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Drittes Kapitel.
Von Kohlrouladen und Frühlingssonne

Die Frühlingssonne meinte es schon gut. Das Eis auf dem Lietzensee zerbarst. Die Schulkinder vergnügten sich jetzt damit, der Sonne bei ihrer Arbeit, die Eisdecke zu sprengen, zu helfen. Kleine Steine schleuderten sie auf die weiße Fläche. Wetten wurden veranstaltet, wer die meisten Löcher warf.

Peter und Gitta Felsing, die der Schulweg täglich am Lietzensee vorüberführte, waren eifrig mit dabei. Es eilte ihnen jetzt nicht so sehr mit dem Heimkommen. Zu Hause war es gar nicht mehr so schön wie früher. Man hatte immer das Gefühl, irgend etwas ausgefressen zu haben, wenn man auch ein gutes Gewissen haben konnte. Peter ließ sich durch Basteleien jetzt weniger von seinen Schulpflichten ablenken, um die Osterversetzung nicht doch noch zu gefährden. Gitta war fleißig und gewissenhaft in der Schule, wenn sie auch zu Hause als Kleinste etwas verzogen wurde. Sonst war Mutti immer der fröhliche Kamerad ihrer Kinder gewesen. Ein jedes kam mittags mit seinen Schulerlebnissen zur Mutter. Sie hatte Interesse und Verständnis für alles. Aber wenn die Kinder jetzt aus der Schule heimkehrten, dann fanden sie die Mutter weder heiter noch so teilnehmend an ihren kleinen Freuden und Sorgen. Kinder haben einen sicheren Instinkt dafür, ob sich die Erwachsenen in ihre Welt einfühlen können. Peter merkte, wenn er von einem Boxsieg, von einem neuen Film, einem fabelhaften Radioverstärker erzählte, daß die Mutter dieser wichtigen Angelegenheit nur halbe Aufmerksamkeit schenkte. Über die neuesten Schulwitze konnte sie gar nicht mehr so herzlich lachen wie sonst. Und neulich hatte Gitta sogar entdeckt, daß in Muttis braunem Haar ein Silberfaden schimmerte. Das erste weiße Haar. Ausgelassen hatte sie den Eindringling ausgerupft.

Nur für die Schulaufgaben und die Klassenarbeiten hatte die Mutter volles Interesse. »Ihr müßt euch jetzt ganz besonders zusammennehmen, Kinder, um was in der Schule zu leisten«, sagte sie. »Wer weiß, ob wir das Schulgeld weiter für euch zahlen können. Und nur gute Schüler bekommen Freischule.«

»Ich will gar keine Freischule.« Um Gittas Mund zuckte es weinerlich. Sie war noch so dumm, zu glauben, daß man nicht für voll angesehen wurde, wenn man kein Schulgeld bezahlte.

»Famos!« schrie Peter. »Wenn Vater das Schulgeld nicht mehr bezahlen kann, werde ich Lehrling in einem Radiogeschäft.« Das fand er bei weitem schöner, als in die Schule gehen zu müssen.

»Wer nimmt denn solchen dreizehnjährigen Knirps als Lehrling?« lachte ihn Renate aus.

»Na erlaube mal, ich bin nur noch einen halben Kopf kleiner als du.« Peter reckte sich.

Die großen Geschwister, Wolfgang und Renate, waren auch nicht so vergnügt wie sonst. Die nahmen teil an den Sorgen der Eltern. In der Schule unter den fröhlichen Altersgenossinnen vergaß Renate sie zum Glück. Da konnte sie scherzen und lachen wie alle andern. Aber wenn sie dann heimkam und die versorgten Augen der Mutter gewahrte, wenn der Vater auf alle seine Bewerbungsschreiben immer wieder bedauernde Absagen erhielt, dann verging ihr das Lachen. Rührend war sie in ihrer Fürsorge um die Eltern. Sie nahm der Mutter soviel Arbeit wie möglich ab. Immer redete sie ihr wieder zu, ins Freie zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen.

»Muttichen, heute mußt du mit uns spazierengehen. Die Krokusse blühen am Lietzensee.« Mit hellen Augen kam Renate an einem Märztage aus der Schule. »Es wird dir sicher guttun, du siehst so blaß aus.«

»Die Sorgen kann man nicht daheim lassen, mein Kind, die laufen hinter einem her.«

Gitta lachte hellauf. Es kam ihr zu komisch vor, daß die Sorgen hinter der Mutter herliefen.

»Du bist eine Gans!« rief Renate ärgerlich. »Mit zehn Jahren kann man wirklich schon ein bißchen mehr Verstand haben.«

Gitta war beleidigt. Das war sie öfters mal. Renate nahm keine Notiz davon.

Mutti fuhr liebevoll über Gittas krauses Blondhaar. »Laß unser Kleinchen nur so, wie es ist, Renate. Es ist unser Sonnenschein. Den Ernst des Lebens lernt sie leider früh genug kennen.«

»Mutti, wenn wir spazierengehen, nehme ich mein Jo-Jo mit«, rief Peter bei Tisch.

»Ich auch.« Gitta war wieder getröstet. Das Jo-Jo-Spiel war bei allen Schulkindern sehr beliebt. Beim Auswendiglernen von Gedichten und von Vokabeln wurde die Jo-Jo-Rolle kunstgerecht in die Höhe geschnellt. Peter hatte eine besondere Meisterschaft darin erlangt. Selbst Wolfgang und Renate, die beiden Großen, verschmähten es nicht, an den Jo-Jo-Wettspielen teilzunehmen.

Renate trug die Kohlrouladen auf.

»Du hast ja vergessen, die Fäden abzuwickeln. Soll Mutti die noch zum Nähen verwenden?« neckte Wolfgang die Schwester.

»Die kann sich jeder allein abmachen. Ihr müßt auch was zu tun haben«, verteidigte sich Renate.

»Peter, was machst du denn da, Junge?« rief die Mutter entsetzt.

»Ich spiele Jo-Jo.« Peter versuchte, seine Kohlroulade an dem Faden in die Höhe zu schnellen. Da riß der Faden. Die Roulade flog auf die Erde. Mit einem Satz hatte der auf seinem Stammplatz unter dem Tisch liegende Lump sie erwischt. Sie mundete ihm ganz vorzüglich.

Schallendes Gelächter folgte. Auch die Mutter stimmte mit ein, als sie Peters verdutztes langes Gesicht gewahrte.

»Verflixte Hundetöle!« Peter machte Miene, Lump seinen Raub wieder abzujagen.

»Laß doch dem Köter die Roulade. Du kannst sie ja doch nicht mehr essen«, trat Wolfgang für seinen vierfüßigen Freund ein.

»Ich habe aber noch Hunger.« Peter schielte betrübt nach der bereits geleerten Schüssel. Er hatte immer Hunger.

»Dann mußt du dich an Kartoffeln satt essen. Ein andermal spiele nicht mit Kohlrouladen Jo-Jo, mein Sohn.« Das war wieder ihre alte heitre Mutti, die so herzlich lachen konnte.

Nach dem Essen zogen sie alle in die Küche, um den Abwasch so schnell wie möglich zu beseitigen. Damit Mutti in die Frühlingssonne hinauskam. Nur Wolfgang mußte zur Unterrichtsstunde zu seinen Schülern.

Renate wusch das Geschirr ab. Peter und Gitta trockneten es. Mutti räumte es in den Schrank. Lump thronte auf dem Kohlenkasten und verfolgte von dort aus jede Bewegung wie ein Feldherr seine Truppen.

Hin und wieder warf Renate einen prüfenden Blick auf ihre Hände. Sahen sie wirklich schon »köchinmäßig« aus? Ihre Freundin Hanni behauptete es, als sie ihr erzählte, daß sie der Mutter jetzt mittags das Abwaschen abnähme.

»Ist ja wurscht«, sagte sie plötzlich laut aus ihren Überlegungen heraus.

»Wo ist Wurscht?« erkundigte sich Peter interessiert. Auch Lump spitzte die Ohren.

»Beim Fleischer«, lachte Renate ihn aus. »Wie kann man nur so verfressen sein.«

»Na, wenn ich mittags hungern muß«, beschwerte sich Peter.

»Junge, du hast zwei große Kohlrouladen und einen Berg Kartoffeln vertilgt. Wenn du die dritte zum Spielen benutzt, dafür kann keiner. Hoffentlich brauchst du nie mehr zu hungern als heute.« Die Mutter unterdrückte einen Seufzer. Eine Zentnerlast wälzte sich ihr auf die Seele.

Aber als Frau Felsing dann mit ihren dreien in den Vorfrühlingstag hinaustrat, weitete sich ihre Brust wieder. Am zartblauen Himmel weideten kleine Lämmerwölkchen. Der Wind jagte sie übermütig um den Funkturm herum, der wie aus Silberfiligran in die Luft ragte.

Es war nicht weit bis zum Lietzensee. Weidenverhangene Ufer bargen den See wie ein Kleinod. Hohe Pappeln hielten davor Wache. Aus dem lärmenden Getriebe der Großstadt stieg man hinunter zu den stillen Parkwegen, zu grünen Rasenflächen, auf denen Schneeglöckchen, Veilchen, gelbe und blaue Krokusse über Nacht emporgeschossen waren.

Heute war es nicht still in den Parkanlagen. Wie die ersten Frühlingsblumen hatte die Märzsonne die Kinder herausgelockt. Allenthalben lachende und lärmende Gören. Sie hopsten »Himmel-Hops« und »Faules Ei«. Sie warfen sich Bälle zu und ließen bunte Luftballons emporsteigen. Dort unten am See fütterten sie Schwäne und Enten. Auf den Sandspielplätzen buddelten die Kleinsten oder krähten aus den Kinderwagen heraus. Vogelgezwitscher und Kinderstimmen erfüllte die Luft.

Hier bekommt man wieder Mut und Hoffnung, dachte Frau Felsing und ließ sich auf eine der sonnigen Bänke nieder. Wenn man sieht, wie alles aus Winterstarre zum Leben emporringt, dann erwachsen einem selber neue Kräfte, mit seinen Sorgen fertig zu werden.

»Siehst du, Muttichen, ich hab's gewußt, daß es dir gut sein würde, herauszukommen«, frohlockte Renate. »Ganz anders schaust du schon aus. Die Augen sind viel klarer, und rote Backen hast du auch wieder. Paß mal auf, es wird noch alles gut.«

»Wenn Vater nur eine Stelle fände. Er hält es nicht aus, beschäftigungslos herumzusitzen. Sein Lebtag hat er pflichttreu gearbeitet.«

»Du hast ja so viele Briefe auf der Schreibmaschine für ihn getippt, Mutti. Einer wird bestimmt Erfolg haben.«

»Bis jetzt sind alle Bewerbungsschreiben ablehnend oder überhaupt nicht beantwortet worden. Ich kann heut' noch mal an deinen Paten, an Onkel Hartwig schreiben. Er ist bei einer Filmgesellschaft. Vielleicht weiß er eine Stelle für unsern Vater.«

»Ja, Vater und Onkel Hartwig sind ja Kriegskameraden. Der wird ihm sicher helfen. Onkel Hartwig ist gut.« Renate kannte ihren Paten zwar nur aus den Erzählungen der Eltern und aus seinen Fünfmarkgrüßen zu ihren Geburtstagen. Er lebte in München. Ihr treuer Begleiter auf allen Spazierwegen, der kleine Kodak hier, stammte auch aus der Fünfmarksparbüchse des Onkels.

»Was meinst du, Mutti, ob ich diesen Seeausschnitt mit Schwänen und den herabhängenden Weiden aufnehme? Das Licht ist augenblicklich günstig.«

»Wir müssen aber auch mit aufs Bild kommen«, verlangte Gitta, mit ihrem Jo-Jo jonglierend. Lump, wohl in der Annahme, daß es sich um eine Kohlroulade handle, sprang der auf- und abschnellenden Rolle nach. Knips, machte Renate. Gitta und Lump waren im Kasten drin.

Peter hatte Schulkameraden getroffen. Sie wollten alle vier zur Automobilausstellung hinüber, die unweit auf dem Messegelände eröffnet war. Dazu erbat er die Zustimmung der Mutter.

»Nein, Peter. Das kostet Eintrittsgeld. Wir müssen jetzt jeden Groschen sparen«, erhob die Mutter Einspruch.

»Aber Mutti, wir sehen uns ja nur die Autos an, die draußen parken. Fabelhafte Dinger sollen dabei sein.«

Gegen dieses billige Vergnügen war nichts einzuwenden. Gitta machte trotzdem Einwendungen. »Und ich? Ich soll hier ganz allein spielen? Nimm mich doch mit, Peter.«

»Ausgeschließt. Wir Männer wollen unter uns sein.« Fort war er, der Peter. Er hörte nicht mehr das Lachen von der Mutter und Renate, noch der kleinen Schwester empörten Ausruf: »So 'ne Gemeinheit!«

Lump, der keine rennenden Kinderbeine sehen konnte, ohne hinterdrein zu jagen, schoß wie ein Pfeil hinter Peter her.

»Nun habe ich gar keinen mehr zum Spielen.« Gitta nahm es Lump ernstlich übel, daß er nicht bei ihr geblieben war.

»Komm, Gittachen, ich spiele mit dir.« Renate zog die Kleine zu sich auf die Bank.

»Ach du! Du schanierst dich ja zu hopsen oder im Park zu rennen. Du tust immer, als ob du schon erwachsen bist«, machte die kleine Schwester abweisend.

Anstatt beleidigt zu sein, lachte Renate. »Es heißt: sich genieren, nicht schanieren. Menschenskind, wann wirst du endlich die Fremdwörter richtig lernen.«

»Gebrauche doch lieber kein Fremdwort, Brigittchen. Sage doch auf gut deutsch: Es ist dir peinlich, oder es ist dir unangenehm«, schlug die Mutter vor. »Im übrigen bist du recht undankbar, wenn Renate so nett sein will, mit dir zu spielen.«

Eigentlich hatte Gitta das schon selbst empfunden. Aber jetzt, wo die Mutter es aussprach, fühlte sie sich verletzt. Sie schob die Unterlippe vor. Es begann in ihrem Gesicht zu zucken. Und plötzlich rollten Tränen an der Nase herab. Knips, machte Renates Kodak.

»Mutti, Muttichen, Renate hat mich heulend geknipst. Das Bild muß sie wegtun, nicht wahr?« verlangte Gitta weinend.

»Aber Brigittchen, du großes Mädel! Schämst du dich denn gar nicht, hier im Park zu weinen und mir die Erholungsstunde zu beeinträchtigen?« fragte die Mutter vorwurfsvoll.

Nur um so heftiger rannen Gittas Tränen. Nicht einmal Mutti nahm sich ihrer an. Sie hatte es wirklich schlecht.

Ein paar kleinere Kinder, die sich hinter der Bank verstecken wollten, betrachteten voller Interesse das weinende Mädchen. »Die war unartig, die weint!« sagte ein kleiner Blondkopf.

»Das geht euch gar nichts an«, fuhr Gitta sie an. Erschreckt liefen die Kleinen davon.

Renate plauderte mit Mutti, als ob nichts geschehen sei. Sie kümmerte sich nicht um Gittas Empfindlichkeit. Die würde schon wieder Vernunft annehmen.

Vorläufig bockte Gitta noch. Sie sah nicht, wie lustig die Sonne auf dem Wasser glitzerte. Sie hörte nicht, wie jubelnd die Singvögel in dem noch kahlen Geäst den Frühling begrüßten. Unter all den lachenden und jauchzenden Kindern kam sich das törichte Mädel einsam und verlassen vor.

Da berührte etwas Kaltes, Feuchtes ihre herabhängenden Finger, die das Taschentuch zu einem Ball zusammenknüllten. Lump war zurückgekommen zu ihr. Die Hundetöle war besser als die Menschen.

Nun hatte sich ja Lump, um der Wahrheit die Ehre zu geben, wieder am Lietzensee eingefunden, weil er sich für Autos nicht so interessierte wie Tertianer. Es war ihm langweilig gewesen, die großen Dinger, die nicht mal fuhren und tuteten, zu beschnüffeln. Jetzt stand er vor Gitta und schaute sie aus klugen Augen prüfend an. O weh, die Kleine hatte geweint. Lump sprang auf die Bank und versuchte, Gitta das noch feuchte Gesicht zu lecken.

Gitta fuhr auf. »Du, für Küsse bin ich nicht, besonders nicht für Hundeküsse.« Dann zog sie ihren kleinen Gummiball aus der Tasche, schleuderte ihn den Weg entlang und unternahm ein Wettlaufen danach mit Lump. Bald hatte sie ihren Schmerz vergessen.

Die Mutter blickte ihrem Nesthäkchen nach. »Brigittchen muß sich ihre Empfindlichkeit abgewöhnen. Das Leben fragt nicht danach, ob einer empfindlich ist oder nicht. Das packt oft hart an.«

»Gitta ist als Kleinste doll verzogen worden. Vater und du, Mutti, ihr habt sie immer als Goldkind behandelt. Nun glaubt sie wirklich, daß sie was Besonderes ist und daß alles nach ihrem Kopf gehen muß«, meinte Renate mit erstaunlicher fünfzehnjähriger Weisheit.

»Am Ende muß die Henne noch von dem Küken lernen«, lachte die Mutter. Sie stand auf und nahm Renates Arm. Für längeres Sitzen war die Märzsonne doch noch nicht warm genug. Gitta kam herbeigelaufen und hing sich ganz selbstverständlich an Muttis andere Seite ein. Es war wieder Sonnenschein bei ihr. So langte man erfrischt und in guter Stimmung zu Hause an.

Wenn sie nur angehalten hätte, die gute Stimmung. Der Druck, der auf dem heimkehrenden Vater lag, wälzte sich von einem zum andern und drückte frohe Empfindungen nieder.

»Briefe für mich da?« war seine erste Frage. Ja, es waren zwei Briefe gekommen. Der Vater öffnete sie, während die Mutter in seinem Gesicht zu lesen versuchte. Als er sie wortlos auf den Schreibtisch legte, wußte sie, daß wieder eine Hoffnung getrogen hatte.

»Ich schreibe heute abend an Hartwig nach München. Der weiß sicher irgend etwas für dich, Ernst. Ihr habt zusammen im Schützengraben gelegen. Der vergißt die alte Kameradschaft nicht.« Es klang erstaunlich zuversichtlich.

»Hartwig wird froh sein, wenn er selbst noch in seiner Stellung ist. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, etwas zu finden«, war die Antwort.

»Wer wird denn so schnell verzagen, mein Alter«, schalt Frau Felsing liebevoll. »Von heut' zu morgen findet man bei der jetzigen Arbeitslosigkeit natürlich nicht gleich etwas Passendes. Wir müssen eben Geduld haben.«

»Und inzwischen ist man verhungert.«

»Aber Ernst, wie kannst du vom Verhungern sprechen, wenn du vor der Schüssel mit Kohlrouladen sitzt«, scherzte seine Frau, obgleich es ihr nicht danach zumute war. »Wir haben ja auch noch einen Spargroschen. Schlimmstenfalls muß der heran.«

»Wie lange kann eine sechsköpfige Familie davon leben? Die Kinder wachsen heran. Sie brauchen Kleidung, Schuhe, Schulbücher.« Die Sorge für seine Familie lag wie eine Zentnerlast auf dem Vater.

»Ja, zu Ostern brauchen wir alle drei neue Schulbücher«, stimmte Peter zu.

»Und ich muß einen neuen Sommermantel haben«, rief Gitta. Renate machte ihr mit den Augen ein Zeichen, ruhig zu sein. Sie sollte den Vater nicht noch mehr verstimmen. Aber die Kleine verstand sie nicht.

»Krieg' ich auch. Kannst ruhig mit den Wimpern klimpern. Nicht wahr, Mutti, du kaufst mir einen neuen Sommermantel? Steffi hat einen wunderschönen. Hellgrau. Einen eleganten Paletot.« Sie sprach das t am Ende aus.

Schallendes Gelächter war die Antwort. Alles lachte. Auch der Vater, trotz seiner Sorgen. Sogar Lump fiel mit ein.

»Paletot – Paletot! Hahaha!« Peter wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Heißt es auch.« Gitta kämpfte schon wieder mit den Tränen. »In meinem Buch steht es ganz deutlich mit einem t hinten geschrieben.«

»Aber das t wird nicht ausgesprochen, Gitta. Es ist ein französisches Wort«, belehrte sie die große Schwester.

»Na, wenn ich doch erst in der nächsten Klasse Französisch kriege! Mutti, der Peter soll mich nicht auslachen – der weiß auch nicht mehr als ich.« Gitta begann aus Mitleid mit sich zu weinen.

»Wer lacht unser Kleinchen aus?« Wolfgang erschien mit pünktlicher Verspätung. Er fuhr dem Schwesterchen tröstend über das Blondhaar.

»Na weine man nich, na weine man nich – in der Röhre stehn Klöße, du siehst sie bloß nich«, begann Peter ein altes Berliner Lied zu singen, um Gitta aufs neue aufzuziehen.

»Peter, du gibst jetzt Ruhe. Und du, Brigittchen, hörst auf zu weinen«, ordnete die Mutter energisch an. »Ihr wollt dem Vater den gemütlichen Abend doch nicht verderben?«

Da schwiegen sie beide beschämt. Gitta trocknete ihre Tränen und erkundigte sich: »Aber einen neuen Sommermantel bekomme ich doch, Mutti? Ich bin meinen alten ganz ausgewachsen, und ein Loch hat er auch schon.«

»Das wird sich alles finden.« Für heute schnitt Mutti damit die Verhandlung ab.

Gitta warf den Kopf zurück. Wenn Mutti sagte, das wird sich finden, war die Aussicht auf einen neuen Mantel nicht sehr groß. Sie wollte nicht immer in ererbten Sachen von Renate rumlaufen. Sie konnte doch nichts dafür, daß sie die Jüngste war. Daß die Eltern jetzt jede Ausgabe einschränken mußten, daran dachte das unverständige Kind nicht.


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