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Viertes Kapitel.
Vater muß stempeln gehn

Die Osterzeugnisse waren zur Zufriedenheit ausgefallen. Allerdings das von Peter mehr zu seiner eigenen Zufriedenheit. Die Eltern waren von der Lateinzensur nicht gerade begeistert. Mündlich genügend, schriftlich noch nicht genügend. Das Gut in Physik hatte das wieder wettgemacht. Auch Peters Aufmerksamkeit ließ zu wünschen übrig. Kein Wunder, wenn er alle möglichen Erfindungen in den Schulstunden zu überlegen hatte. Na, die Hauptsache war, daß er mit in die Obertertia rübergerutscht war. Allerdings mit der Mahnung, sich in der neuen Klasse zusammenzunehmen. Das wollte Peter auch ganz gewiß tun – wenn er's nicht wieder vergaß.

Gitta war mit einer recht guten Zensur in die Sexta gekommen. Sie war sehr stolz darauf, nicht mehr »Grundschülerin«, sondern »Gymnasiastin« zu sein. Französisch bekam sie jetzt. Dann konnten die Großen sie wenigstens nicht mehr auslachen, daß sie ein Fremdwort falsch aussprach.

Renate saß in der Obersekunda. Allerdings ohne ihre Freundin Hanni. Die war tatsächlich »klebengeblieben«. Aber die Untersekunda noch ein Jahr zu beehren, fiel ihr nicht ein. Sie hatte es bei ihren Eltern durchgesetzt, daß sie von der Schule abgehen durfte und in ein Landheim am Bodensee kam.

Renate war traurig über die Trennung. Seit der untersten Klasse waren sie Freundinnen, hatten getreulich Freud und Leid der Schulzeit miteinander geteilt. Hanni ging die Trennung weniger nah. »Bitte doch deine alten Herrschaften, daß du mit ins Landheim darfst. Prima Sache, wenn du mitkämst, Renate«, schlug sie vor.

»Bist du total hops?« Renate tippte gegen die Stirn. »Wo mein Vater abgebaut ist und ich nicht mal weiß, ob ich noch werde die Obersekunda durchmachen können. Wer soll denn das teure Schulgeld, Pension und Reisegeld bezahlen?«

Hanni zuckte die Achseln. Sie konnte sich keine rechte Vorstellung von Renates häuslichen Verhältnissen machen. Wenn Herr Felsing abgebaut war, dann mußte er sich eben nach einer andern Stellung umsehen. Es war doch nun mal so in der Welt eingerichtet, daß Väter das Geld verdienten. Hanni hatte in ihrem Leben noch nie etwas entbehrt. Jeder Wunsch war ihr erfüllt worden. Natürlich gab es auch arme Leute, die kein Geld hatten und hungern mußten. Aber daß eine Freundin von ihr dazu gehören sollte – nein, Hanni hätte jeden ausgelacht, der ihr so was hätte weismachen wollen.

Die Trennung von Hanni, vor der Renate gebangt hatte, war gar nicht so schwer. Da Renate bei Hanni auf so wenig Verständnis stieß, hatte sie schließlich ihre Sorgen und Befürchtungen für sich behalten. Es hatte ja gar keinen Sinn, der Hanni zu erzählen, daß ein Brief nach dem andern von Vaters Bewerbungsschreiben abschlägig beantwortet wurde. Daß der Vater, seitdem er nicht mehr in die Bank ging, von morgens bis abends nach Annoncen herumlief, um irgendeine Beschäftigung zu erhalten. Und wie niedergeschlagen er dann heimkehrte, wenn alle Gänge immer wieder umsonst waren. Wie tapfer Mutti den Vater stets aufs neue aufrichtete. Und daß jedes der Kinder sich bemühte, heiter und hoffnungsvoll zu sein. Nein, das hätte Hanni alles nicht verstanden. Für die gab es nur selbstverständliches Wohlleben, in dessen Mittelpunkt ihre eigene Person stand. So war Renate sogar im innersten Herzen erleichtert, als Hanni nach dem Bodensee abdampfte.

Die Schule durfte Renate weiter besuchen. Frau Felsing hatte es durchgesetzt, daß ihre drei noch schulpflichtigen Kinder Freischule erhielten. Leicht war es der Mutter nicht geworden, diese Bittwege zu gehen und die notwendigen Eingaben zu machen. Der Lyzeumsdirektor kam ihr in freundlichster Weise entgegen und wußte ihr das Bedrückende ihres Anliegens zu nehmen. Es seien bei der allgemeinen Arbeitslosigkeit ja jetzt so sehr viele Schüler darauf angewiesen, den Unterricht umsonst zu erhalten. Und bei so guten Schülerinnen, wie es Renate und Brigitte Felsing waren, wäre es ihm eine Freude, das Gesuch zu befürworten. Auch Bücher brauchten sie sich in der neuen Klasse nicht anzuschaffen. Die versetzten Schülerinnen seien angewiesen, die Lehrbücher, die sie in der neuen Klasse nicht mehr brauchten, für bedürftige Schülerinnen in der alten Klasse zurückzulassen.

Peters Direktor allerdings knüpfte die Mahnung an die Bewilligung des Gesuches um freien Schulunterricht, daß der Obertertianer Peter Felsing allen Grund habe, sich jetzt sehr zusammenzunehmen. Nur guten Schülern werde eine derartige Vergünstigung gewährt. Sobald Peter zu Klagen Anlaß gäbe, würde er der Freischule verlustig gehen.

Das war eine ernste Stunde, als die Mutter ihrem Jungen Mitteilung von den Worten des Direktors machte. Peter war alt genug, um zu wissen, was auf dem Spiele stand. Jetzt war es an ihm, fleißig und aufmerksam zu sein, um den Eltern nicht noch größere Sorgen zu machen, als sie ohnedies schon hatten.

Oh, Peter sah das auch ein. Er wollte sich bestimmt in der Schule durch nichts ablenken lassen und zu Hause seine Arbeiten gewissenhaft anfertigen. Er stellte sich vor den Spiegel und sagte zu sich selbst: »Ehrenwort, daß du dein Versprechen hältst. Wenn du es nicht tust, bist du ein gemeiner Kerl!«

Die Mutter hatte mit ihrer Großen überlegt, daß es besser sei, Gitta nichts davon zu sagen, daß sie jetzt kein Schulgeld mehr zahlte. Das Kind war noch zu unreif. Es würde Brigittchen bedrücken, und sie würde sich bei ihrer Empfindlichkeit leicht zurückgesetzt fühlen.

So ging alles eigentlich seinen alten Gang. Aber nur scheinbar. Nur äußerlich. Innerlich sahen die Dinge doch wesentlich anders aus.

Wer die Felsingschen Kinder lachend und übermütig wie alle andern aus der Schule kommen sah, der ahnte nicht, daß sie daheim eine Sorgenatmosphäre erwartete, die sich von Tag zu Tag mehr verdichtete. Sie empfanden es wohl selbst gar nicht, wenigstens Peter und Gitta nicht. Peter hatte wieder allerhand andere wichtige Sachen im Kopf. Er wollte sich vom großen Rundfunkapparat eine Privatleitung an sein Bett legen. Er brauchte dazu nur Kupferdraht. Kopfhörer waren vorhanden. Wirklich, es hätte nur ein paar Groschen gekostet. Daß weder Vater noch Mutter, die früher seine technischen Versuche gern unterstützt hatten, diese paar Groschen dafür übrig haben sollten, nein, das wollte dem Peter ganz und gar nicht in den Kopf. Gewiß sagte das Mutti nur, damit er sich nicht von seinen Schularbeiten ablenken ließ. Als ob er seine Gedanken jetzt nicht noch viel mehr darauf richtete, wie er sich das Geld dafür verschaffen konnte. Taschengeld bekam er auch nicht mehr. Wolfgang und Renate, die beiden Großen, hatten ihn ausgelacht, als er sich mit seinem Anliegen vertrauensvoll an sie gewandt hatte.

»Du hast dir doch was gespart, Wolfgang, von deinem Stundengeld bei den Lehmannschen Jungs.« Peter wußte Bescheid.

»Ja, aber nicht für derartige Spielereien. Jetzt sind die Jungen versetzt worden, und der Unterricht hat leider sowieso ein Ende.«

»Du wirst wieder andere Schüler finden. Es gibt noch mehr Dämlacke«, tröstete der Kleinere.

»Da könnte ich am Ende bei dir gleich anfangen«, neckte Wolfgang.

»Nee, ich komme in der neuen Klasse ganz gut mit. Du gibst mir doch das Geld, ja, Wolfgang? Kannst dann auch vom Bett aus Radio hören«, begann Peter aufs neue, ihn zu bestürmen.

»Lege gar keinen Wert darauf. Das Radiogeblöke wächst einem sowieso schon zum Halse heraus. Ich mache lieber selber gute Musik.«

»Na, denn nich!« Peter versuchte jetzt sein Heil bei Renate. Aber die lachte erst recht. »Wenn ich mal reich bin, gebe ich dir das Geld für die Radioanlage«, versprach sie großmütig.

»Ach, bis dahin – da bin ich vielleicht schon ein Graukopf. Du, Renate«, Peter machte ein pfiffiges Gesicht, »du hast doch ein Sparkassenbuch, wo du das Geld, was dir Onkel Hartwig immer zum Geburtstag schickt, einzahlst.«

»Eiserner Bestand. Wird nicht angerührt. Aber wenn ich eine Nachhilfestunde von der Schule aus bekomme, ich habe mich nämlich gemeldet, dann bekommst du von meinem ersten Stundengeld den Kupferdraht«, versprach Renate.

»Wenn – wenn – wenn meine Tante Räder hätte, wäre sie ein Omnibus.« Peter war von dieser Aussicht durchaus nicht erbaut. Wie konnte er sich nur selber das Geld verschaffen?

»Mutti, falls mal wieder an unserer Klingel oder an der Lichtleitung was kaputt ist, bezahlst du mir die Reparatur?« erkundigte er sich bei der Mutter. Es sollte ihm nicht darauf ankommen, erst die elektrische Leitung in Unordnung zu bringen.

»Nein, Peter, dazu haben wir kein Geld mehr übrig. Du bist doch schon alt genug, um selbst einzusehen, daß wir jetzt sehr sparen und das Geld für wichtigere Dinge lassen müssen«, stellte die Mutter ihrem Jungen liebevoll vor.

Wichtigere Dinge als die neue Radioleitung? Die gab's für Peter nicht. Lieber verzichtete er mal auf eine Mahlzeit, so verfressen er auch war.

Gitta merkte die schlechten Zeiten daran, daß sie keine neue Sommergarderobe bekam. Den gewünschten hellen Paletot mußte sie sich aus dem Kopf schlagen. Renate war ihren Lodenmantel ausgewachsen. Mutti richtete ihn tadellos für Gitta her. Brigittchen mußte doch verständig sein und einsehen, daß der Vater jetzt nichts Neues kaufen konnte. Aber Brigittchen war nicht verständig. Sie maulte, weil sie immer »altes Zeug« tragen mußte. Dabei bekam Renate auch nichts Neues. Die behalf sich mit ihrer Windjacke.

Renate war der Mutter in diesen schweren Wochen, so jung sie auch noch war, eine Stütze. »Wenn ich dich nicht hätte, mein Mädel«, sagte die Mutter oft anerkennend. Renate hatte vorgeschlagen, die Aufwartung, die fünfzehn Mark im Monat erhielt, abzuschaffen. Das Geld konnte man sparen. Sie stand eben morgens statt um sieben um sechs Uhr auf. Es ging ja auf den Sommer. Die Arbeit, welche die Frau machte, konnte sie noch vor der Schule erledigen. Die Mutter wußte, wie schwer Renate aus den Federn fand. Sie konnte das Opfer würdigen.

»Wir haben brave Kinder, Ernst«, sagte Frau Felsing zu ihrem Manne. »Das ist mehr wert als Geld und Gut.«

»Um so schmerzlicher ist es für die Eltern, die Kinder darben zu sehen«, war die niedergeschlagene Antwort.

»Bis jetzt haben sie noch nicht gedarbt, Ernst. Es schadet nichts, wenn junge Menschen lernen, sich Entbehrungen aufzuerlegen. Das stählt den Charakter.«

»Bis jetzt haben sie noch nicht gedarbt – nein!« wiederholte Herr Felsing automatisch. »Aber was soll im nächsten Monat werden, wenn mein Märzgehalt aufgebraucht ist?«

»Es wird sich schon was finden. Gott verläßt uns nicht«, sagte Frau Felsing schlicht.

»Dann muß ich stempeln gehen wie Millionen andere. Ehe ich das tue, von der öffentlichen Wohlfahrt leben – nein, Lotte, das vermag ich nicht.«

Frau Lotte schwieg. Sie wußte, daß es ihrem Mann gegen den Stolz ging, Arbeitslosenunterstützung zu beantragen. Aber gab es einen andern Weg? Auch die letzte Hoffnung, die sie auf den Freund, Renates Paten, gesetzt hatte, war fehlgeschlagen. Zwar schrieb Herr Hartwig teilnahmsvoll und freundschaftlich. Aber eine Stellung wußte auch er bei dem allgemeinen Abbau nicht für den Freund. Er würde ihm gern, wenn Felsing in augenblicklicher Verlegenheit wäre, mit ein paar hundert Mark aushelfen. Mehr könne er nicht tun. Jedoch wolle er sein Patenkind Renate bei sich aufnehmen. Sie sollten ihm das Mädel nach München schicken. Er und seine Frau würden sich freuen, ein Töchterchen zu bekommen, da sie ja nur Buben hätten. Das Reisegeld würden sie ihr schicken.

»Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen«, meinte Herr Felsing nachdenklich. »Es wäre sicher zu Renates Glück. Hartwig kann besser für sie sorgen, als es ihr eigener Vater vermag.«

Frau Felsing schwieg. Das Herz krampfte sich ihr zusammen, daß sie nun auch noch ihr Mädel, ihre Renate, hergeben sollte. Ganz abgesehen von der Hilfe im Haushalt gab ihr Renate mit ihrer jungen Zuversicht immer wieder neuen Mut. Sie war ihr in den Sorgentagen eine Freundin geworden. Es würde ihr sehr schwer werden, das Kind fortzulassen. Aber eine Mutter darf nicht egoistisch sein.

»Wir wollen Renate fragen, sie soll selbst entscheiden«, schlug sie vor.

Als Renate aus der Schule kam, gab ihr die Mutter den Brief ihres Paten. Renate wurde blaß, als sie las, daß auch Onkel Hartwig, auf den sie alle ihre Hoffnungen gesetzt hatte, keine Anstellung für den Vater wußte. Daß er ihm nicht einmal einen Rat geben konnte, an wen er sich wenden sollte. Dann stieg ihr das Blut bis an das dunkle Haar. Nach München sollte sie? Zu Onkel und Tante Hartwig, die von klein auf in ihrer Phantasie eine Rolle gespielt hatten? Herrlich! Raus hier aus den Sorgen und den bedrückenden Verhältnissen. Nach München, wo es so schön sein sollte. Wo Onkel Hartwig ein Wochenendhäuschen in den bayrischen Bergen am Tegernsee besaß und ein Auto, mit dem er die Familie hinausfuhr. In die weite Welt sollte sie – ach – – –! Fast hätte Renate einen Jubellaut ausgestoßen.

Da begegnete ihr Auge dem unbewußt angstvoll auf sie gerichteten Blick der Mutter. Liebe und Bangigkeit zugleich lagen in der stummen Frage ihrer Augen. Nur eine Sekunde schwankte Renate noch. Sie sah, wie blaß das Gesicht der Mutter war, wie sich durch ihr dunkles Haar in den letzten Wochen hier und da Silberfäden zogen. Da versank München, das Wochenendhaus am Tegernsee, die lockende Ferne. Renate atmete tief.

»Nein, Muttchen, ich bleibe bei euch. Ich will es nicht besser haben als ihr. Und – und du kannst ja dein ›Mädchen für alles‹ auch gar nicht entbehren, Muttichen. Ich darf doch nicht einfach auf und davon gehen, ohne gekündigt zu haben«, versuchte sie zu scherzen.

»Du bist mein gutes Kind«, sagte die Mutter und strich ihrem Mädel zärtlich über das glatte Haar. »Es ist vielleicht selbstsüchtig von mir, daß ich über deinen Entschluß glücklich bin. Ich brauche dich nicht nur als ›Mädchen für alles‹, Renate. Deine Jugend brauche ich, deinen Frohsinn, deine Hoffnungsfreudigkeit. Eins mußt du mir aber versprechen, Kind. Wenn dir dein Entschluß mal leid sein sollte, dann komme zu mir und sage es frei heraus. Ich will kein erzwungenes Opfer von meinen Kindern.«

So ging ein Brief an den Patenonkel nach München ab, in dem Renate ihm herzlich für seine Einladung dankte. Aber sie könnte die Eltern jetzt nicht im Stich lassen.

»Na, dann scheint's ja noch nicht gar so schlimm bei Felsings auszusehen«, äußerte Herr Hartwig, als er den Brief erhielt, zu seiner Frau. »Müßten doch froh sein, einen Esser weniger satt zu machen.«

»Mir gefällt es, daß unser Patchen zu den Eltern hält und es nicht besser haben will als sie«, meinte Frau Hartwig. Damit war die Sache erledigt.

Für Renate allerdings doch noch nicht ganz. Wenn der Wecker sie morgens um sechs unbarmherzig aus den Federn riß, dachte sie wohl gähnend daran, daß Hartwigs in München sicherlich ein Mädchen für die grobe Arbeit hätten. Daß man sich dort ausschlafen könnte. Als die Schulkastanie sich mit Blütenkerzen besteckte und die Frühlingssonne so verlockend in die französische Stunde herein flirrte, wanderten Renates Gedanken unwillkürlich zu Onkel Hartwigs Häuschen am Tegernsee. Wie schön mußte der Frühling dort sein! Aber sie versuchte, solche Gedanken mit Energie zu bekämpfen. Quatsch, sie war hier und hatte ihre Pflicht zu tun. Punktum.

Der Frühling fragt nicht nach den Sorgen der Menschen. Der geht lachend und unbekümmert seiner Wege, immer neue Blütenwunder hervorzaubernd. Da ist wohl kaum ein Gemüt so verzagt, daß es sich nicht aufrichtet an dem Wiedererstehen der Natur und hofft: Nun muß es besser werden.

Frau Felsing pflanzte Pelargonien in ihre Balkonkästen. Sie hatte die Pflanzen im Keller überwintert. Eigentlich sahen sie wie braunes Gestrüpp aus. Aber kunstgerecht verschnitten würden sie in der Sonne draußen schon neue Triebe ansetzen. In andern Jahren hatte sie stets noch Begonien, Petunien oder Stiefmütterchen dazwischengepflanzt. Das mußte sie sich in diesem Jahr versagen. Kein Geld unnütz ausgeben. So hieß jetzt der unfreiwillige Wahlspruch im Felsingschen Haus.

»Unser Balkon sieht in diesem Jahr wie 'ne Müllgrube aus«, äußerte Peter mit jungenhafter Rücksichtslosigkeit.

»Warte nur, Peter, wenn die Pelargonien erst blühen werden«, nahm die Mutter ihr Hausgärtchen in Schutz.

»Die blühen überhaupt nicht vor Juli. Die sehen aus, als ob sie erfroren wären«, behauptete Peter mitleidlos.

Wolfgang und Renate steckten nach Tisch die Köpfe zusammen. So ging das nicht. Der Balkon war immer Mutters ganze Freude und Stolz. Stundenlang saß sie dort mit ihrer Arbeit. Zum Säen war es zu spät. Man hatte es durch die Aufregung mit Vaters Kündigung versäumt.

»Was kosten Petunien, Renate?« erkundigte sich Wolfgang.

»Auf dem Markt, an dem ich immer von der Schule vorbeikomme, sah ich neulich kleine Pflänzchen, drei Stück für fünfzig Pfennige.«

»Schön. Hier sind zwei Mark. Bringe morgen ein Dutzend mit. Wir pflanzen sie dann heimlich.«

»Famos, Wölfchen. Aber zwei Mark willst du dazu spendieren? Dürfen wir soviel Geld dafür ausgeben?« gab Renate zu überlegen. »Zuerst hast du dein Stundengeld für eine Winterreise ins Gebirge zusammengespart. Und als es damit Essig wurde, wolltest du dir einen Sommeranzug dafür kaufen. Dein alter ist auch schon recht abgetragen, Wolfgang.«

»Deine Windjacke etwa nicht? Und wer hat behauptet, daß sie noch tadellos ginge? Na also. Wenn du als Mädel sowenig eitel bist und auf was Neues verzichtest, muß ich es als Junge doch ganz gewiß.«

»Ich könnte ja auch eine Mark für Balkonpflanzen von meinem Sparkassenbuch abheben. Siebenundfünfzig Mark sind drauf.« Renate mochte nicht hinter dem Bruder zurückstehen. Sie zog ihr Geldtäschchen hervor und kramte darin herum. Vierunddreißig Pfennige, mehr wurden es nicht.

»Laß nur, Renate. Die zwei Mark machen mich auch nicht viel ärmer und Mutter um eine Freude reicher. Ich gebe das Geld, du übernimmst die Arbeit. Wenn man bloß wüßte, wie man was verdienen könnte. Keine Katze hat sich bisher auf mein Stundenangebot gemeldet.«

»Ich fürchte, ich werde ebensowenig Glück bei uns in der Schule damit haben. Vor der Versetzung, ja, da hoffen sie immer noch, daß man was erreicht. Nach Ostern ist es schlecht mit Nachhilfeunterricht.«

»Und was soll bloß mit unserm Vater werden? Das untätige Herumsitzen zu Hause, das hält er einfach nicht aus.«

»Er muß ganz bestimmt was finden«, sagte Renate mit unverwüstlicher Zuversicht.

»Wauwau«, äußerte sich Lump. Das war auch seine Meinung. Nur nicht die Ohren hängenlassen.

Am nächsten Tage war Markttag. Die nette Blumenverkäuferin schenkte dem jungen Mädchen noch drei Pflänzchen zu. Es gelang Renate, ihren Einkauf von Mutti unbemerkt auf den Balkon zu schmuggeln.

Am Nachmittag hatte die Mutter einen Weg. Das klang ganz geheimnisvoll. Sonst pflegte Mutti immer zu sagen, wo sie hinging.

Renate fragte nicht viel. Sie war froh, daß sie ihre Petunien in Muttis Abwesenheit als Überraschung pflanzen konnte. Peter ging ihr dabei geschickt zur Hand. Auch Gitta wollte helfen. Als sie aber in der feuchten Erde einen Regenwurm in die Hand bekam, nahm sie schreiend Reißaus. Der Neckpeter mit dem Regenwurm hinterher.

Ziemlich niedergeschlagen kehrte Frau Felsing heim. Sie war in dem Anwaltsbüro gewesen, in dem sie vor ihrer Verheiratung als junges Mädchen gearbeitet hatte. Über zwanzig Jahre war das nun her. Sie hatte gehofft, daß man sie dort vielleicht wieder einstellen könnte. Aber natürlich war jeder Platz besetzt. Das einzige, was sie erreicht hatte, war, daß man, falls man mal eine Aushilfe brauche, an sie denken werde. Das war herzlich wenig. Davon konnte ihre Familie nicht satt werden. Sie zerbrach sich den Kopf, wie sie es möglich machen sollte, etwas zu verdienen.

Erwartungsvoll begrüßten die Kinder die Mutter. Jedes Gesicht war Vorfreude über die Überraschung. Selbst Lump wedelte verheißungsvoll mit dem Schwanz.

»Was habt ihr denn, Kinder?« verwunderte sich Frau Felsing. »Irgend etwas ist doch los.« Und gleichzeitig durchzuckte es sie: »Ist Vater schon zurück? Hat er – hat er etwa Arbeit gefunden?«

Nein, damit war es nichts. Trotzdem die verschmitzten Gesichter. »Ich glaube, deine Pelargonien haben schon angesetzt, Mutti«, begann Renate.

»Ja, sie blühen bereits«, rief Peter.

»In den drei Stunden, wo ich fort war?« fragte die Mutter belustigt.

»Bitte komm und sieh selbst.« Wolfgang öffnete die Balkontür. Die andern drei zogen die Mutter hinaus. Sie ließen ihr nicht mal Zeit, Hut und Mantel abzulegen.

Da standen zwischen dem bräunlichen Pelargoniengestrüpp grün und frisch die Petunienpflanzen. Einige hatten sogar schon Knospen.

»Nanu?« Frau Felsing stand starr. »Wo kommt denn das her?«

Alles schwieg und schmunzelte. Nur Lump blaffte laut, als ob er der Urheber sei.

»Ihr habt mir eine große Freude gemacht, Kinder«, sagte die Mutter erfreut. Alles Bedrückende war von ihr genommen. Wenn man so gute Kinder hat, muß man dem lieben Gott dankbar sein.

Die Arbeit ging ihr heute noch mal so leicht von der Hand. Sie schien heiter wie früher. Die Kinder waren glücklich, ihre Mutter wieder lachen zu sehen. Nach dem Abendessen setzte sich Wolfgang ans Klavier und spielte Beethoven. Da vergaß auch der Vater seine Sorgen.

Als aber die Petunien auf dem Balkon blühten, da mußte sich der Vater doch entschließen, den schweren, schweren Weg zum Wohlfahrtsamt zu gehen. Der Sparpfennig war bis auf ein geringes aufgebraucht. Er mußte um Arbeitslosenunterstützung einkommen, wenn seine Kinder nicht hungern sollten.

Es war der schlimmste Tag, den Felsings bisher erlebt hatten, als der Vater zum erstenmal »stempeln« ging.


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