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Sechstes Kapitel.
Geld verdienen ist nicht so einfach

Peter hatte die Ehre, die Schuhe der neuen Mieter zu putzen. Das erstemal hatte er die Schuhe verkehrt hingestellt. Die kleinen zierlichen, die wie Damenschuhe aussahen, gehörten doch sicher Fräulein Lerche. Die größeren, derberen wurden dem Japaner vor die Tür hingesetzt. Als sich am Morgen ein Tumult wegen der verwechselten Schuhe erhob, war Peter bereits in der Schule. Mit vielen Entschuldigungen und Bücklingen holte sich Doktor Ma-wu sein Eigentum wieder.

Auch Fräulein Lerche hatte bei Felsings ihr Nest gebaut und schien sich recht wohl darin zu fühlen. Sie war eine freundliche, klug aussehende Dame, die wenig Ansprüche stellte. Wirklich, man durfte mit den neuen Mietern zufrieden sein.

Trotzdem war dies nicht ganz der Fall. Der Vater konnte sich nur sehr schwer darein finden, daß man jetzt nicht mehr Herr in seinem eigenen Hause war. Es ist sowieso schon schwierig, wenn jemand, der gewöhnt war, den ganzen Tag außerhalb des Hauses zuzubringen, plötzlich von morgens bis abends da ist. Noch dazu gegen seinen Wunsch. Sonst, wenn der Vater abends von der Bank heimkehrte, hatten sich alle Familienmitglieder, von der Mutter an bis Lump, bemüht, ihm den Feierabend daheim und auch den Sonntag so angenehm wie irgend möglich zu gestalten. Er hatte sein Zimmer, in das er sich zurückziehen konnte, wenn es ihm im Familienzimmer zu lebhaft zuging. Das war jetzt alles anders. Vater war jetzt den ganzen Tag da. Immerzu konnte man nicht Rücksicht nehmen und an das Behagen des andern denken, wenn man den Haushalt und noch zwei fremde Mieter zu versorgen hatte. Da Renate kein eigenes Zimmer besaß, versammelte sich alles im Eßzimmer; denn allein mochte Gitta auch nicht in ihrem Stübchen arbeiten und spielen. Sie war daran gewöhnt, mit der Schwester zusammenzuhausen, und hing an der Großen. Den Balkon durfte man auch nicht mehr benutzen. Zwar hätte Doktor Ma-wu bei seiner großen Liebenswürdigkeit sicher nichts dagegen, wenn man in seiner Abwesenheit mal ein Stündchen auf dem Balkon zubrachte. Aber Frau Felsing mochte das nicht. Sie dachte darin ebenso rechtlich wie ihr Mann. Hatte sie den Balkon mitvermietet, so besaß sie kein Anrecht mehr darauf. Es gab manchmal des Abends ein rechtes Durcheinander. Peter stellte das Radio ein. Zu einer eigenen Anlage hatte er es noch immer nicht gebracht. Renate, die tagsüber im Haushalt half, mußte noch Schularbeiten machen, oder sie lernte zur Konfirmationsstunde, die sie seit Ostern besuchte. Die Zeigefinger in die Ohren gesteckt, saß sie von der Außenwelt abgeschieden. Wolfgang hatte nur den Abend, um sich ans Klavier zu setzen. Am Tage kam er nicht dazu. Auch Lump und Mätzchen beteiligten sich manchmal an dem Konzert. Dann brummte der Vater, daß man nicht mal abends in Ruhe seine Zeitung lesen könne. Mutti, die recht gern Musik hörte, mußte ihre Wirtschaftsausgaben zusammenrechnen. Es stimmte nie, sie hatte immer mehr ausgegeben, als sie geglaubt und gehofft hatte. Abgespannt war sie auch von der Mehrarbeit des Tages und dem ständigen Kopfzerbrechen, wie man alles am billigsten einrichten könnte. Wenn dann noch Peter und Gitta sich zankten, riß ihr oft die Geduld. Die Kinder, die ihre Mutter immer gleichmäßig, meist heiter kannten, waren höchlichst erstaunt, wenn sie um geringfügige Ursachen so aufgebracht werden konnte. Herrgott, die Mieter würden schon nicht ausziehen, wenn man auch ein bißchen Krach machte. Früher war es viel gemütlicher gewesen.

Peter hatte der Mutter aus alten Zigarrenkisten Blumenkästen gezimmert, grün angestrichen und am Eßzimmerfenster angebracht. Winden und Kresse hatte Renate darin gesät, trotzdem es eigentlich schon zu spät dazu war. Damit Mutti doch ein bißchen Grünes zum Freuen hatte. Vorläufig konnte sie sich nur an den grün gestrichenen Kästen freuen. Nie hätten die Kinder geglaubt, daß es so lange dauern könnte, bis Blumensamen aufgeht und aus der Erde zu sprießen beginnt.

Die neuen Mieter hatten sich mit Felsings angefreundet. Die männlichen Familienmitglieder hielten es mehr mit dem Japaner als mit der Lerche. Der Vater unterhielt sich gern mit dem klugen Doktor Ma-wu über politische und wirtschaftliche Fragen. Auf welche Weise die deutsche Wirtschaft, die so daniederlag, angekurbelt und flottgemacht werden könnte. Dem Doktor Ma-wu gefiel Wolfgang Felsing in seiner zurückhaltenden Art besonders gut. Abgesehen davon, daß er mit ihm über das gemeinsame technische Studium sprechen konnte, die Musik verband die beiden noch mehr als die Technik. Doktor Ma-wu war selbst musikalisch und liebte deutsche Musik sehr. Er war erstaunt über Wolfgangs große musikalische Begabung. Wie bedauerlich, daß solch ein Talent nicht weiter ausgebildet wurde. Der junge Deutsche, der seine Wünsche und Neigungen so tapfer der Notwendigkeit opferte, interessierte ihn. Öfters nahm er ihn in ein gutes Konzert mit. Wenn Wolfgang abends musizierte, besonders wenn er Beethoven spielte, klopfte es mit spitzem Finger leise, und der Japaner fragte, ob es auch ganz bestimmt nicht störe, wenn er die große Liebenswürdigkeit in Anspruch und sich die Freiheit nähme, bescheidener Zuhörer zu sein. Er möchte aber wirklich keineswegs stören. Sollte es der Fall sein, dann bäte er, seine Worte als ungesprochen ansehen zu wollen. Dann nahm er in der entferntesten Ecke auf der äußersten Kante eines Stuhles Platz, um so die ihm nicht zukommende, nur freundlich gewährte Erlaubnis anschaulich zu machen. In die entgegengesetzte Ecke zog sich Gitta zurück oder kuschelte sich ganz dicht an Mutti an. Sie konnte die Furcht vor dem Japaner nicht überwinden. Dabei war Doktor Ma-wu sehr freundlich zu ihr. Er schenkte ihr Bonbons und nannte sie »kleines Dame«. Aber er hatte so große gelbe Zähne, und wenn er lachte, sah er aus, als ob er weine. Nein, Gitta mochte den Japaner ganz und gar nicht.

Auch Lump knurrte mißbilligend, kaum hörbar, doch nicht weniger feindselig. Er war seiner anfänglichen Abneigung gegen den fremden Eindringling trotz manchen Zuckerstückchens treu geblieben. Dann fühlte er sich schon mehr zu der neuen Hausgenossin Fräulein Lerche hingezogen. Die hatte, da sie abends zu Hause speiste, wenigstens immer was Reelles für einen hungrigen Hundemagen. Eine Speckschwarte, Schinken- oder Käsereste. Das ließ man sich eher gefallen.

Um so begeisterter war Peter von dem Japaner. Er tat, was er ihm an den Schlitzaugen absehen konnte. Seine Schuhe putzte er, daß man sich darin spiegeln konnte. Er machte Botengänge und Besorgungen für ihn, galt es nun, einen Anzug zum Aufbügeln zu bringen, Theater- oder Konzertkarten zu besorgen oder ihm gar einen abgerissenen Knopf anzunähen. Für alles war der Peter zu gebrauchen. Sein Feuereifer fand keine Grenze, als Doktor Ma-wu eines Tages äußerte: »Ick wunschen zu haben eigener Radio in mein Zimmer.« Das war so was für den Peter. Alle möglichen Arten der besten Funkgeräte schlug er ihm vor. Er kannte die Preise der verschiedenen Lautsprecher und erbot sich, den Netzanschluß selbst anzulegen. Dem Japaner machte der Eifer des Jungen Spaß. Ein fixer, anstelliger Bursche. Aus dem wurde mal was.

Sie gingen zusammen einkaufen, Doktor Ma-wu und Herr Peter. Der Junge war nicht nur als Sachverständiger gut zu gebrauchen, sondern auch als Dolmetscher. Peter prüfte, wählte, tauschte um und hatte für nichts anderes mehr Sinn. Es war gut, daß gerade Pfingstferien waren. Sonst hätte Peter sicher die Schule arg vernachlässigt.

Doktor Ma-wu, der selbst technische Kenntnisse besaß, legte mit Peter zusammen das Radio an. Peter stieg auf die Leiter, ruinierte die Tapete, probierte Röhren aus und befand sich in höchster Aufregung, als der Rundfunk angeschlossen und der Lautsprecher in Betrieb gesetzt werden sollte.

»Hier ist Berlin und alle deutschen Sender.« Als es klar, und deutlich zum erstenmal im japanischen Zimmer erschallte, machte Herr Peter einen Luftsprung. »Knorke!« schrie er und geriet in die noch nicht endgültig festgemachten Antennendrähte. Es ging noch glimpflich ab. Der Japaner konnte den teuren Röhrenapparat, den Peter im Begriff war, mit herunterzureißen, noch gerade festhalten.

»Wo ist Knorrke?« erkundigte sich Doktor Ma-wu interessiert. So weit gingen seine deutschen Kenntnisse noch nicht.

»Knorke heißt famos – tadellos«, erklärte Herr Peter.

Doktor Ma-wu dachte zwar bei sich, es wäre doch besser gewesen, den teuren Apparat von einem erwachsenen Monteur als von Herrn Peter anschließen zu lassen. Doch mit Unrecht. Peters Werk funktionierte wirklich tadellos. Ganz Europa stellte Herr Peter dem Japaner auf Wunsch ein.

Doktor Ma-wu zeigte sich erkenntlich. Er fragte Peter: »Was wünschen Herr Peter zu haben für knorrkes Arbeit?«

Peter überlegte nicht lange. »Wenn ich den übriggebliebenen Kupferdraht haben könnte. Ich möchte mir nämlich auch gern Anschluß in mein Zimmer legen.«

Der Japaner lachte, daß man keine Augen, sondern nur noch gelbe Zähne sah. »Kann Herr Peter haben, ist nix. Muß Herr Peter haben mehr für sein Arbeit.« Er zog seine Brieftasche hervor und schenkte ihm zwanzig Mark.

Peters Augen wurden so groß wie zwei Eier. »Das soll ich haben – das viele Geld?« Er wagte es nicht anzufassen. Noch nie hatte er soviel Geld besessen.

»Arbeit knorrke – ist nix zuviel. Was wird Herr Peter kaufen dafür?«

»Kupferdraht auf Vorrat und – und ein Paar neue Hosen. Mein Hosenboden wird schon doll dünne. Und einen großen Braten, damit es auch in der Woche mal wieder Fleisch gibt. Und für jeden einen Windbeutel mit Schlagsahne. Hurra!« – Damit jagte Herr Peter aus dem Zimmer.

So war Peter der erste der Familie, der Geld verdiente.

Allerdings wurde seine Freude dadurch etwas gedämpft, daß er das Geld nicht nach seinem Belieben ausgeben durfte. Zwanzig Mark war jetzt eine große Summe für Felsings. Und Peter war doch schon ein verständiger Junge, der selbst sah, wie sich die Eltern mit allem einrichten mußten. Zwei Mark durfte er behalten und nach Belieben verwenden. Er kaufte dafür die notwendigen Bestandteile für einen kleinen Detektorapparat, den er sich selbst zusammenbaute. Nun wurde sein sehnlicher Wunsch erfüllt. Er bekam eigenen Radioanschluß in seinem Zimmer. Jetzt konnte er soviel hören, wie er wollte, ohne daß gleich einer sagte: »Quak' uns doch nicht wieder die Ohren voll.«

Der Rest des Geldes wurde teils für neue Hosen verwendet, teils bildete er die Grundlage in Peters Sparbüchse zu einem neuen Wintermantel.

Peters Erfolge ließen den andern keine Ruhe. Was – der dreizehnjährige Knirps konnte Geld verdienen und die Großen nicht? Wie fing man es bloß an?

Der Vater lief sich die Beine nach Vertretungen ab. Nach vielen erfolglosen Gängen erhielt er die Vertretung für eine Zigarettenfirma. Das war wieder mal ein glücklicher Tag. Nun begann aber erst die Schwierigkeit. Wohin Herr Felsing kam, um seine Zigaretten anzubieten, überall war schon ein anderer gewesen, von dem man gerade gekauft hatte. Fast jeder hatte einen Bekannten, von dem er seine Ware nehmen mußte. Man konnte doch einem guten Freund nicht untreu werden.

Das sah Herr Felsing in seiner vornehmen Gesinnung durchaus ein. Um Himmels willen, er wollte doch keinen um sein Brot bringen. Er konnte auch nicht seine Zigaretten als besser und billiger anpreisen. Wenn jemand nichts brauchte oder nicht kaufen wollte, vermochte er nicht, ihm zuzureden. Herr Felsing war eben ein guter, zuverlässiger Bankbeamter, aber kein kaufmännischer Reisender. So war es ganz natürlich, daß er kaum irgendwelche Geschäfte abschloß. Da er kein Gehalt bezog, sondern nur am Gewinn beteiligt war, hatte er so gut wie gar keine Einnahmen. Das meiste ging für Fahrgeld wieder drauf. Und doch war Frau Felsing froh, daß ihr Mann wieder eine Beschäftigung hatte und nicht mehr zu Hause herumsaß.

Wenn sie nur selbst noch etwas dazu hätte verdienen können. Trotz ihrer vergrößerten Hausfraupflichten, trotzdem sie alles für sich und die beiden Mädel selbst schneiderte und nähte, wusch und bügelte sie noch bis in die Nacht hinein die Feinwäsche für Doktor Ma-wu. Aber das wollte alles noch nicht zum Lebensunterhalt einer so großen Familie ausreichen.

Eines Abends erkundigte sich Doktor Ma-wu nach einem Schreibmaschinenbüro. Er hatte eine größere Arbeit abzuschreiben, und zwar in englischer Sprache. Es mußte ein intelligenter Mensch sein, der die Arbeit übernahm. Am liebsten würde er die Arbeit diktieren.

Einen Augenblick überlegte Frau Felsing. War das nicht ein Fingerzeig?

»Ich habe selbst eine Schreibmaschine, war früher viele Jahre in einem Büro tätig. Wenn Sie es mit mir versuchen wollen, Herr Doktor?«

»Oh, gnädiges Frau wollen bemuhen selbst? Nein, das nix darf sein. Zu großes Ehre. Gnädiges Frau durfen nix sein Diener von Doktor Ma-wu. Doktor Ma-wu will sein Diener von gnädiges Frau.« Dabei machte der Japaner eine Verbeugung nach der andern.

»Ich will kein Diener, sondern Schreibmaschinistin sein«, sagte Frau Felsing lächelnd. »Sie würden mich sehr glücklich machen, wenn Sie mir die Arbeit übertragen würden. Es ist notwendig, daß ich Geld verdiene«, setzte sie ehrlich hinzu.

»Oh – oh –!« Doktor Ma-wu wiegte betrübt seinen Kopf. »Deutsches Frau muß arbeiten viel, sehr viel. Japanisches Frau muß sein schön, muß sein Schmuck für Haus.«

»Das wollen wir deutschen Frauen auch sein. Aber unser Vaterland braucht die Arbeit von allen, ob Mann oder Frau, um wieder zu erstarken. Wann können wir mit der Arbeit anfangen, Herr Doktor?«

»Wenn gnädiges Frau will haben großer Liebenwurdigheit, wir können beginnen heute, wir können beginnen morgen. Wir können beginnen anderes Tag. Gnädiges Frau muß maken Preis fur Abschrift, gutes Preis. Darf nix sein billig.«

Frau Felsing lachte. »Sonst haben die Leute immer Angst, daß etwas zu teuer wird, und Sie fürchten, es könnte zu billig werden. Wir wollen uns in einem Schreibmaschinenbüro erkundigen, wieviel die Seite kostet.« Sie verabredeten, am andern Morgen um zehn Uhr zu beginnen.

Eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte Frau Felsing am heutigen Tage. Sie kaufte ein und kochte für mehrere Tage das Essen im voraus. Zwar gab es einen Riß in der Wirtschaftskasse, aber das würde sich bezahlt machen. Alles ging ihr heute noch mal so schnell von der Hand. Sie war glücklich, etwas zum Unterhalt beitragen zu können. Ihrem Mann und den Kindern würde sie vorher nichts davon verraten. Die meinten sowieso schon immer, sie überanstrenge sich.

Sie holte die Schreibmaschine hervor, um zu prüfen, ob auch alles in Ordnung sei. O Schreck – tack-tack-tack – drei Typen ließen sich anschlagen. Dann stand die Maschine still und streikte. Sie war durch nichts zum Weiterklappern zu bewegen. Das war ja eine nette Geschichte. Wie unangenehm, Doktor Ma-wu absagen zu müssen. Sicher hatte er öfters Arbeiten schreiben zu lassen. Und sie hatte schon alle möglichen Pläne gehabt, was sie für das verdiente Geld alles anschaffen wollte.

Da erschien ein rettender Engel. Er hatte unordentliches Kraushaar und ein Loch in der Jacke von einer Rauferei, das er vor unbequemen Mutteraugen zu verbergen strebte. Peter – Peter mußte eingeweiht werden.

Als Peter den Sachverhalt vernahm, lachte er verschmitzt. »Natürlich bringe ich dir den Klapperkasten in Ordnung, Mutti. Aber ich verlange dafür Gegenleistung.«

»Junge, du mußt dich doch freuen, wenn du deiner Mutter helfen kannst.«

»Tue ich auch. Aber ich freue mich noch mehr, wenn ich dafür was kriege.« Der Peter war praktischer veranlagt als sein Vater. »Mach' nicht solch angstvolles Gesicht, Muttichen. Geld will ich nicht. Hab' ja noch was in der Sparkasse. Zwei Schmalzstullen möchte ich haben, drei Zentimeter dicke, noch vor'm Mittagbrot. Habe einen Bärenhunger. Und dann – – –.«

»Noch mehr, Peter?« lachte die Mutter.

»Flicke mir doch bitte das Loch hier in meiner Jacke, aber ohne zu schimpfen, Mutti. Ich kann nichts dafür, daß Neumann sie mir zerrissen hat.«

»Müßt ihr denn immer boxen, Jungs!«

»Nicht schimpfen, Muttichen. Wir wollen doch sporttüchtig werden.« Damit setzte sich Peter an die Schreibmaschine, während die Mutter drei Zentimeter dicke Stullen für ihren hungrigen Sprößling zurechtmachte.

Er war wirklich ein Tausendsassa, der Peter. Alles verstand er, was nicht gerade Latein und Mathematik war. Er holte die Ölkanne und begann das eingerostete Ding zu ölen. Er nahm das zerlöcherte Farbband ab, den Wagen aus der Maschine, schraubte die einzelnen Teile los, bürstete die verstaubten Typen sauber. Himmelangst wurde Frau Felsing dabei, daß der Junge die Maschine nicht wieder zusammenkriegen würde.

»Ein neues Farbband spendiere ich dir, Mutti, weil du mir die Stullen so schön fett geschmiert hast.« Fort war er in das Papiergeschäft gegenüber. Eine halbe Stunde später war die Schreibmaschine wieder in Ordnung. Tack-tack-tack-tack – sie funktionierte. Die Abschrift konnte morgen beginnen.

Peter hielt dicht. Er verriet nichts von Muttis Schreibmaschinenabschrift. Es war eine umfangreiche Arbeit. Eine ganze Woche diktierte Doktor Ma-wu. Leicht war es nicht immer, seinem englischen Diktat zu folgen. Manche Wörter sprach er ganz merkwürdig aus. Als die Abschrift vollendet war, floß der Japaner vor Begeisterung über. Es wäre die beste Schreibmaschinenarbeit, die er in Japan und in Deutschland je erhalten hätte. Und er könne der gnädigen Frau die große Mühe, die sie gehabt, natürlich nicht vergelten. Aber als geringes Zeichen seiner Dankbarkeit bitte er, die Kleinigkeit von ihm anzunehmen. Er bliebe trotzdem dankbarer Schuldner der gnädigen Frau. Damit überreichte er Frau Felsing eine große Schachtel mit den feinsten Konfitüren. Obenauf lagen in einem Kuvert hundert Mark.

Frau Felsing war glückselig. Was konnte man für das Geld nicht alles kaufen. Ihr Mann brauchte neue Schuhe. Bei dem vielen Herumlaufen nutzten sich die alten ab. Wolfgangs bunte Sporthemden waren nicht mehr schön. Peter mußte Kniestrümpfe haben. Sie waren kaum noch zu stopfen. Und die beiden Mädels? Die sollten neue Sommerkleider kriegen. Klaglos trug Renate ihre alten Fähnchen, während Gittas Eitelkeit ja öfters rebellierte. Hübscher Sommerstoff war nicht teuer, und nähen würde sie die Kleider selbst. Dann blieb sicher noch ein erkleckliches Sümmchen zum Leben. An sich selbst dachte die gute Mutter nicht.

Jetzt mußte aber gebeichtet werden. Denn alle sollten doch an den Konfitüren teilhaben. Das gab ein Hallo. Nein, die Mutti!

»Während wir uns die Köpfe zerbrechen, wie wir Geld verdienen können, macht das Mutti so ganz nebenbei trotz ihrer vielen häuslichen Arbeit«, sagte Renate bewundernd.

»Ich möchte auch mit Doktor Ma-wu in Geschäftsverbindung treten«, überlegte Wolfgang im Scherz.

Peter verlangte den Löwenanteil von dem Konfekt. Denn wenn er nicht die Schreibmaschine in Ordnung gebracht hätte, würde Mutti das Konfekt überhaupt nicht bekommen haben.

Nur der Vater meinte seufzend: »Du bist tüchtiger als dein Mann, Lotte. Ich habe in diesem Monat noch keine hundert Mark geschafft.«

»Dafür wirst du sie im nächsten Monat hoffentlich verdienen, Ernst. Es wäre ja auch sonst zuviel des Guten«, tröstete Frau Felsing.

Wolfgangs Scherz sollte sich schneller bewahrheiten, als er sich hätte träumen lassen. Seitdem der Vater abgebaut war, gab Wolfgang Gitta Klavierstunde. Das Kind war musikalisch. Da man das Geld für den Unterricht nicht mehr aufbringen konnte, wäre es schade gewesen, wenn sie das bereits Gelernte wieder vergessen und mit dem Klavierspiel aufgehört hätte. Wolfgang war ein guter Lehrer, und Gitta gab sich große Mühe, »Wölfchen«, wie sie ihn zärtlich nannte, zufriedenzustellen. Auch Renate hatte Wolfgang angeboten, mit ihr vierhändig zu spielen, damit sie nicht ganz herauskam. Leider fand sich nur selten die Zeit dazu. Mit Peter hatte Wolfgang nur ein einziges Mal einen Versuch gemacht. Er war faul, übte nicht und wurde noch obendrein frech.

Doktor Ma-wu wollte Klavierstunden nehmen, und zwar bei Wolfgang. Er glaubte von keinem andern Lehrer soviel lernen zu können. Natürlich vorausgesetzt, daß Herr Wolfgang sich mit einem Schüler von so geringer Begabung abgeben wolle. Wolfgang versicherte, daß es ihm eine große Freude sein würde, mit Doktor Ma-wu Musik zu treiben. Dreimal in der Woche fand der Unterricht statt. Lehrer wie Schüler waren beide sehr befriedigt. Wolfgang hatte jetzt wieder ein festes Einkommen und steuerte davon zum Haushalt zu.

»Mutti hilft Geld verdienen und die beiden Jungs auch. Bloß ich bin zu dumm dazu«, klagte Renate. »Keine halbe Schülerin hat sich gemeldet, um bei mir Nachhilfeunterricht zu nehmen.« Sie saß mit Fräulein Lerche an einem schönen warmen Abend am Lietzensee. Beide verzehrten ihre mitgebrachten Abendbrotstullen. Der Flieder duftete. Schwäne zogen auf dem See ihre silbernen Kreise.

»Sie sind so fleißig, Renate, wie ich noch nie ein Mädchen in Ihrem Alter gesehen habe. Morgens sind Sie die erste auf und tun schon vor der Schule mehr als die meisten Mädchen den ganzen Tag. Immer sind Sie hilfsbereit, ob nun Ihre Mutter Sie in Anspruch nimmt, die Geschwister oder Ihre Quälgeister, die Mieter.« Fräulein Lerche hatte zu dem tüchtigen Mädel Zuneigung gefaßt.

»Ja, aber damit verdiene ich doch kein Geld. Wenn ich wenigstens etwas zum Haushalt beitragen könnte.«

»Sie sparen Geld, indem Sie eine Kraft im Hause ersetzen. Warten Sie, bis Sie aus der Schule sind, Renate. Ihre Zeit kommt schon.«

»Ach, wenn ich aus der Schule bin, dann kostet doch wieder meine Ausbildung. Irgend etwas muß ich doch lernen. Das dauert dann noch Gott weiß wie lange, bis ich auf eigenen Füßen stehe.« Die gütige Art von Fräulein Lerche hatte ihr Renates Vertrauen gewonnen.

»Was möchten Sie denn werden, Renate? Wozu haben Sie Lust?« erkundigte sich Fräulein Lerche.

»Am liebsten würde ich mal ein photographisches Atelier aufmachen. Photographie interessiert mich am meisten. Im Lettehaus möchte ich ausgebildet werden. Aber das werde ich mir wohl aus dem Kopf schlagen müssen. Dazu gehört Geld. Und wir haben keins.«

»Bis dahin können Sie noch das große Los gewinnen«, lachte Fräulein Lerche. »Es kommt im Leben oft anders, als man denkt. Ich wollte Schriftstellerin werden, und was bin ich geworden? Redakteurin für Handarbeit- und Modezeitung.«

»Sie haben wenigstens eine feste Anstellung, Fräulein Lerche.«

»Als ich fünfzehn Jahre alt war wie Sie, hatte ich die auch noch nicht. Noch nicht mal den Wunsch dazu. Sie sind mir viel zu ernsthaft und verständig, kleines Mädel.«

»Erst geworden. Ehe Vater abgebaut wurde, war ich so sorglos und heiter wie alle andern in meiner Klasse.«

»Es kommt auch mal wieder besser, Renate. Man darf sich nur nicht unterkriegen lassen.«

»Tu ich ja nicht.« Renate blickte über das Wasser hinüber zu dem Funkturm, der sich mit unzähligen Lichtern besteckt hatte. Hoch ragte er in den verdämmernden Abendhimmel. Ein Scheinwerfer kreiste von seiner Höhe als Wegzeiger für die Flugzeuge. Bald war es dunkel, bald wieder hell. Ob es im Leben nicht auch so war?


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