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8.

Jarnegan wartete, während Falon sich auf dem Set zu schaffen machte. Sein Leib war gestrafft, muskulös, wog etwa hundertfünfundachtzig Pfund. Er hielt die Schultern zurückgeworfen, wie einer, der in steter Abwehrstellung ist. Er war ungefähr fünf Fuß zehn groß, hatte lange Arme und große knorrig-knochige Hände.

Sein weißes Flanellhemd stand am Halse offen. Ein kostbares Halstuch knotete sich über seiner Brust.

Seine tiefliegenden, grauen Habichtaugen waren von unsäglicher Traurigkeit und durchbohrender Helle. Es waren sehr alte Augen, weitaus älter als seine Jahre, die Augen eines Mannes, der auf dem Pfad der Erinnerung einen Zug von Gespenstern anstarrt.

Sein Gesicht war leichenhaft und tief gefurcht. Es war ein massiges und betrübtes Gesicht – von Willenskraft geprägt. Seine Mundwinkel waren herabgezogen, als trügen sie die Last junger Jahre. Der Unterkiefer zerriß die Linie des Gesichtes – so weit stand er vor. Er entspannte sich nie.

Jarnegan hatte in seinem Leben kein Buch zu Ende gelesen. Aber er stritt sich mit den Szenarienabteilungen herum, weil sie nicht genug Gefühl in die Drehbücher legten, die er in die Hand bekam. Niemand war imstande, ihn zu hassen, wenn er es nicht selber wollte. Sein tiefes Mitgefühl und Verständnis stieß alle Schranken um. Auch in den feinsten Gesellschaften fluchte er wie ein Bürstenbinder. Der elendsten Schwermut preisgegeben, ließ er seiner Stimmung freien Lauf. Er erriet das Ende einer Geschichte, ehe sie zur Hälfte erzählt war. Er selbst dramatisierte in einem fort und über alles, was in die Sphäre seiner durchdringenden Beobachtungsgabe geriet. Das Leben war für ihn ein Drama, dessen Hintergrund jugendliche Frauenschönheit bildete.

Wenn ein Verbrecher hingerichtet wurde, folgte er ihm buchstäblich bis in den Tod. Er spürte greifbar den elektrischen Stuhl, die Gewehrsalven oder den Strang. Er fühlte die Schlinge um seinen Hals, die Kugeln, die sich in sein Herz bohrten, den Strom, der seinen Körper zerfetzte.

Er gesellte eine unbändige Demut einem noch unbändigeren Stolz. War erbarmungsvoll und grausam, naiv und durchtrieben. Einmal ganze Stunden über schweigsam, betrank er sich das nächstemal und schrie herum. Erfüllt von Haß und Mitleid, Teilnahme und Spott, war er zu gleicher Zeit ein großer Schauspieler und grauenhaft aufrichtig.

Er war der erste Regisseur, der die Wichtigkeit einer feiner abgetönten Mimik empfand. Er wußte nicht, daß er es wußte – aber das Leben war ihm eine Verkettung von Geschehnissen und nicht vorgezeichneter Wege. Er sah den ganzen Film vor sich, bevor die Aufnahmen begannen. Aus diesem Grund kostete es ihn nur wenig Zeit, den Film zurechtzuschneiden. Er arbeitete wie ein Meisterautor, strich kein Kapitel des fertigen Werkes. Das vervollkommnete die fortlaufende Gefühlseinheit und sein organisches Gleichgewicht. Die meisten Regisseure verbrachten ganze Tage im Schneidezimmer und schwitzten Blut bei der Ausmerzung von Szenen, die sie nicht vor der Aufnahme auszuschneiden fähig waren. Er wußte stets bis ins Kleinste, welche Bilder aufzunehmen waren, wie viel Schauspieler er nötig hatte und was der Film kosten würde, bevor noch die Kamera mit einem Finger berührt worden war. Aber – wie alle großen Künstler – hielt sich Jarnegan an keine Regeln. Hätte er jemals solchen gefolgt, so wäre es für Minderbegabte ein Leichtes gewesen, seine Art und Weise zu durchschauen. Er trug die Gesetze in seinem Innern. Wenn ihn die Stimmung überkam, war er ein Dynamo angespannter Energie.

Als Mensch ohne »Ismen«, war er duldsam gegen alles, was sein Leben nicht streifte. Er wußte nichts von den Völkern und ihren Beherrschern. Er gab seine Stimme nie ab. Auch hatte er sich keine Theorien über das Leben zurechtgelegt. Ein zynischer Realist, bekämpfte er die Empfindsamkeit, die das Erbe seines irischen Blutes war. Mitunter wurde er beim Trinken zur bittersten Abart des irischen Menschen – zum sentimentalen Zyniker.

Ein siedender Vulkan, verbarg er die Lava des Einfühlens im Abgrund seines Innern.

Sein großer Kopf, der auf einem dicken Hais saß, war nun mit einem Flederwisch welliger Haare bedeckt. Ungebärdig wie seine Natur, bildeten sie ein verworrenes Gestrüpp. Sein Gehaben, sein Gang, sein ganzes Wesen war dramatisch eindrucksvoll.

In ganz Hollywood kannte keiner das wahre Wesen Jarnegans. Er besaß die von den irischen Mystikern ererbte Gabe, verhängte Fenster in seiner Seele zu tragen. Nicht selten empfand er einen unbändigen Haß gegen alles, was Film hieß, und eine tiefe Verachtung für die Tonangebenden des Films – es war so recht seine Art, über das Fahrzeug zu spotten, das ihn zum Erfolg geführt hatte. Wie alle Kraftmenschen würdigte er die Kunstgriffe und -kniffe der Weichlinge um ihn herum keiner Beachtung.

Er war ein Sinnenmensch und Heide. Das einzige, das ihm im Leben wirklich naheging, waren schöne junge Frauen. Sie trösteten ihn, wenn es sonst nichts vermochte. Zum Lohn – nahm er ihnen ihre Lebenskraft.

Er, dessen Blick nach innen sich in langen Wanderjahren geschärft hatte, war sich der Gesetze seines eigenen Wesens bewußt. Das verlieh ihm eine grundlegende Kenntnis anderer Wesen. Zum Andenken an die Prüfungen, die er erduldet hatte, entsprang seine köstlichste Lebensfrucht der Fähigkeit, gedachte Leiden zu erleben. Die um ihn waren minderwertige, aber akademisch höher gebildete Menschen, die ihr kleines Wissen für absolut hielten. Trotz seines umfassenden Verstandes und seiner großen natürlichen Klugheit warf er sich nie zum Diktator auf. In allem, was nicht von exakter Wissenschaft beherrscht wird, war er ihnen überlegen. Wenn von etwas Abstraktem die Rede war, sagte er: »Laßt den Stuß – darüber sollen sich die Filmkritiker den Kopf zerbrechen.«

Jarnegan und Falon waren das eigentümlichste Paar in der Filmwelt. Beide waren im Grunde ihres Herzens Vagabunden und ihr Leben hatte von jung auf etwas wie einen theatralischen Hintergrund.

Jarnegan hatte als Türsteher eines Theaters von Ironton, Ohio, begonnen. Schon als halbwüchsiger Junge, an der Oberfläche hart wie Granit, sog er alles wie ein Schwamm in sich auf.

Bereits vor Jahren hatte Patsy Brannigan, ein junger Reporter in Ironton, der Theaterreferate schrieb, seine Meinung über Schauspieler schätzen gelernt. Zu jener Zeit war Jarnegan ein Gemisch von Zettelankleber und Requisitenmeister. Inzwischen war Brannigan Redakteur des »Los Angeles Bulletin« geworden.

Jarnegan speiste nie mit mehr als vier Personen an einem Tisch. Gewöhnlich aber nur mit einer einzigen – einer jungen Frau. Der Alice Toren hatte er viel von seiner Vergangenheit erzählt. Im allgemeinen sprach er nicht viel. Sein Leben war ein geräumiges Haus, in dem jeweils ganz verschiedene Menschenarten ein- und ausgingen. Und doch kann man ruhig behaupten, daß es in seiner Seele Räume gab, die nie ein Mensch betreten hatte.

Falon schöpfte seine geistige Nahrung aus dem Film. Studiotratsch, Schundmagazine und stumpfsinnige Zirkel füllten sein Leben aus. Aber bei all seinen Grenzen war er in Hollywood eine Ausnahme – er ließ sich in keinen Wortstreit über Kunst ein. »Man setzt den Leuten den alten Stuß vor« – war sein Wahlspruch – »das gefällt ihnen immer.«

Jarnegan war in allem außer im Film ungebildet und, ohne zu wissen warum, geistig und seelisch ruhelos. Zuweilen lastete das Leben so schwer auf ihm, daß es ihn zu erdrücken drohte. Vor zwölf Jahren hatte er keinen Cent in der Tasche gehabt, nun war er weltberühmt und reich. Trotzdem war er oft einsam und unglücklich.

Er wußte, daß er alles, was er brauchte, außer im Geschlechtsleben, in sich selber fand. Das Leben war ihm ein Aufmarsch junger Frauenschönheit. Alle seine bewußten Stunden galten dem Anblick, den dieser Aufmarsch bot.

Er hatte nur für Frauen etwas übrig, die das zwanzigste Lebensjahr noch nicht oder erst jüngst überschritten hatten. Voll Abscheu vor Grübeleien und Auseinandersetzungen überlistete er die klügeren Frauen mit Lügen und Versprechungen für die Zukunft. So machte dann das gutgläubige Mädchen ein schlechtes Geschäft mit dem weltweisen Krämer.

Er bewohnte nun ein vornehmes Haus auf fünf Morgen Land mit drei chinesischen Dienern; wenn er betrunken war, liebte er es, sich mit ihnen zu unterhalten. Einer, ein untersetzter alter Bursche mit einem Baumelzopf, wußte ihm manch hübsches Märchen zu erzählen. Eines davon war die Geschichte seines eigenen Vaters, der als zwanzigster in einer Gruppe von Chinesen stand, die einzeln hingerichtet werden sollten. Da lief er, des Wartens müde, vor die anderen und legte seinen lebensmüden alten Kopf auf den Block.

Oft dachte Jarnegan an den geköpften alten Chinesen. – – – – –

Der Set war nun für die Aufnahme hergerichtet. Falon ging zu seinem Chef. Alles wurde still, als Jarnegan die Szene überblickte. Seine linke Hand schnellte vor – »Musik hier oben – alles bereit – jedermann – los!« Die Musik wellte durch den mächtigen Saal. Der Tanz begann, Pauline Clare führte mit ihrem Partner an.

Bald blies Jarnegan in seine silberne Pfeife. Er hob seine Hand gegen die Musiker. Musik und Tanz hörten auf.

Alle drehten sich ihm zu. »Füsselt hier nicht herum,« schrie er, ihr seid nicht in einer Tanzdiele – fünf Fuß auseinander da – und schielt nicht in die Apparate – los – jetzt – Tanz – Ka-me-ra – los!«

Musik und Tanz begannen von neuem. Abermals ertönte ein Pfiff.

»Heda, Jimmy«, sagte Jarnegan. »Ersuch' Miß Clare, nicht immer in die Kamera zu gucken. Wir wissen alle, daß sie schön ist, sag' ihr, sie soll stärker lächeln – als wäre es ihr eine Lust, am Arme ihres hübschen Liebhabers zu walzen. Erklär' ihr, daß sie hier auf einem Ball und nicht beim Hochzeitsschimaus eines Filmmagnaten ist.«

Als Jimmy die Botschaft ausgerichtet hatte, lächelte Pauline Jarnegan zu, der stirnrunzelnd zurücklächelte. Er blickte eine Sekunde auf sie, dann wandte er sich ab und winkte Falon, der in der Nähe stand –. »Sag' mal, dieses blauäugige blauseidene Mädchen – wer ist das?«

»Ein kleines Mädchen, das ich heute aufgenommen habe«, beschied ihn Jimmy. »Sie ist aus dem Studioklub. Velma, mein Schätzchen, hat mir sie telephonisch empfohlen.«

»So, so?« murmelte Jarnegan. »Ganz reizend«, fügte er dann hinzu.

Dale Malone, nicht gewöhnt an die dicke Luft, atmete schwer und in ihrem Kopf wirbelte es.

Die Pfeife ertönte. Der Walzer begann.

Wieder verdarb etwas das vollkommene Mosaik, das Jarnegan fertig zu bekommen strebte.

Wieder schrillte die Pfeife, Jarnegan sprach durch ein Megaphon.

Dale fühlte, daß er dabei unverwandt auf sie blickte. Als gewiegter Menschenkenner war er sich über die Macht gut angebrachter Worte im klaren. Als er zu Ende gesprochen hatte, fühlte sich der geringste Statist irgendwie für den Film verantwortlich. Er sah liebenswürdig auf das Mädchen, das die Szene verdorben hatte. »Das nächstemal werden Sie besser aufpassen, nicht wahr«, fragte er sanft. »Dieser Beruf nützt uns alle ab.«

Das Mädchen im blauen Kleid kreiste vor Jarnegan. Mit warm rieselndem Blut und bebenden Nerven fühlte sie seinen Blick auf sich ruhen, als sie an ihm vorbeiglitt.

Endlich zeigte sich in den Winkeln seiner zusammengepreßten Lippen ein Lächeln der Zufriedenheit. Alles klappte. Ab und zu vernahm man zwischen dem zu Schanden gespielten Lied und dem Rattern der Kurbelkasten das leise Schurren der Füße. Jarnegan preßte Hände und Lippen zusammen und summte vergnügt:

»Was ich nur tu-u-uu-u-u
Denn meinem Jammer hört nur
Der Photographe zu – –«

Ein sanftes Lullen in der Musik – die Lichter surren – die Kameras rattern rhythmisch – und das gleichmäßige Schlürfen tanzender Füße.

Erneutes Pfeifen. Ein Mädchen war auf den Fußboden gesunken.

»Herrje – was für ein Tag –« stieß Jarnegan hervor, als Falon über die Szene rannte und rief: »Holt die Pflegerin – das Mädchen ist ohnmächtig geworden.«

Jarnegan sah zu, wie das Mädchen vom Set getragen wurde.

»Ho – das Mädchen im blauen Kleid – ich dachte mir's gleich, sie ist zu lieblich«, knurrte er, während er sich mit der Hand durch einen Wust zerzauster Haare fuhr.

Die Larven des Frohsinns fielen von den fahlpurpurnen Gesichtern der Tänzer. Sie standen ringsum, die Frauen mit Schminken beschäftigt, die Männer mit gelangweilten Mienen. Der Ohnmachtsanfall einer Statistin zählte in dieser Welt der Übergefühle nicht.

Das Mädchen wurde hinter den Palmen auf ein Sofa gelegt.

Falon kehrte zu Jarnegan zurück. »In einer Minute kommt sie wieder zu sich –« meldete er geschäftig.

»Laß sie dort bei den Palmen und schick' ihr ihre Freundin hin«, sagte Jarnegan kurz. Falon ging zu June, dem Mädchen mit den Sommersprossen: »Bleiben Sie bei Ihrer Freundin, bis die Szene vorüber ist. Jarnegan scheint sich für sie zu interessieren. Man kann nie wissen.«

»Ich gehe«, sagte June.

Jack Jarnegan blies aufs neue in seine Pfeife.

»Weiter jetzt! Jedermann auf seinen Platz! Diesmal müssen wir's treffen. Sonst wird man sagen, wir arbeiten langsamer als Stroheim.« Er winkte mit beiden Händen. »Licht – Musik – Kamera – los – los!«

Jarnegan war es, als trüge man die Statistin im blauen Kleid an ihm vorbei hinaus, als der Walzer begann.

»Armes Ding!« murmelte er. »Die Hitze muß solchen Frauen bisweilen schwer ankommen. Sie ist aber auch eine kleine blaue Schönheit.« Er schob den Gedanken beiseite, während seine Augen einige Sekunden lang dem üppigen Körper der Pauline Clare folgten. »Arme Pauline!« – dachte er. »Vor einigen Jahren noch kam dir keine gleich. Der schönste Körper, den ich jemals gesehen habe!« Wieder glitt ein Lächeln über seine schmalen Lippen, als das vollkommene Bild der Tanzsaalszene sich in die Apparate schob.

Die schmucken Pärchen drehten sich im Kreise, während sich Jarnegans Lippen zufrieden über den großen weißen Zähnen lösten.

Die Apparate ratterten in eintönigem Rhythmus, die Musik spielte das ewiggleiche Tempo.

Jarnegan klatschte in die Hände.

»Schluß!« rief er den Kameraleuten zu. Dann lauter: »Das geht – fein – fein – jeder einzelne – ich wußte, daß wirs's schaffen werden.«

Er wandte sich an Jimmy Falon: »Wo ist das kleine Ding, das in Ohnmacht fiel?«

»Drüben hinter den Palmen auf einem Sofa« – antwortete sein Hilfsregisseur. »Sie fühlt sich schon ganz wohl – ein nettes Mädchen, was? Ich habe nie ein so schmuckes Dingchen gesehen. Aus Ohio, Mr. Jarnegan – Portsmouth, so sagte mir wenigstens Velma.«

Jarnegan zog die Brauen zusammen. »Kein Wunder, wenn ihr übel geworden ist. Das ist ein verdammtes Nest, wenn man von dort herkommt.«

»Sie hat sich noch nicht eingewöhnt, sie ist erst kurze Zeit hier.«

Jarnegan machte Miene, zu Dale zu gehen. Dann besann er sich eines andern.

»Sag' ihr, sie soll morgen wieder kommen«, sagte er. »Stell' sie unter die Palmen. Wenn sie aus dem Studio-Club ist, dann braucht sie das Geld. Aber verrat' ihr nicht, daß ich etwas gesagt habe – schick' sie jetzt nach Hause und bezahle ihr die volle Gage.« Er hielt einen Augenblick inne. »Sag' auch die Eßpause an, Jimmy. Um zwei soll jeder wieder auf dem Set sein.« Er hob die Hand zum Zeichen der Pause und schritt allein in sein Bureau, den dicht behaarten Kopf gesenkt, die Augen halb geschlossen und die schweren Schultern gebeugt, wie ein Mann, der zum Galgen geht.


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