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4.

Jarnegan blieb fast die ganze Nacht auf einem Fleck liegen. Er hatte das Geld, das ihm Jerry Brannigan gegeben hatte, in seine Westentasche gesteckt. Die fünf Dollar, die er vom Staat Ohio erhielt, hob er sich wo anders auf.

»Fünf Dollar für zweieinhalb Jahre roboten – knauseriges Gesindel« – dachte er – »die werd' ich mit einer Dirne verjubeln.«

Der träge Zug schleppte sich durch Indiana. Er saß im billigen Abteil, um ihn herum schwatzende Auswanderer nach dem Westen. Eine alte Jüdin mit dem gelben Gesicht einer windgegerbten Zigeunerin bot ihm einen Apfel an. Er nahm seine schwere Hand vom Kinn und sagte langsam: »Das ist schön von Ihnen – Sie liebes Mütterchen – aber ein Apfel würde mich jetzt erwürgen!« Sie sah ihn an und humpelte zu ihrem Sitz. Jarnegan stützte seinen Ellbogen wieder aufs Fensterbrett, legte sein Kinn in die Hand und starrte zum Fenster hinaus. Mechanisch zählte er die Telegraphenstangen. Als die Zuglichter die Drähte entlang huschten, kam ihm der Gedanke, das wären die über die Welt gespannten Saiten einer Riesengeige. Sein Blick folgte ihnen.

»In Chicago werde ich Musik hören, bei Gott – Geigenmusik –.« Er riß den schäbigen Koffer vom Boden auf und öffnete hastig, packte eine Flasche.

»Kein Korkzieher – verdammt.« Er ging zur alten Jüdin, die mit ihrer Sippschaft tratschte … hielt die Flasche in der Hand …

»Kann ich – –«

Sie sah, was er brauchte und griff im Nu in einen Korb, reichte ihm einen Propfzieher.

Er entkorkte die Flasche und bot ihr einen Schluck an. Verlegen schüttelte sie den Kopf. Jarnegan kehrte zu seinem Sitz zurück, die Flasche in die Hand gepreßt. Die Flüssigkeit rann ihm glatt wie Öl die Kehle hinunter. Sein vierschrötiger Körper brauste von elementarer Musik. Von neuem schoß das Licht über die Drähte. Er hob die Flasche.

Er war nicht länger der Exsträfling – nein, ein Mastodon des Schicksals. »Ich werd's dem verdammten Pack zeigen!«

Er leerte die erste Flasche.

»Wenn ich in Chicago ankomm', geh' ich gleich zum Custom House Place – von den Mädchen wird zwar keines mehr auf sein … aber, der Teufel hol's, ich wecke sie – für einen Kerl, wie mich, werden sie wohl schon aus dem Bett kriechen.«

Er griff nach der Bibel und schlug das Hohe Lied auf. Der Trunk umwölkte seinen Blick und ließ die Worte durcheinanderwirbeln.

Er warf das Buch weg. »Der alte Bursche hat die Mädchen auch geliebt, weiß Gott. Wenn nur der verflixte Zug rascher fahren würde!« Er öffnete die zweite Flasche.

Ein Mantel aus mattgrauem Licht breitete sich über die Erde. Um ihn schnarchten einige Auswanderer. Er tat einen letzten Zug aus der Flasche.

Der Zug kam nach Eaglewood und hatte zehn Minuten Aufenthalt, nach weiteren dreißig Minuten fuhren sie in Chicago ein. Als der Schaffner ausrief – »Chicago – Dearborn Station – Gepäck nicht vergessen –«, stieß Jarnegan die leeren Flaschen mit dem Fuß unter den Sitz, packte den alten Koffer, vergaß die Bibel und stieg aus, schamlos besoffen, aber Herr seiner Sinne.

Die Passagiere schritten durch die Eisentore, um die sich eine gedrängte Schar Wartender aufgestellt hatte. Auf Jarnegan wartete niemand. Er schlenderte davon, mit dem Koffer in der Hand – auf dessen Boden das Buch Mark Twains hin und her rutschte.

Der Whisky rumorte ihm im Kopfe. Gedankenleer, mit einem höhnischen Lächeln im knochigen Gesicht, war er an diesem Morgen der reichste Mann von Chicago. Er hatte etwas, was ihn nie verlassen sollte, – einen Hellblick, der ans Geniale streifte und einen ungestümen Lebensdrang. Männer und Frauen mußten ihn, ob sie wollten oder nicht, auf seinem ganzen Lebenswege lieben.

Er schritt mitten durch die Menge der Wartenden und hinterlegte den Koffer in der Garderobe. Mit dem Zettel in der Hand durchquerte er den Gepäcksraum. Draußen zerriß er den Zettel. »Was brauch' ich das Zeug?« Er ging hinüber in Salvadors Saloon und dachte bei sich:

»Diese Bude steht noch immer.« Er zog eine der Banknoten, die ihm Brannigan gegeben hatte, und legte sie auf den Schanktisch.

»Geben Sie was zum Saufen her, – aber nichts Verdünntes … was Echtes will ich.«

Der Barmann rieb die Flasche mit einem Lappen ab und stellte sie auf den Schanktisch.

»Geben Sie mir ein Ei dazu,« bestellte Jarnegan »und ein großes Glas.«

Der Barmann schlug das Ei auf und leerte es in das Glas. Jarnegan goß den Schnaps darüber. Schlürfte das Ganze aus. »Noch einmal dasselbe.«

Der Barmann gehorchte und gab auf die Note Jarnegans zurück.

»Habt ihr Mädels da?« fragte er dann.

»Ich kann hinübertelephonieren zu Madame Kerry«, sagte der Barmann dienstbeflissen, da er wußte, daß zehn Prozent von allem Geld, das Jarnegan drüben ausgeben würde, ihm gehörten.

»Famos – sagen Sie ihr, ein richtiger Kerl kommt hinüber.«

Er schenkte sich von neuem ein. »Wo ist es?«

»Ich gebe Ihnen die Adresse«, sagte der Barmann und reichte ihm eine Adreßkarte, auf deren Rückseite ein unzüchtiges Gedicht stand.

»Dritte Seitengasse vom Custom House Place. Eine grüne Lampe hängt davor. Sie können nicht fehlgehen. Geben Sie nur der Frau diese Karte und sagen Sie ihr, Sie kommen von mir.«

»All right«, antwortete Jarnegan, indem er sich wieder einschenkte und das Geld bis auf einen Dollar einstrich. Der Barmann kurbelte den Betrag ab und sagte, als sich Jarnegan zum Gehen wandte: »Warten Sie einen Augenblick, Bruder – trinken Sie mal auf meine Gesundheit.«

»Her damit!« Jarnegan lächelte.

»Da drüben gibt's eine kleine Brünette« – belehrte ihn der Barmann – »sie ist eine Perle – Winifred heißt sie – fragen Sie nach der – Freund – sie ist dort – die kann einen Pfaffen vor Liebe zappeln machen.«

»Schön,« meinte Jarnegan, »ich werd's mit dem Mädel versuchen. Wenn sie nur dort ist.« Er sah dem Barmann, der ein Glas blankscheuerte, geradeaus in die Augen. »Denn,« sagte er mit großen Pausen, »ich war zweieinhalb Jahre im Kotter – und das ist eine verdammt lange Zeit ohne Weiber.«

Während der Barmann eine passende Antwort suchte, verschwand Jarnegan durch die Drehtür.

Als Jarnegan Winifred am nächsten Morgen verließ, hatte er weniger als vier Dollar in der Tasche. Sein Kopf hämmerte vom Schnaps. Er schlenderte in die Richtung zum Michigansee und gab sich Mühe, einen Entschluß zu fassen.

An der Ecke der Zwölften und der Wabash Avenue stach ihm ein Plakat der »Ringling Brothers« in die Augen. Barnum und Bailey – zusammen mit Ringling – die größten Schaubuden der Welt – hatten eben ihr Gastspiel im Coliseum beendet. Er lief die Wabash Avenue hinunter, um sich zu erkundigen, in welcher Richtung sie davongezogen waren.

Der schwarze Torwart sagte ihm: »Sie gegangen – Cedah Rapids – Des Moines – dann Omaha – sein jetzt dort – dann sie gehen zu Europa – Azia – Afrika – nächste Winter – oh möcht ich sein jung.«

In Jarnegan kam Bewegung. Er wollte herausfinden, wo der Zirkus war – und erfahren, welche Richtung der Plakatierwagen eingeschlagen hatte.

Er beschloß, die Arbeitsvermittlungen in der Canal- und West-Madisonstraße aufzusuchen und sich irgendwie bis Omaha durchzuschlagen.

»Wenn auf der Union Pacific Linie oder sonst einer entlegenen Bahn gebaut wird, suchen die Leute Arbeiter – ich muß einen Kleiderkoffer haben, damit sie mich befördern … das wird mich einen Dollar kosten – dann wird auch die Arbeitsvermittlung einen Dollar verlangen – bleibt mir noch so ungefähr ein Dollar zum Leben …«

Er schritt die Canalstreet hinunter und sah sich nach Tafeln mit der Aufschrift »Arbeiter gesucht« um.

Überall standen Invalide der Arbeit herum. Er kam sich ihnen überlegen vor. Körperlich vom Kerker und der Ausschweifung geschwächt, wuchs die Kraft seines Ego. In der West Madison Street fand er eine Agentur, die bereit war, ihn nach Denver zu befördern. Der Preis betrug anderthalb Dollar. Denver war fünfhundert Meilen weiter, als er gehen wollte. Er beschloß, sein Glück zu versuchen und den Zug in Omaha zu verlassen. »Fünfhundert Meilen für nicht ganz drei Dollar – das ist nicht so schlimm«, tröstete er sich.

Der Mann, der Leute für die verschiedenen Arbeiten aufzutreiben hatte und den Spitznamen »Menschenjäger« führte, musterte Jarnegans stämmigen Körper und seine breiten Schultern.

»Mit Ihnen wird's gehen«, sagte er. »Wo haben Sie Ihren Kleiderkoffer?«

»Oben in meinem Zimmer«, erwiderte Jarnegan.

»Bringen Sie ihn her und hinterlegen Sie ihn bei uns, dann gebe ich Ihnen die Fahrkarte«, sagte der Mann.

»All right«, gab Jarnegan zurück und eilte davon.

In der Halstedstreet fand er einen alten Lederkoffer. Ein verrosteter Schlüssel hing daran. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er sperrte, erkundigte er sich beim Händler nach dem Preis … »Ein Dollar.«

»Haben Sie nicht einen alten Overall und einen Ziegelstein bei der Hand?« fragte Jarnegan.

»Ja – ja, – ich weiß schon, was Sie brauchen.« Der Händler lief in den rückwärtigen Laden und kehrte mit einem in einen fleckigen Overall eingewickelten Ziegelstein zurück.

»Da haben Sie – das macht den Koffer schwer dreißig Cent.«

Jarnegan verstaute Ziegel und Anzug in dem Koffer und bezahlte. Dann eilte er in die Arbeitsvermittlung zurück und hinterlegte den Koffer, wobei er dem »Menschenhändler« anderthalb Dollar einhändigte.

Am nächsten Mittag schwang er sich in Omaha vom Zuge.

Der »Menschenjäger« im Dienst brüllte ihm nach:

»Heda, zurück – Sie sind noch nicht in Denver.«

»Der Teufel will nach Denver …«

Jarnegan verlor sich im Gedränge. Er ging in ein billiges Wirtshaus in der Sechzehnten Straße und erkundigte sich dort nach dem Weg zu den Zirkusplätzen.

Ein langes Herumwandern klärte ihn darüber auf, daß der Plakatierwagen drei Tage später in Colorado Springs – in geringer Entfernung von Denver – eintreffen sollte.

»Tod und Teufel – warum habe ich nicht mein Glück versucht und bin nach Denver gefahren – aber dann – zum Kuckuck – wäre ich eigentlich just so schlecht daran.«

Es kam ihm der Gedanke, es mit einer Anstellung beim Zirkus zu versuchen. Er griff nach dem Rest seines Geldes.

»Nichts da – ich werde es mit einem Postzug versuchen – vielleicht kenn' ich wen von der Gesellschaft. Sie sind eine Zunft mit den Ringlingleuten und werden schon dem Kerl, der Japper um die Ecke gebracht hat, was zum Essen geben. Ich kann den Kopf hübsch hoch tragen, wenn ich auf Leute meines Schlages stoße – das ist auch was wert.«

Er schlenderte weiter, klimperte mit den achtzig Cents in seiner Tasche und summte …

»Dein Mädel an die Brust gepreßt, –
Natur und Gott besorgt den Rest, –
Hei, gibts nicht schon 'nen Haufen Kinder hier in der Stadt?«

Er kam an einem Saloon in der Battleax Avenue vorbei und hörte von drinnen singen …

»War das nicht der Kelly, Kinder?
Kelly mit dem grünen Binder, –
Sein Aug' ist rot und rot sein Haar, –
Er ist ein German – nur ist 's nicht wahr – –«

»Ich geh hinein und trink mir 'nen Rausch an – eins so gut wie das andere. Was in aller Welt fängt ein Irisch-Amerikaner mit achtzig Cents in der Tasche an?«

Er trat in die Bar. In der Tiefe des Raumes standen eine Menge Leute. Sie brachten dem Inkassanten einer Brauerei – einem biederen rotwangigen Deutschen – ein Ständchen. Der Wirt schob Jarnegans Geld zurück – und zwinkerte dem Deutschen zu.

»Prost Bruder«, rief Jarnegan, den Whisky vor sich erhebend. Alles wandte sich dem Exsträfling zu, während er das Naß in seine Kehle goß.

»Der trinkt einem Brauereimann mit Whisky zu«, plapperte ein kleiner Mann.

»Na, was denn –« lachte Jarnegan … »Was, zum Teufel, soll ich sonst trinken?« Er wandte sich dem Wirt zu – »Noch eins!«

»'s geht auf meine Kosten, Bruder«, rief ihm der Deutsche zu.

»So spricht ein Mann«, entgegnete Jarnegan, das Glas erhebend.

»Jetzt wollen wir alle trinken«, regte der Deutsche an.

Der Wirt war seinem Wunsche zuvorgekommen.

Jarnegan leerte sein Glas und ging hinaus, murmelte in sich hinein: »Ein wahrer Glückstag«, und spazierte der Union-Station zu.

»Bis morgen kann ich leicht bis Springs kommen, wenn ich hier die Limited erwisch'!« dachte er.

In dieser Nacht prankte sich Jarnegan an die Puffer der San Francisco Limited. Am nächsten Morgen erreichte er Denver und zehn Stunden später Colorado Springs. Er war zu Tode erschöpft und hatte einen Bärenhunger.

»Mir widerstrebt es, jemanden fürs Fressen anzupumpen … Ich werde den Leibriemen fester schnüren, bis ich den Wagen gefunden hab' – die Genossen werden mir schon zu essen geben.«


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