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Zwölftes Kapitel.
Im Strandbad Wannsee

Die Berliner haben es gut. Ist der Geldbeutel zu schmal, um in den Sommerferien mit den Kindern zu verreisen, dann fährt man jeden Morgen mit Kind und Kegel, mit Proviantkoffern und Badezeug ins Strandbad Wannsee. Dort bleibt man meist den ganzen Tag über, nimmt Sonnen- und Wasserbäder.

Jeden Tag konnte Renate nun freilich nicht an den Wannseestrand. Wenn auch ihr Stahlroß sie kostenlos hinausbeförderte, zwanzig Pfennige Eintrittsgeld täglich durfte sie sich nicht leisten. Auch hatte sie ja Dienstag und Freitag an den beiden Markttagen Pflichten bei Mutter Buttermilch und ihren Kolleginnen. An diesen Tagen hielt sie im Haushalt Generalreinigung ab und kochte das Essen für den nächsten Tag vor. Mittlerweile hatte sie sich auch in der Küche vervollkommnet. Denn die Erfahrung ist die beste Lehrmeisterin.

Durch die Blumenanlagen oberhalb des Strandes gingen Renate und ihre Freundin Mia. Jede führte ein Kind an der Hand. Das waren Elli und Nelli, Mias kleine Schwestern. Webers waren in diesem Jahre auch nicht verreist. Nur der Vater hatte an einer Nordlandsreise, auf der er Studien machen wollte, teilgenommen. Frau Weber fuhr mit ihren Kindern jeden Tag ins Strandbad. Sie sagte, da hätte sie mehr Erholung, als wenn sie in einem Seebad Küche führen müßte. Und außerdem war's billiger. Für Renate war es eine große Freude, daß sie das Strandbad gemeinsam mit Mia besuchen konnte.

»Nelli, keine Blümchen abreißen, sonst sperrt dich der Strandwärter ein.« Mia wehrte erschreckt dem vierjährigen Blondkopf, der die schönsten Dahlien für »Mutt« pflücken wollte.

Elli, die schon ein Jahr in die Schule ging, buchstabierte mühsam den Vers, der auf einer Tafel in den Anlagen zu lesen war:

»Ach, ich weiß, ihr liebt die Blüten
In den Beeten und am Strauch.
Ist's nicht Pflicht, daß wir sie hüten?
Denn unser Nachbar liebt sie auch.«

An den Sonnenterrassen vorbei, auf denen man Sonnenbäder nahm, wo Gymnastik getrieben und nach Grammophonmusik getanzt wurde, stiegen sie die großen Freitreppen zum Strande hinab.

»Renate, wollen wir heute Pingpong spielen?« fragte Mia, interessiert den Tischtennisspielern, die im Badeanzug auf der Pingpongterrasse geschickt die kleinen Bälle schlugen, zuschauend.

»Au ja, dann sind wir Balljungen, Nelli und ich.« Elli klatschte erfreut in die Hände.

»Ist zu teuer, Mia. Ich habe mir vorgenommen, vom Wirtschaftsgeld zu sparen. Mutti muß diesen Winter unbedingt einen neuen Mantel kriegen.«

»Fabelhaft, Renate, wie ihr Kinder für eure Eltern sorgt. Bei uns ist die Sache noch ganz unmodern. Unsere Eltern sorgen für uns Kinder.«

»Sei froh, daß sie's können. Ich wünschte, es wäre bei uns auch noch so wie früher. Aber wenn es nicht geht, muß eben die Jugend einspringen«, meinte Renate ganz selbstverständlich.

Von der Freitreppe genoß man einen weiten Blick über den tiefblauen Wannsee. Segelboote schaukelten sich wie weiße Möwen auf der glitzernden Wasserfläche. Es jauchzte, spritzte, strampelte aus dem Wasser.

Die jungen Mädchen betraten die Kabinenhallen. Jede Gruppe der Kabinen war in einer andern Farbe und mit Buchstaben bezeichnet, damit man die richtige wiederfand. Es gab Dauer- und Wechselkabinen zum Entkleiden. Natürlich wählten sie eine Wechselkabine, weil es billiger war. Jede von ihnen nahm einen der Weberschen Blondköpfe mit in seine Zelle. In der Bretterwand befand sich ein kleines Türchen mit Schalloch. Man erhielt einen Sack mit Bügel zum Verwahren der Kleidungsstücke. Der Sack und die Kleider wurden durch das Türchen in die allgemeine Garderobe zurückgereicht. Dafür erhielt man eine Garderobennummer mit einer Kette, um den Hals zu hängen.

»Renate, ich möchte die Kette umbinden, bitte, bitte«, bat Elli, Renates Pflegling.

»Gib sie ihr nicht, sie verliert sie«, warnte Mia.

»Wenn ich sie an der Kette trage, kann ich sie doch nicht verlieren. Renate ist viel besser als du.« Stolz schielte Elli auf ihre Garderobenkette, die ihr Renate gutmütig umgehängt hatte.

Nun spazierten sie alle, Renate mit Rucksack und Knipskasten bewaffnet, in Badeanzügen zum Strande. Unter den Wandelgängen waren Verkaufsläden mit allem, was zum Strandleben gebraucht wurde. Elegante Badeausrüstung, Strandanzüge und einfache Trikots, Gummikappen in leuchtenden Farben. Strandschuhe, Wassertiere zum Aufblasen, große Sonnenhüte, bunte Papierschirme lagen dort in den Schaufenstern. Warme Würstchen, daneben ein Friseurladen mit Ondulation und Dauerwellen und eine Wasch- und Bügelanstalt. Konfitüren- und Zigarettenläden, Eisdielen, Konservengeschäfte, Bücher- und Photoläden. Berliner Weißbierstuben und Milchhallen, Obstbuden, Ansichtskartenstände, Zeitungshändler. Ja, auch eine Sanitätswache mit Roter-Kreuz-Schwester, die bei Unglücksfällen erste Hilfe leistete. Für alles war hier gesorgt.

Am Strande wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Man mußte sich vorsehen, nicht auf nackte Arme oder Beine zu treten.

»Gut, daß wir Mutts Strandkorbnummer wissen«, meinte Mia. »Sonst würden wir uns in dem Gewühl sicher nicht finden.« Ihre Mutter war der Hitze wegen von der Bahnstation mit dem Autobus zum Strandbad gefahren.

»Da ist Mutt.« – –

»Mutt – Muttchen!« Elli und Nelli stürzten auf die im Strandkorb sitzende Frau Weber zu.

»Tag, Mutt, bist du schon lange da?«

»Guten Tag, Frau Weber.« Renate machte ihre Verbeugung, die in dem leuchtend blauen Badeanzug etwas drollig wirkte, und zog die ihr freundlich gereichte Hand der Dame an die Lippen.

»Guten Tag, kleine Hausfrau. Na, wie schaut's aus zu Hause, was hast du inzwischen alles anbrennen lassen?« scherzte Mias Mutter.

»Gar nichts, Frau Weber. Im Gegenteil, Wolfgang meint, wenn Mutti noch einige Monate fortbliebe, würde ich mich allmählich zu einem ganz nützlichen Küchengewächs entwickeln«, ereiferte sich Renate.

»Gehen wir gleich ins Wasser, Renate?« Mia war eine Wasserratte.

»Erst abkühlen, Kinder, ihr seid noch zu erhitzt«, verlangte die Mutter.

»Bei dieser Affenhitze hier am Strand wird man höchstens noch heißer.« Mia warf sich in den Sand.

»Prima frisches Eis jefällich?« erklang es den Strand entlang.

»Der Eismann! Mutt, dürfen wir uns eine Eiswaffel kaufen?«

»Ach ja. Mutt, es ist soo heiß. Da ist der Eismann.« Sobald die Kinder etwas von Hitze hörten, begannen sie um Eiswaffeln zu quälen.

»Nein, Kinder, ihr verderbt euch nur mit dem kalten Zeug den Magen. Ich habe Obst mitgebracht. Das erfrischt noch mehr.«

»Nee, Mutt, ach nee! Eiswaffeln schmecken tausendmal besser.«

Als ob der Eismann ahnte, wo er seine Kunden zu suchen hatte, wand er sich mit seinem Grönland-Eiscremewagen durch das Durcheinander von in der Sonne Schmorenden, durch alle Liegestühle, Strandkörbe und strampelnden kleinen Nackedeis hindurch bis zu Strandkorb 423. Er trug einen Riesensonnenhut von der Größe eines Schirms auf dem Kopf.

»Prima frisches Eis jefällich? Was soll's denn sein, junge Herrschaften? Erdbeer-, Vanille-, Schokoladeneiswaffeln – prima frisches Eis jefällich?«

»Schokoladeneis«, sagten die kleinen Webers mit leuchtenden Augen und klopften sich den Bauch.

Ehe die Mutter noch Einspruch erheben konnte, hatte jedes von ihnen eine Eiswaffel in der Hand – selig leckten sie. Frau Weber mußte gute Miene dazu machen. Sie war so nett, den jungen Mädchen ebenfalls eine Eiswaffel zu verehren.

»Prima frisches Eis jefällich?« Der tüchtige Geschäftsmann hatte heute bei der Hitze guten Absatz. Überall leckte und lutschte es an den erfrischenden Waffeln.

»Sieh mal, Renate, wie famos die da krault, die ganz rechts.« Es war Mias eifriges Bestreben, ebenfalls kraulen zu lernen.

»Was schreiben die Eltern, Renate? Geht es ihnen gut?« erkundigte sich Frau Weber.

»Danke, Mutti schreibt, Vater erhole sich zusehends. Er wäre dort viel frischer und heiterer als in Berlin. Mutti macht sich natürlich Sorge um uns hier; Mutti muß eben immer was zu sorgen haben.«

»Das haben die Mütter so an sich«, kam es irgendwoher aus dem Sande.

»Mia, sei nicht naseweis«, verwies Frau Weber ihre Kritik übende Tochter. »Du bist so tüchtig, Renate, daß deine Mutter in der Tat sich keine Sorgen zu machen braucht. Bei Mia liegt die Sache schon anders.«

»Erlaube mal, Mutt, ich kann ebensogut was anbrennen lassen wie Renate.«

»Mia, ist das Freundschaft?« Renate kniff sie zur Strafe ins Bein.

»Au, ein Krebs hat mich gezwickt«, kreischte Mia lachend.

Die beiden Kleinen hatten inzwischen ihre Sandschaufeln geholt. Sie begannen die beiden im Sande liegenden Mädchen einzuschaufeln. »Begraben« nannten sie das sinnige Spiel. »Nachher pflanzen wir Blümchen auf euch.«

»Wehe euch, wenn uns einer begießt wie neulich.« Mia kannte die kleinen Quälgeister.

»Kopf und Hände müßt ihr frei lassen«, verlangte Renate. »Ich habe hier einen Brief von Gitta. Der Postbote brachte ihn gerade, als ich von Hause fortging, den muß ich lesen.«

»Dann buddeln wir erst Mia ein.«

»Die Füße von Renate können wir auch schon einpflanzen.« Während Klein-Nelli ein Eimerchen Sand nach dem andern über Renates sonnengebräunte Beine ausschüttete, während Mia sich mit Niveacreme einsalbte, um recht braun zu werden, während neben ihnen ein Grammophon »Es war einmal ein Musikus, der geigte im Café« spielte und verschiedene Paare zwischen all den sich im Sande Sielenden danach tanzten – bei Kindergeschrei und Jauchzen der Badenden las Renate den Brief der kleinen Schwester.

»Liebes Renatchen und liebes Wölfchen!« schrieb Gitta. »Ich bange mich schon doll nach Euch. Nach Peter nicht. Der neckt mich ja doch bloß. Hier bei Oma ist es fein. Sie kocht immer meine Leipgerichte. Ein süßes kleines Kätzchen haben wir. Und eine Freundin habe ich auch schon. Sie heißt Gerda und ißt aus Königsberg. Ulkisch spricht die. Ich muß immer lachen. Das kann Gerda nicht leiden. Wir gehen zusammen baden. Aber allein läßt Mutti uns nicht. Mutti ißt hier wieder fergnügt. Sie hat noch kein mal geweint wie in Berlin. Oma sagt Der liebe Gott wird schon für uns sorgen. Und Oma muß es doch wissen, weil sie schon so alt ist. Wie geht es Dir? Mutti sagt zu Oma, Du wärst Ihre rechte Hand. Ist das nicht ulkisch? Ich möchte Ihre linke Hand sein. Daß bin ich aber nicht, weil ich mich gern von Helfen drücke. Habt Ihr garkeine Angst vor den Japaner? Ich hätte doll Angst allein mit ihn und sein olles Zauberbuch. Meine Zöpfchen sind hier schon doll gewaxen. Ich auch. Ein ganzes Stück, meint Vati. Es grüßt euch eure Gitta.«

Darunter hatte die Mutter noch Grüße und verschiedene häusliche Anfragen angefügt. »Gitta muß jetzt täglich ein Diktat schreiben. Sie hat so viele Fehler in dem Brief gemacht. Sie darf nicht alles vergessen. Sie sieht so rotbäckig wie ein kleines Bauernmädel aus. Ich wünschte, ich hätte Euch alle hier.«

Renate schloß die Augen. Ganz deutlich sah sie das Häuschen, in dem die Oma wohnte, vor sich. Da saßen sie jetzt in der Jasminlaube und richteten das Gemüse vor. Vater las die Zeitung, und Gitta – – –. »Au, nicht ins Gesicht, Gitta.« Renate hatte eine Schaufel Sand über den Kopf bekommen.

»Ich heiße doch Nelli«, lachte die kleine Missetäterin. Mia gab dem Schwesterchen temperamentvoll einen Klaps auf die Hand, so daß es in lautes Geheul ausbrach. Die Mutter beruhigte und schalt auf Mia. Das Grammophon plärrte mit Nelli um die Wette.

»Saure Jurken – Soleier jefällich? Det jibt Laune, det jibt Saft, det jibt in die Knochen Muskelkraft!« Der Saure-Gurken-Mann war aufgetaucht. In jeder Hand trug er einen Eimer mit sauren Gurken und Soleiern.

»Zwei Jroschen die Wiener, warm sind se noch – kalt werden se doch!« rief der Wurstmaxe mit seinem blanken Kessel dazwischen.

»Prima frisches Eis jefällich?« »Eisjekühlte Millich – die is sehr billich!« So schrie es durcheinander.

Das Trugbild von Omas Häuschen zerfloß. Renate lag am Wannseestrand und wurde von der heulenden Nelli eingebuddelt. Neben ihr bemühten sich zwei junge Leute, »Kerze« zu machen und ihre Beine senkrecht der Sonne entgegenzustrecken. Dort hantelte einer und fuchtelte mit den Armen wie eine Windmühle in der Luft umher. Hier boxten zwei mitten in dem Strandgewühl. Bewundernd schaute das Publikum zu und feuerte die Kämpfenden mit Zurufen an. »Jib's ihm tüchtig, Willem – immer ruff, Nauke mit de Pauke – au, der hat Betonmuskeln – Sie, machen Se mal 'n Knoten in 'n Funkturm!« Der Berliner Witz blühte hier draußen im Strandbad.

»Hurra – Hurra – der Photograph ist da! Entzückendes Bild, meine Herrschaften, höchst gelungene Aufnahme. Wieviel Abzüge bestellen Sie?« Gerade vor Strandkorb hatte der Photograph Aufstellung genommen und zückte den Apparat.

»Knipskasten haben wir selber«, lachte Renate, auf ihren Kodak weisend.

»Photographieren am Strande ist fürs Publikum verboten.« Der Photomann wies auf eine Tafel, welche eine diesbezügliche Inschrift für die Badegäste trug. Dann ging er ein Haus oder vielmehr einen Strandkorb weiter. »Hurra – Hurra – der Photograph ist da.«

»Dabei knipst hier fast ein jeder heimlich«, lachte Renate hinter ihm her.

»Abfassen darf man sich dabei nicht lassen«, meinte Mia. »Aber nun wollen wir doch endlich ins Wasser.«

»Nee, erst frühstücken. Ich habe so mächtigen Hunger, Mutt«, bat Elli.

»Ich habe auch so'n Hunger«, kam das Echo von Nelli hinterdrein.

»Und ihr seid überhaupt noch gar nicht richtig begraben.«

»Kinder, laßt das dumme Spiel. Geht jetzt mit Mia und Renate baden. Gefrühstückt wird nachher«, ordnete die Mutter an.

»Aber wenn ich doch so mächtig verhungere.«

»Elli, quäle nicht, du weißt doch, daß du mir zu Hause versprochen hast, ganz brav zu sein.«

» Ich bin ganz brav, nicht Mutt?« Nelli fiel der Mutter um den Hals vor Freude, daß sie diesmal artig war.

Mia und Renate sprangen auf die Füße und zeigten, daß sie noch ganz lebendig waren.

»Ich nehme Nelli, und du nimmst Elli an die Hand, Renate.«

»Mich braucht überhaupt keiner anzufassen, ich bin doch schon sieben«, empörte sich Elli.

»Seid vorsichtig, Kinder, daß nichts passiert.« Frau Weber badete erst später, weil einer den Strandkorb mit dem Proviant bewachen mußte.

»Och, Mutt, es gibt ja Rettungsringe«, meinte Mia unbesorgt.

»Und Rettungsschwimmer und Rettungsmotorboote«, beruhigte auch Renate Mias Mutter.

»Macht lieber keinen Gebrauch davon.«

Nelli war wasserscheu. Sie wollte durchaus nicht ins Wasser. Und als die große Schwester sie kurz entschlossen auf den Arm nahm und mit ihr untertauchte, schrie sie gellend: »Ich hertrinke – ich hertrinke!« Da sich dieses Manöver fast täglich wiederholte und der Schreihals nachher nicht wieder aus dem Wasser rauszukriegen war, machte ihr Hilferuf wenig Eindruck.

Elli war mutiger. Die jauchzte und hopste mit Renate, spritzte die Kleine übermütig und machte »Dampfer«. Renate mußte sie am Badetrikot festhalten; sie legte sich auf den Rücken und strampelte mit den Beinen, daß ein weißer Strudel umherspritzte und alle in der Nähe Badenden kreischend Reißaus nahmen. Trotzdem genossen Mia und Renate das Schwimmen erst richtig, als die beiden Kleinen wieder glücklich bei der Mutter abgeliefert waren und, in ihre Bademäntel gehüllt, sich mit Frühstück stärkten.

Sie machten Kopf- und Hechtsprung vom weit hinausgebauten Steg, sie schwammen um die Wette und unter Wasser und versuchten zu kraulen. Das war aber eine schwierige Kunst, die gelernt sein wollte. Selbst Mia beherrschte sie nicht.

»Kinder, bleibt nicht so lange im Wasser – kommt raus«, rief Frau Weber.

Die beiden hörten nicht oder taten wenigstens so. Die schwammen weit hinaus in den Wannsee, wo die Dampfer nach der Pfaueninsel, nach Potsdam und nach Spandau vorbeifuhren. Es war ihr größtes Vergnügen, den Dampferpassagieren zuzuwinken. Segel-, Paddel- und Motorboote zogen plätschernd neben ihnen ihre Wasserstraße. Manch fröhlicher Zuruf galt den beiden tüchtigen Schwimmerinnen.

»Mein Bruder Fritz wird sich im nächsten Jahr ein Paddelboot anschaffen. Und Ilse will ein Zelt zusammensparen, daß wir draußen an der Havel übernachten können«, erzählte Mia, wassertretend.

»Knorke.« Einen Augenblick dachte Renate bedauernd, daß Wolfgang und sie solche Wünsche nicht hegen durften, da es immer Notwendigeres gab. Fritz und Ilse Weber, Mias Geschwister, waren schon erwachsen. Fritz studierte Forstwissenschaften, und Ilse wollte Bibliothekarin werden.

War das herrlich, auf dem Rücken liegend in das Himmelsblau zu dösen und sich von der Strömung treiben zu lassen. Aber schließlich mahnte die verständigere Renate doch zur Rückkehr. Es war höchste Zeit. Elli und Nelli schrien bereits und winkten mit der Mutter um die Wette: »Zurück – ihr sollt zurückkommen!«

Nachdem Mia noch ein halbes dutzendmal »gesprungen« war, um den Genuß des Bades voll auszukosten, saßen sie endlich, triefend wie Wassernixen, wieder in der Sonne zum Trocknen. Schmeckten die Butterbrote und das Obst nach dem Bade gut.

»Jetzt wollen wir nach der Anstrengung schlafen. Wehe euch, wenn ihr uns stört, Gören. Einbuddeln ist nicht, Nelli«, teilte Mia den kleinen Schwestern mit und streckte sich in dem heißen Sand zur Ruhe. Renate folgte ihrem Beispiel.

»Reibe doch erst mit Niveacreme ein, Renate«, riet Mia. »Sieh bloß mal, wie der da drüben die Haut in Fetzen vom Hals und von den Armen hängt, die da drüben in dem lila Strandanzug.«

Lautes Klingeln ließ die Schläferinnen alsbald wieder aufschrecken. Es kam von dem kleinen Vorbau der Mittelterrasse, wo die Normaluhr angebracht war. »Kleiner dreijähriger Junge, Helmut Krause, abzuholen Block B.« Durch eine große Sprachtute wurde der verlorengegangene Helmut Krause dreimal ausgetutet, bis sich die dazugehörige Mutter einfand und ihren wiedergefundenen brüllenden Sprößling mit mütterlichem Klaps »Dir werd' ich das Fortlaufen anstreichen« in Empfang nahm.

»Wie viele Gören heute wieder ausgetutet werden. Können denn die Mütter nicht besser auf ihre Krabben aufpassen?« ereiferte sich Mia.

»Ich möchte auch ausgetutet werden«, sagte Elli voller Begeisterung.

»Ich auch!« kam Klein-Nellis Echo.

Frau Weber hatte Bekannte getroffen, die sie baten, mit ihnen auf ein Viertelstündchen zum Terrassenrestaurant zu kommen. »Paßt gut auf die Kleinen auf, Mädels, ich bin bald wieder zurück«, wandte sich die Mutter im Fortgehen zu Mia und Renate.

Mia knurrte Unverständliches im Halbschlaf. Aber Renate war ja so zuverlässig, die würde schon achtgeben.

Den Strand entlang jagte der Wind ein Blatt Papier. Gerade zu Renate flog es hin, als sie sich davon überzeugte, wie artig Elli und Nelli in kleinen Sandformen Kuchen backten. Es war ein Stück von einer illustrierten Zeitung. Etwas feucht war es. Wahrscheinlich war eine saure Gurke darin eingewickelt gewesen. Unwillkürlich las Renate, sich in der Sonne aalend, die fett gedruckte Überschrift: Photopreisausschreiben. Erster Preis = 100 Mark.

Renate hielt rasch die Hand auf das unsaubere Blatt, damit der Flüchtling nicht weiterfliegen konnte. Photopreisausschreiben, das interessierte sie. Sie vertiefte sich in die Bedingungen. Amateurphotos, drollige Kinderbilder, sollten bis zum 15. August des Jahres an die Redaktion der Zeitung eingesandt werden. Der Hauptpreis betrug hundert Mark – alle Wetter, Renate, das lohnte sich. Dann kamen kleine Preise bis zum Trostpreis von zehn Mark herunter. War auch nicht zu verachten, solch ein Trostpreis. Wieder studierte Renate das Preisausschreiben. Hallo – da war ja die Zeitungsredaktion angegeben. Sie hatte doch so viele nette Aufnahmen daheim in ihrer Photomappe. Erst neulich hatte Fräulein Lerche, der sie die Bilder gezeigt hatte, geäußert, daß einige in der Tat künstlerisch seien. Probieren konnte sie es immerhin. Schlimmstenfalls hatte sie das Porto umsonst daran gewendet. Welches sollte sie schicken? Irgendeine ulkige Aufnahme von Lump? Aber es sollten ja Kinderbilder und keine Tieraufnahmen sein. Wieder zum soundsovielten Male studierte Renate die geforderten Bedingungen. Sie dachte nicht mehr daran, daß da drüben die beiden Kinder im Sande spielten, die sie beaufsichtigen sollte. Dem Fetzen Zeitungspapier galt allein ihr Denken.

Ja, spielten denn die beiden Kinder noch da drüben?

»Du, Nelli«, hatte Elli geflüstert, nachdem die Mutter fort war, »Du, wollen wir uns mal austuten lassen?«

»Au ja!« Elli legte Nelli die Hand auf den Mund und schielte zu den im Sande bratenden großen Mädchen hinüber. Mia schlief fest, die merkte nichts. Und Renate? Ach, die las ja gerade. Elli nahm Nelli an die Hand und rannte mit ihr davon, mitten hinein in das ärgste Menschengewühl am Strande. Sie stapften durch den Sand hierhin und dorthin. Lauter fremde Menschen in Badeanzügen, lauter Kinder, die alle ihre Mutti hatten. Es wurde Nelli ungemütlich zumute.

»Ich will wieder zu Mutt«, sagte sie weinerlich.

»Erst müssen wir ausgetutet werden.« Elli war zielbewußt. Aber wie fing man das bloß an? »Wir wollen zu dem Tutenmann da oben auf der Terrasse gehen und ihn bitten, daß er uns austutet.« Sie zog das Schwesterchen die Steinstufen zur Mittelterrasse empor. Au, die heißen Steine brannten an den nackten Füßchen.

Gerade hatte der Strandwächter drei Kinder oben eingeliefert, die ihre Mutter verloren hatten. Sie weinten alle drei. Ein Junge brüllte wie am Spieß: »Ich will wieda bei meine Mutta!«

Als Nelli die andern Kinder heulen sah, begann sie in das Konzert mit einzustimmen.

»Blöke nicht, Nelli, hör' nur, wie schön die große Klingel bimmelt. Gleich werden wir ausgetutet.«

Aber Nelli wollte gar nicht mehr ausgetutet werden. Die wollte nur wieder zu ihrer Mutt, zu Mia und Renate. Sie heulte aus Leibeskräften mit den andern im Verein.

»Kleiner blonder Nackedei, heißt Peter, etwa zwei Jahre alt.« In alle Winde verkündete die große Tute es. Dann kam Rosemarie Hering an die Reihe. Und zuletzt der brüllende Horst Dieter Dampfnudel.

»Nun sind wir dran.« Elli zog das Schwesterchen energisch zu dem austutenden Beamten. Sie machte in ihren Strandhöschen einen Knicks.

»Ach, Herr Tutenmann, bitte tuten Sie uns doch auch aus«, bat sie.

»Nanu, wie kommt ihr denn hierher?« verwunderte der sich. »Seid ihr verlorengegangen?«

»Nee, ausgerückt«, teilte Elli dem Beamten verschmitzt mit. Sie war ein wahrheitsliebendes Kind.

»Das ist ja eine recht nette Geschichte. Warum seid ihr denn ausgerückt? Wißt ihr denn nicht, daß es dafür Kloppe gibt?«

Freilich, das wußten sie. »Wir möchten doch so schrecklich gern mal ausgetutet werden. Bitte, bitte, lieber Herr Tutenmann, tuten Sie uns doch aus«, bettelte Elli, während Nelli unentwegt »Ich will wieder zu meiner Mutt« schluchzte.

»Aha!« sagte der Tutenmann schmunzelnd. Aber er schien Verständnis für kindliche Wünsche zu haben. »Wie heißt ihr beiden Ausreißer denn?« erkundigte er sich.

Gerade als Frau Weber sich von ihren Bekannten im Strandrestaurant verabschieden wollte, gellte die Sprechtute von der Terrasse dazwischen: »Elli und Nelli Weber, sieben und vier Jahre alt. Abzuholen Block B.«

»Unsere Kinder – um Himmels willen, unsere Kleinen sind verlorengegangen!«

Frau Weber vergaß vor Schreck, sich zu verabschieden. Sie wußte nicht, wie sie zur Terrasse hinaufkam. Ihre Beine zitterten. Trotzdem die Kinder doch da oben in Sicherheit waren.

Mia träumte gerade, wie tadellos sie kraulen konnte, da schrillte in das Traumland die Tute: »Elli und Nelli Weber ...« Sie fuhr empor. Hatte denn Renate nicht acht auf die Kleinen gegeben?

»Elli und Nelli Weber.« Renate ließ ihr Photopreisausschreiben entsetzt aus der Hand gleiten. Hui – packte es der Wind und wirbelte es davon. Mitten hinein in den Wannsee.

Im Wettlauf rasten Mia und Renate zur Austutestelle. Dort trafen sie mit Frau Weber zusammen. Die hatte keine Zeit, den beiden Vorwürfe zu machen, daß sie so schlecht auf die Kleinen aufgepaßt hatten. Nelli flog ihr schluchzend mit dem Jubellaut: »Da is meine Mutt!« um den Hals. Und Elli sagte selig mit einem wohlerzogenen Knicks: »Fein war's. Vielen Dank, Herr Tutenmann!«

»Ein andermal nehmen Sie die beiden Ausreißer an die Leine, meine Dame, daß sie nicht wieder auf und davon gehen können.« Damit übergab der »Tutenmann« Frau Weber ihre Sprößlinge.

Als man glücklich wieder am Strandkorb anlangte, waren Rucksack und Proviantkoffer verschwunden. Ein Glück, daß Renate ihren Kodak in der Hand behalten hatte. Sonst wäre der wohl auch auf und davon gegangen wie Elli und Nelli.


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