie sagte.

»Heute eine neue Stellung finden? Das glaubst du doch alleine nicht, Lotte.« Mutlos schüttelte ihr Mann den Kopf.

Peter war in sein Zimmer entwischt. Er wartete jeden Augenblick darauf, zum Vater gerufen zu werden. Wenn sich das Strafgericht nur erst entladen würde. Diese Gewitterschwüle vorher war bedrückend und unbehaglich. Wolfgang betrat das »Jungenzimmer«. So wurde ihr gemeinsames Zimmer in der Familie genannt. Lump sprang an Peter hoch. Aber der hatte heute keine Lust, mit ihm zu tollen. »Unerhörte Schweinerei!« machte Wolfgang seinem Herzen in seiner derben Studentensprache Luft.

»Was ist denn los?« Peter wußte eigentlich ganz genau, was los war. Er hatte es ja den ganzen Tag gefürchtet, daß der Brief aus der Schule noch ankommen würde.

»Was los ist? Vater hat den blauen Brief bekommen.«

Peter schnappte nach Luft. Da war er wieder, der Kloß in seinem Halse.

»Du, Wolfgang, bis Ostern sind doch noch zwei Monate.«

»Na und ...? Glaubst du etwa, daß sich da was ändern wird? Eine Gemeinheit!«

»Es ist sicher ungerecht, Wolfgang.«

»Was soll denn bloß jetzt werden?« Der Student lief aufgeregt auf und ab. Lump verwundert hinterdrein. Wolfgang gehörte zu den Menschen, die alle unangenehmen Vermutungen vorher von sich schieben. Wenn sie dann eintreffen, werden sie von den Tatsachen erschlagen.

»Du, Wölfchen, wenn du mir helfen würdest ...«, begann Peter mit einer an ihm ungewöhnlichen Zaghaftigkeit.

»Was soll ich dir denn schon wieder helfen? Hab' jetzt wirklich wichtigere Dinge im Kopf.«

»Den doofen Lehmannschen Jungs hilfst du doch auch, daß sie zu Ostern versetzt werden. Gib mir doch auch Nachhilfestunde. Paß auf, dann werde ich am Ende doch noch versetzt.«

»Was – du Bengel? Bleibst du etwa sitzen? Das fehlt auch noch.«

»Du hast doch selbst eben gesagt, Vater hätte den blauen Brief bekommen.« Peter wurde aus dem Bruder nicht klug.

»Aha, jetzt geht mir 'n Seifensieder auf. Ich wünschte, es wäre nur der blaue Brief aus der Schule. Vater ist abgebaut worden zu April. Die Kündigung nennt man ›den blauen Brief kriegen‹.«

»Gott sei Dank!« Ein Stein plumpste Peter vom Herzen.

»Mensch, bist du toll? Weißt wohl gar nicht, was du da sagst, du Idiotenhäuptling?« räsonierte der große Bruder. »Wie kann man mit dreizehn Jahren noch solch ein Mondkalb sein! Verstehst du denn nicht, wieviel wichtiger das ist, daß Vater seine Stellung hat, als daß du versetzt wirst?« Wolfgang hatte Peter in seiner Aufregung an die Schulter gepackt und schüttelte ihn hin und her.

»Na ja – natürlich. Solch Mondkalb bin ich gar nicht. Aber ich kann mich doch darüber freuen, daß ich keinen blauen Brief bekommen habe«, verteidigte sich Peter.

»Du bist und bleibst ein Esel!« Mit diesem sanfteren Kosewort ließ Wolfgang den Jungen laufen.

Das war heute ein merkwürdiges Abendbrot. Der Vater war niedergeschlagen. Er sprach kaum. Um so mehr redete die Mutter. Über alles mögliche. Was ihr gerade in den Kopf kam. Nur nicht gerade über das, was sie alle bewegte. Renate half ihr dabei. Sämtliche Schulerlebnisse kramte sie heraus. Aber es wollte nicht gelingen, den Vater von seinem Kummer abzulenken.

Wolfgang stocherte appetitlos in seinen Bratkartoffeln herum. Peter aß für zwei. Gitta sah befangen von einem zum andern. Ihr war die ganze Geschichte recht ungemütlich. Selbst Lump hatte Verständnis für die bedrückende Atmosphäre. Er witterte, da war etwas nicht in Ordnung. Er sprang nicht von einem zum andern. Er machte nicht schön. Still und bescheiden zog er sich unter den Tisch zurück. Denn Lump hatte mehr Herzenstakt als mancher Mensch.


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