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Fünftes Kapitel.
Möbliertes Zimmer zu vermieten

Man gewöhnt sich an alles. Selbst daran, daß morgens früh keine Butter und keine Marmelade mehr auf dem Frühstückstisch steht und daß man seine Schrippen trocken essen muß. Daß man nicht soviel raufen und boxen darf, wie Peter das gewohnt war, weil man keine Reservehosen mehr im Schrank hat. Daß es nur am Sonntag Fleisch gibt und daß selbst die Kohlrationen knapper werden. Daß man Vater keinen Aschbecher mehr für seine Zigarren zu bringen braucht. Denn er hat sich das Rauchen abgewöhnt. Ja, daß Mutti manchmal verweinte Augen hat, sogar daran gewöhnt man sich schließlich.

An eins aber gewöhnten sich Felsings schwer. Daß man jetzt fremde Leute im Hause haben mußte. Mitten in ihrem traulichen Familienkreis waren plötzlich Fremde, auf die man Rücksicht nehmen mußte.

Vor dem ersten Mai hatten Zettel am Balkon und an der Haustür gehangen: Möbliertes Zimmer zu vermieten zwei Treppen rechts. Es war die einzige Möglichkeit, die Miete für die Fünfzimmerwohnung aufzubringen. Denn Felsings hatten noch ein ganzes Jahr Kontrakt.

Der Vater hatte ausgerechnet, daß sie in einer kleineren Wohnung gar nicht billiger wohnen würden. Wenn sie zwei Zimmer vermieteten und man ihnen die Hauszinssteuer erlassen würde, war die Miete, die sie dann noch zu zahlen hatten, geringer als in einer Dreizimmerwohnung. Und der Umzug kostete auch Geld.

Ja, wenn man vermietete! So einfach war das nicht. Es meldeten sich zwar eine ganze Menge Leute auf den Zettel an der Haustür. Denn die Wohnung lag in einer hübschen Straße Charlottenburgs, unweit vom Lietzensee. Man konnte doch nicht jeden in seinem Hause aufnehmen. Da kam eine alte gebrechliche Dame, die um Gottes willen keinen Kinderlärm vertragen konnte, da sie sehr nervös sei. Auch Klavierspiel falle ihr auf die Nerven. Dafür wünschte sie Familienanschluß und Küchenbenutzung. Ausgeschlossen. Peter und Gitta machten manchmal Krach für vier. Und Wolfgangs größte Freude war, am Klavier zu sitzen. Auch legte Frau Felsing gar keinen Wert darauf, eine Fremde jederzeit in ihrer Küche dulden zu müssen.

Dem an der Hochschule für Musik Studierenden mochte Frau Felsing auch nicht ihr Zimmer vermieten. Das konnte sie ihrem Manne, der jetzt soviel zu Hause war, nicht zumuten. Ein junges Ehepaar mit einem kleinen Kind, nein, der Säugling schrie sicher Tag und Nacht. Da mußten Fläschchen gewärmt und Windeln gewaschen werden. Wie würde dann ihre saubere Küche aussehen? Der Schriftsteller, der das Balkonzimmer gern haben wollte, schaute nicht danach aus, als ob er seine Miete pünktlich am Ersten zahlen könnte. Er machte einen ziemlich heruntergekommenen Eindruck.

Die Kinder waren nicht damit einverstanden, daß Mutti das Balkonzimmer vermieten wollte. Gerade jetzt, wo die Petunien anfingen zu blühen. Man hatte sie doch für die Mutter gepflanzt und nicht für den Japaner, der schließlich seinen Einzug in das Balkonzimmer hielt. Und Vaters Schreibtisch wurde auch für ihn leer gemacht. Wenigstens den Klubsessel hätte man doch mit ins Eßzimmer nehmen können, in dem Vater früher immer so gern seine Zigarre geraucht hatte. Peter war empört, daß man sein neues weißes Bett dem Schlitzäugigen ins Zimmer stellte und er auf einem Bettsofa schlafen mußte. Aber Frau Felsing wußte schon, was sie tat, daß sie das Balkonzimmer so komfortabel als irgend möglich einrichtete. Der Ausländer zahlte einen guten Preis dafür. Er studierte an der Technischen Hochschule, trotzdem er bereits den Doktortitel hatte. Zum Frühstück verlangte er nur heißes Wasser. Seinen Tee machte er sich selbst. Alle andern Mahlzeiten nahm er außerhalb des Hauses in einem japanischen Restaurant ein.

Die Kinder waren natürlich sehr neugierig auf den »Gelben«. Auf diese Benennung hatte man sich geeinigt. Gitta stellte ihn sich mit einem langen Zopf vor. Sie ließ es sich nicht ausreden, daß allenfalls noch die Chinesen und nicht die Japaner Zöpfe trugen. Japan und China, das lag ja da alles zusammen in Ostasien, wo man nie recht Bescheid wußte und immer eine schlechte Nummer erhielt, wenn man in der Schule gerade dabei herankam.

Als Doktor Ma-wu, so war der Name des neuen Mieters, am ersten Mai bei Felsings einzog, befanden sich die Kinder in größter Aufregung. Zum Spazierengehen waren sie nicht zu bewegen. Peter schwänzte sogar das Nachmittagsspielen von der Schule aus. Er mußte doch die Koffer mit heraufschleppen helfen und die weiteren Befehle des »Gelben« in Empfang nehmen. Vielleicht wünschte er die elektrische Lichtleitung, die Peter zum Bett hingezogen hatte, anders angebracht. Am Ende schlief er auf der Erde auf Kokosmatten. Dann konnte Peter sein Bett gleich wieder zurückschaffen. Wolfgang ging wie alle Tage in seinen elektrotechnischen Kursus. Japaner waren ihm von der Hochschule nichts Besonderes. Er würde den neuen Hausgenossen noch früh genug kennenlernen. Renate hatte am letzten Sonntag mit Peter eine Radtour zur Baumblüte nach Werder gemacht. Natürlich brachten sie jeder einen Armvoll Kirschblüten mit heim. Was – die gute japanische Vase, die noch von der Hochzeit der Eltern herstammte, wollte Renate dem »Gelben« mit Kirschblüten ins Zimmer stellen?

»Freilich, der Japaner soll doch gleich Heimatsgefühle in der neuen Umgebung haben. Und an Blüten ist er gewöhnt. Japan ist das Land der Blumen«, ereiferte sich Renate.

Die Mutter ließ sie gewähren. Es konnte ihr ja nur recht sein, wenn der Fremde sich wohl bei ihnen fühlte. Sie warf einen befriedigten Blick über das Zimmer.

»Seid höflich und zurückhaltend, haltet Ruhe im Hause und seid rücksichtsvoll, Kinder«, schärfte sie ihren beiden Jüngsten ein. Denn bei den Großen verstand es sich von selbst. »Und du, Brigittchen, daß du mir nicht mehr auf den Balkon läufst. Der Balkon gehört uns jetzt nicht mehr.«

»Doch, wenn er nicht da ist, kann ich doch ruhig wie sonst meine Schularbeiten auf dem Balkon machen.« Das Kind war daran gewöhnt, daß man im Sommer auf dem Balkon wohnte.

»Nein, Brigittchen, auch dann nicht. Denke mal, wie unangenehm, wenn der Herr nach Hause käme und dich auf seinem Balkon überraschen würde.«

»Dann sage ich einfach, ich habe die Blumen gegossen.« Gitta war nicht so leicht um eine Ausrede verlegen.

Ein Blick in Mutters Augen sagte ihr, daß Mutti damit ganz und gar nicht einverstanden war.

Aber heute durfte sie noch auf den Balkon hinaus. Der Japaner war ja noch gar nicht eingezogen. Heute gehörte ihnen der Balkon noch.

Mutti und Renate waren mit Umräumen beschäftigt. Schweren Herzens hatte man sich entschlossen, noch ein zweites Zimmer abzugeben. Es war das hübsche Eckzimmer, das Renate und Gitta bisher bewohnten. Hatte der Vater sein Wohnzimmer, in dem er schrieb und las, abgetreten und die Mutter sogar ihren Balkon, den sie so liebte, wie konnte da Renate weniger opferfreudig sein und auf ihr Zimmer nicht ebenfalls verzichten? Schwer wurde es ihr ja. O ja, recht schwer. Sie hatte es sich darin besonders nett und gemütlich gemacht. Da stand der kleine altmodische Schreibtisch von der Großmama, an dem sie arbeitete und der alle ihre photographischen Erzeugnisse barg. Das Korbsofachen, auf dem sich so gut schmökern oder mit einer Freundin plaudern ließ. Und all ihre kleinen Kakteen an den Fenstern, die sie meist als Ableger gepflanzt und getreulich behütet hatte. Daran sollte sich jetzt irgendeine Fremde freuen. Eine Dame von unbestimmbarem Alter, nicht jung, nicht alt, aber sehr nett und sympathisch, wie die Mutter versicherte, sollte morgen in Renates und Gittas Zimmer einziehen. Sie hieß Fräulein Lerche und war in der Redaktion einer Zeitung angestellt. Also hatte sie ein festes Einkommen und konnte ihre Miete pünktlich zahlen. Morgenfrühstück und Abendbrot wollte sie sich selbst bereiten. Das war das einzige Unangenehme, daß sie dazu die Küche benutzen mußte. Aber es war schließlich nur eine Unbequemlichkeit, der man sich fügen mußte, wenn es die Verhältnisse nun mal verlangten. Das Mittagessen nahm sie in der Kantine des großen Zeitungsverlages ein, bei dem sie arbeitete.

Renate sollte das einstige Mädchenzimmer, das sehr nett und sauber war, künftig bewohnen. Wo aber blieb Gitta? Man konnte sie auf die Couch im Eßzimmer aufbetten. Aber da sie früher ins Bett ging als die andern und da das Eßzimmer jetzt das einzige Familienzimmer war, ließ es sich nicht einrichten. Gitta war durchaus damit einverstanden, später schlafen zu gehen. Es gab sowieso immer einen Kampf, wenn sie ins Bett mußte. Aber Mutti blieb fest. Die Gesundheit des Kindes durfte nicht aufs Spiel gesetzt werden.

Da zeigte Renate, wie verständig sie war und wie sie sich bemühte, den Eltern die schwere Zeit zu erleichtern und ihr Teil daran mittragen zu helfen. Sie hatte sich darauf gefreut, nun wenigstens ihr eigenes Stübchen zu haben, so klein es auch war. Oh, sie wollte es sich schon nett herrichten. Einen kleinen Tisch ans Fenster gerückt, da konnte sie arbeiten und photographische Abzüge machen. Einen Korbstuhl mit Kissen wollte Mutti ihr auch noch bewilligen. Und ihre kleinen Kakteen nahm sie mit. Sie hatten dort gutes Licht und Sonne. Die ließ sie der Lerche nicht.

Und trotzalledem hatte Renate auf das Stübchen Verzicht geleistet. Sie ging später ins Bett als Gitta und war die erste auf. Da war es richtig, daß sie auf der Couch im Speisezimmer schlief und das Zimmer des Morgens zum Frühstück gleich wieder in Ordnung brachte. Sie wusch sich sowieso stets unter der Dusche im Badezimmer. So erhielt Gitta das Mädchenstübchen. Ihr Schulpult stand vor dem Fenster, und die Kakteen blieben im Lerchenzimmer. Dafür war Renate Muttis »gute, verständige Tochter«.

Peter war jetzt in seinem Element. Überall legte er mit Hand an. Keiner war so geschickt beim Umstellen und Transportieren von Möbeln wie der dreizehnjährige Junge. Er nahm Schränke und Bettstellen auseinander und fügte sie kunstgerecht wieder zusammen. Er schlug Nägel ein, klebte Tapete, wo es notwendig war, brachte die Zugschnüre der Fenstervorhänge wieder in Ordnung, sorgte dafür, daß Klingel und Licht funktionierten. Wirklich, der Peter war jetzt unentbehrlich.

Gitta und Lump standen auf dem Balkon Posten. Sie sollten Peter sofort davon in Kenntnis setzen, wenn der »Gelbe« vorfuhr. Er hatte heute mehr zu tun, als Ausschau zu halten. Gitta hatte ihre Negerpuppe Nelly auf dem Arm. Eigentlich spielte sie nicht mehr mit Puppen. Sie fühlte sich schon zu groß dazu. Puppenstube und Puppenküche hatte Peter beim Aufräumen jetzt auf den Boden geschafft. Auch die andern Puppen, soweit sie noch heil waren, wurden verpackt. Sie sollten später zur Weihnachtsbescherung für arme Kinder verschenkt werden. Nur Nelly hatte Gitta sich zurückbehalten. Von der mochte sie sich nicht trennen. An der schwarzen Nelly hing sie, trotzdem sie schon zehn Jahre alt war. Auch Lump liebte die schwarze Spielgefährtin mit dem Wollhaar. Alle drei schauten sich die Augen nach dem Japaner aus. Aber der kam nicht. Allmählich wurde es den dreien zu langweilig, immer nur auf die Straße zu gucken. Sie begannen Versteck zu spielen. Nelly wurde versteckt. Lump mußte sie suchen. Das machte allen dreien großen Spaß. Nur fand es Lump nicht hübsch von Gitta, daß sie die Puppe immer gerade an Stellen versteckte, wo er nicht herankonnte. Bald thronte sie auf dem Kleiderschrank, bald schwebte sie sogar auf dem Lampenschirm. Und er stand unten und bellte. Jetzt hatte Gitta einen feinen Versteck ausfindig gemacht. Sie verbarg Nelly unter der lila Daunendecke am Fußende des Bettes, das im Balkonzimmer stand. Lump, den sie inzwischen auf den Balkon gesperrt hatte, schien die Zeit zu lang zu werden. Er blaffte ungeduldig. Aber als Gitta die Tür öffnete, schoß er nicht wie vorher wie ein Pfeil ins Zimmer. Er lief am Balkongitter auf und ab und bellte Alarm.

Gitta warf einen Blick durch die Eisenstäbe. Dort unten auf der Straße vor ihrer Haustür hielt ein Auto. Der Japaner mußte schon ausgestiegen und ins Haus getreten sein. Der Chauffeur schaffte gerade die Koffer hinein.

Gitta und Lump besannen sich auf ihr Amt. Sie stürzten vom Balkon ins Zimmer. Jeder wollte als erster Meldung erstatten. Wie es geschehen, wußte keiner. Ob Lump oder Gitta schuld hatten oder alle beide. Sie rannten gegen den Tisch – da lag die japanische Vase mit den weißen Blütenzweigen in Scherben auf der Erde. Eine Sintflut ergoß sich über die reine Tischdecke und den Teppich.

O Gott! Gitta stand starr vor Schreck.

Inzwischen läutete es bereits an der Entreetür. Hast du nicht gesehen schlich sich Gitta davon, während Lump unhöflich dem eintretenden Japaner gegen die Beine fuhr.

»Kusch dich, Lump, hierher!« befahl der öffnende Peter. Dann machte er seine tiefste Verbeugung vor dem Fremden.

»Guten Tag, soll ich vielleicht die Koffer heraufschaffen?« Warum hatte das Mondkalb, die Gitta, denn bloß nicht rechtzeitig Meldung erstattet?

»Ick danken, Koffers sein hier«, sagte der Fremde und machte dem Jungen ebenfalls eine Verbeugung. Er war nicht größer als Peter, wie dieser voller Genugtuung feststellte. Sonst sah er aus wie jeder gewöhnliche Europäer.

Inzwischen erschien die Mutter. Sie reichte Doktor Ma-wu die Hand, die dieser mit vielen Verbeugungen kaum zu berühren wagte. »Ich hoffe, daß Sie sich in unserm Hause wohl fühlen werden«, sagte sie freundlich.

»Ick werrden fühlen gut, serr gut«, versprach der Japaner bereitwillig wieder mit einem viertel Dutzend Verbeugungen.

Peter hatte die Tür zum Balkonzimmer geöffnet. »Hoffentlich ist hier alles nach Ihrem Wunsch – – –.« Da stockte Frau Felsing entsetzt. Sie hatte die zerbrochene Vase und die Sintflut entdeckt.

»Serr nach Wunsch«, versicherte Doktor Ma-wu, sich verbeugend. Er war so höflich, die Unordnung und die Überschwemmung als selbstverständlich anzusehen.

»Um Himmels willen, wer hat denn das hier angerichtet?« rief Frau Felsing erregt. Lump hielt es für geraten, sich zu empfehlen. Er brauchte doch nicht Gittas Schuld auf sich zu nehmen. »Das Zimmer war in tadelloser Ordnung, Herr Doktor«, wandte sich Frau Felsing an den neuen Mieter.

»Oh, biete serr, tut nix, tut gar nix. Werrden wir maken gleik wieder Ordnung.« Er begann mit spitzen Fingern die Scherben vorsichtig zu sammeln.

»Aber bitte, Herr Doktor, Sie werden sich doch nicht selbst bemühen; das macht der Peter«, erhob Frau Felsing Einspruch. Peter war bereits eifrig dabei. Was der Japaner für kleine Hände hatte. Sie waren nicht größer als die von Gitta.

»O biete, Herr Peter, sick nix zu bemühen um mir«, versuchte der Japaner mit ausgesuchter Höflichkeit die Hilfe abzulehnen. Und was tat der »Herr Peter«? Er preßte sein durchaus nicht sauberes Taschentuch gegen den Mund, um nicht laut loszuprusten, und jagte aus dem Zimmer.

»Renate soll mit einem Lappen aufwischen kommen«, rief die Mutter hinter ihm her. Nein, diese Kinder! Sie bereiteten ihr heute nichts als Verlegenheit.

Renate erschien mit einem Scheuerlappen. »Geh nur rein, du lachst dich tot«, hatte ihr Peter zugeflüstert und die zaudernde Schwester mit einem kleinen Stoß über die Schwelle befördert.

»Meine Tochter Renate – unser neuer Hausgenosse, Herr Doktor Ma-wu«, stellte Frau Felsing vor. Das junge Mädchen machte eine Verbeugung, die der Japaner mit einer ganzen Reihe von Verbeugungen erwiderte.

Kaum gelang es Renate, ernst zu bleiben und das Wasser von Tisch und Fußboden aufzuwischen. Der höfliche Japaner wollte ihr durchaus den Scheuerlappen aus der Hand nehmen.

»Kleines zartes Hand darf nix maken Arbeit«, beteuerte er.

»Meine Hand ist weder zart noch klein und muß mehr Arbeit tun«, lachte Renate.

»Oh – oh – das nix gut.« Der Japaner wiegte betrübt den Kopf mit dem glänzenden schwarzen Ölhaar und schaute das junge Mädchen aus seinen Schlitzaugen bedauernd an. Er reichte ihr nur bis zur Schulter.

Frau Felsing hatte indessen eine neue Tischdecke aufgelegt. Peter hatte sich doch wieder hineingewagt und die Scherben entfernt. Alles war in bester Ordnung.

»Sie werden sicher Ihre Sachen jetzt auspacken wollen, Herr Doktor«, meinte Frau Felsing. »Dies ist hier der Kleiderschrank. Die Seitenfächer sind für Wäsche. Dort ist der Bücherschrank, und hier können Sie Ihre Schuhe unterbringen. Soll Ihnen Peter vielleicht helfen?«

»Ick wurden sein glucklik, zu haben so gute Hilfe bei Koffers. Oh, Sie sein serr, serr freundlik. Aber Herr Peter wird haben zu tun anderes. Er darf nicht geben kostbares Zeit fur mir.« Es wurde trotz der vielen Worte nicht recht klar, ob der Japaner Peters Hilfe wünschte oder nicht.

Aber danach fragte Peter nicht. Er war begierig, was wohl die japanischen Koffer enthalten mochten. Und allzu kostbar war ja seine Zeit nicht.

Frau Felsing und Renate verließen das Zimmer. Der Japaner geleitete die Damen mit unzähligen Bücklingen bis zur Tür.

Renate sank im Eßzimmer auf einen Stuhl und hielt sich die Seiten vor Lachen. »Das überlebe ich nicht«, stieß sie hervor. »Wenn der immer so komisch ist.«

»Sst – –«, beschwichtigte die Mutter, selbst mit dem Lachen kämpfend, »Japaner haben gute Ohren.«

Peter blieb. Doktor Ma-wu war zu höflich, ihn fortzuschicken. Obwohl er lieber unbeobachtet von neugierigen Jungenaugen seine Sachen eingeräumt hätte.

»Herr Peter tut studieren?« erkundigte sich Doktor Ma-wu.

»Ich bin ja noch in der Schule, in Obertertia. Bitte sagen Sie doch Peter zu mir. Ich bin doch noch kein Herr«, erklärte der Junge lachend.

»Oh, kleines Herr wird bald sein großes Herr«, stellte der Japaner fest. »Herr Peter wird haben zu studieren viel für Schule?«

»Ja, wir haben eine ganze Menge zu lernen. Ich mache täglich mehrere Stunden Schularbeiten«, spielte sich Peter auf.

»Oh, dann nix dürfen nehmen Hilfe und Zeit von Herr Peter. Muß arbeiten, viel arbeiten, zu werden großes, kluges Mann. Muß ick maken selbst meine Koffers. Herr Peter muß studieren für Schule. Nix Herr Peter durfen geben kostbares Zeit fur mir.«

Trotzdem Peter beteuerte, daß er seine Schulaufgaben schon längst fertig hätte, öffnete der Japaner die Tür. Eine Verbeugung: »Ick danken serr.« Draußen war Herr Peter mit langem Gesicht. Er war ja in seinem Leben schon öfters mal »geflogen«. Aber auf so höfliche Art und Weise doch noch nie.

»Der hat sicher Geheimnisse, der Gelbe«, behauptete Peter. »Warum wollte er mich denn sonst nicht helfen lassen?«

»Er ist vielleicht an Einsamkeit gewohnt und mag keine Gesellschaft«, meinte Renate.

»Hört mal, Kinder, ich wünsche nicht, daß ihr diese unhöfliche Bezeichnung ›der Gelbe‹ für Doktor Ma-wu gebraucht«, verlangte die Mutter. »Er ist ein sehr bescheidener und höflicher Herr und wird uns sicher ein angenehmer Hausgenosse werden, wenn ihr zurückhaltend und rücksichtsvoll seid. Nun möchte ich aber bloß wissen, wer meine kostbare Vase zerbrochen und alles unter Wasser gesetzt hat?«

Gitta, welche die Neugierde aus einem bestimmten Ort, in dem sie sich in Sicherheit gebracht, hervorgelockt hatte, wurde rot.

»Lump hat – – –«, begann sie stotternd.

»Wauwau«, erhob der Terrier Einspruch und blickte Gitta mit seinen treuen Hundeaugen vorwurfsvoll an.

Nein, sie brachte es doch nicht fertig, die Schuld auf Lump zu schieben. »Wir sind gegen den Tisch gelaufen«, sagte sie wahrheitsgetreu.

»Ihr habt in dem Zimmer nichts zu suchen. Künftig gehst du nicht mehr hinein, Brigittchen«, sagte die Mutter bestimmt.

Was – sie sollte nie mehr in das japanische Zimmer gehn? Wo sie doch so neugierig war, wie der Japaner wohl aussehen mochte.

»Er ist kleiner als du, Gitta, und hat einen langen schwarzen Zopf bis auf die Erde«, log Peter. »Hosen trägt er nicht, sondern einen Rock wie eine Dame. Darüber ein himmelblaues Gewand mit goldenen Blumen. Seinen bunten japanischen Papierschirm spannt er selbst im Zimmer auf. Er sitzt nicht auf einem Stuhl wie ein gewöhnlicher Mensch, nur auf der Erde. Sämtliche Sofakissen hat er auf den Fußboden zum Sitzen geworfen. Ich mußte mich auch zu ihm auf die Erde setzen und eine Zigarette mit ihm rauchen.«

Gitta sah Peter zweifelnd an. Schwindelte er auch nicht?

»Und was er alles in seinem Koffer hatte.« Peter hätte auch gern gewußt, was da drin war.

»Was denn? Bitte sag' doch, Peterchen!«

Peter schüttelte vielsagend den Kopf. »Strengstes Geheimnis. Habe vorher Schweigen bis übers Grab geloben müssen.«

»Aber mir kannst du's doch sagen, Peter. Ich erzähle doch nichts.« Gitta platzte fast vor Neugier.

»Also, wenn du keiner Menschenseele ein Sterbenswörtchen verraten willst – aber erst rechte Hand, Ehrenwort –.« Gitta streckte dem Bruder die Hand hin.

»Rechte Hand, Ehrenwort!« wiederholte sie mit feierlichem Gesicht.

»Also ein dickes Zauberbuch hat er mit merkwürdigen Buchstaben. Die kann kein Mensch lesen. Wenn jemand das Buch anfaßt, wird er in ein Tier verwandelt«, flüsterte Peter geheimnisvoll.

»Mutti – Muttichen – ich graule mich so!« Das Kind weinte fast vor Aufregung.

»Denke an dein Ehrenwort!« Bedeutsam legte Peter den Finger auf den Mund.

Vom ersten Tage an hatte Gitta daher eine unüberwindliche Scheu vor dem Japaner. Sie lief davon, sobald er sich sehen ließ. Trotzdem sie feststellte, daß er weder einen langen Zopf noch ein buntes Gewand und einen bunten Schirm trug, sondern wie alle andern Herren in Berlin gekleidet war. Trotzdem sie merkte, daß Peter sie beschwindelt hatte. Wer konnte wissen, ob das mit dem Zauberbuch nicht stimmte?

Auch der Japaner fand sein neues Heim etwas merkwürdig. Als er sich abends ins Bett legte, stieß er mit dem Fuß an irgend etwas Wolliges. Er zog es hervor. Eine Negerpuppe mit schwarzem Wollhaar grinste ihn an. Verwundert betrachteten sich die beiden, der Japaner und Puppe Nelly.


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