Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

2.

Im Hofe stolperte er über den Wagen seines Kindes. Seine Verwandten waren mit der schlimmen Nachricht zu seiner Frau gerannt. Die wartete nun im verfallenen Holzschuppen am Ende des Hofes auf ihn.

Als er die Tür aufmachte, jammerte sie ihm entgegen: »O du mein Gott, was soll ich tun – und mein armes Kleines, was wird aus dem?«

»Auf dich kommt's jetzt nicht an – aber ich – was soll ich tun, zum Teufel auch – wo ist das Baby?« fragte er.

»Im Schlafzimmer«, antwortete sie stumpf.

Er stürzte hinein, an das Bettchen. Einen Augenblick betrachtete er das Kind und strich ihm das Haar aus der Stirn. Die Hand, die Japper ins Jenseits befördert hatte, zitterte jetzt. Er sah sich im Zimmer um, suchte seinen schwarzen Wanderkater Bum.

»Heda, Bum – komm zum Herrchen, Bum«, lockte er ihn. Der Kater war nirgends zu sehen.

Da wandte er sich von neuem dem schlummernden Kind zu.

Die Polizei kam. Vier Männer traten ins Zimmer, mit Revolvern in der Hand. Muldoon blickte auf.

»Hände hoch!« kommandierte ein Polizist.

»'s ist gut«, sagte Muldoon gleichgültig. »Glauben Sie, ich bin Jesse James?«

Das Kind schlief weiter. Die schluchzende Frau trat beiseite. Die Polizisten führten den betäubten Verhafteten ab. Einer der Polypen hatte mit Muldoon in der Nagelfabrik gearbeitet. »Wenn du Jerry Brannigan brauchst, rufe ich ihn dir, Mul«, sagte er.

»All right, Joe, ruf' ihn.«

Brannigan, ein hohlwangiger kleiner Kriminalist, so ziemlich einer der besten Verteidiger von Ohio, mit rasiermesserscharfer Zunge und schwammweichem Herzen, kam in Muldoons Zelle geeilt. »Ruhig Blut, Jack – und Mund halten«, gebot er. »Wir werden die Sache schon so deichseln, daß wir vorbereitet sind, wenn sie dich nach Columbus schicken.«

Der schlaue Anwalt, der seine Nase in allem politischen Gebräu stecken hatte, war von jeher Muldoons Freund gewesen. Auch er hatte in der Nagelfabrik gearbeitet. Und kannte die Seele des Arbeiters.

Der Verhandlungstermin verschob sich von einem Tag auf den andern. Eine Woche dauerte es, ehe man die Geschwornen beisammen hatte. Der Staat wollte keine Volksrichter aus den Reihen der Organisierten. Aber Brannigan brachte zwei Mittelständler in die Jury hinein, die er seit seiner frühesten Jugend kannte. Sie hatten, wie er, früh die Fabrik verlassen. Und er kannte ihre persönlichen Gefühle.

Zu Muldoon sagte er: »Sie werden dich verdonnern – da gibt's nichts – weil du auch was angestellt hast. Aber es wird nicht ärger als Totschlag und ich rechne bestimmt, daß sie Milde empfehlen werden – mildernde Umstände – und ich werde schauen, daß ich dich heraushaue, bevor du noch hineinkommst.«

Der dürre, kleine Rechtsanwalt stand vor der Geschwornenbank und klopfte mit seinem Bleistift auf seine Fingernägel …

»… Nehmen Sie einmal an, meine Herren,« sagte er, »dieser Jack wäre ihr Sohn – und er wäre durch eine Verkettung unglücklicher Zufälle zu diesem Fehltritt getrieben worden, wie es diesem Jack geschah. Der Junge hat immer gearbeitet, meine Herren Geschwornen – hat seiner Familie und einem jeden geholfen. Es gibt unsichtbare Gesetze, meine Herren, mächtiger als alle geschriebenen Gesetze. In einem Kriege wäre Japper erschossen worden, meine Herren – –

Washington brach in Tränen aus, als er von Arnold verraten wurde, meine Herren – und Japper war Verräter an einer Sache. Jene unter Ihnen, meine verehrten Herren, die gleich mir in Fabriken und Werkstätten gearbeitet haben – wissen, wie kostbar diese Sache ist. Wir bitten Sie, meine Herren, um Einsicht. Es war nicht vorbedacht, meine Herren – es geschah in der Hitze des Kampfes. Ich bitte Sie daher nochmals, meine Herren Geschwornen, um Unparteilichkeit und Einsicht.« Er blickte auf seine beiden Jugendfreunde und schloß seine Rede.

Die Geschwornen fällten einen Wahrspruch auf Totschlag und baten um milde Bestrafung. Der Richter verurteilte Muldoon zu zehn Jahren Zuchthaus in Columbus mit Anrecht auf Strafnachlaß.

Auf der Fahrt ins Zuchthaus hämmerten Muldoons Schläfen in dumpfem Schmerz. Diese Reise legte den Grund zu jener Mauer, die er von da an um sich baute. Die Zeitungen hoben seine Gleichgültigkeit hervor. Er spielte lediglich als geborener Schauspieler in einem Drama, das über ihn hinausgewachsen war.

Im ersten Monat wäre er, hätte sich ihm Gelegenheit geboten, zum Selbstmörder geworden. Vermutlich entwickelte sich damals seine Einstellung zu den Frauen.

Seine Frau hatte er nie geliebt – ohne Widerstand hatte er sich ins Ehenetz verstricken lassen.

Sie war bigott, voll tierischer Klugheit und rätselhaften Frauentums. Er war eben von einer langen Zirkustournee heimgekehrt, auf der er kaum mit anderen als verrohten Frauenzimmern zu tun gehabt hatte. Vom Geschlechtstrieb geblendet – trat er in die Ehe mit dem unbekümmerten Gleichmut eines Matrosen, der mit einer Straßendirne die Treppen hinaufsteigt.

Nach der ersten Woche erkannte er, daß sein Weib nicht mehr als einen flüchtigen Reiz auf ihn ausübte. In ihm steckte ein tiefer Hang zum Romantischen. Die Frau wurde alltäglich – das Bett zur Ehepflicht.

Nach neun Monaten kam das Kind. Frau Muldoon verging vor Angst, daß es früher da sein und ihren guten Ruf ruinieren könnte. Dieser Zwischenfall riß an Muldoons ironischer Saite. Er wußte, daß die Klatschbasen von Ironton die Monate der Schwangerschaft seiner Frau zählten. Und im geheimen hoffte er, daß das Kind vor dem neunten Monat seiner Ehe käme. In diesem Frühjahr blieb er daheim und plackte sich für einen Schundlohn, – lebte in seinem kleinen Schuppen und hörte dem endlosen Gejammer einer ungebildeten schwangeren Frau zu.

Jack Muldoon, seinem Stand überlegen, erkannte mit Verdruß, daß er dämlich in die Falle gegangen war. Im nächsten Frühjahr wollte er wieder mit dem Zirkus in die Welt hinaus – das Weitere würde sich schon finden. Allein sie dachte nicht an Scheidung. Die Schlinge, die eine augenblickliche Begierde um seinen Hals gelegt hatte, sollte sich für immer schließen. Er brauste auf – aber der Gedanke an das Kind hielt ihn im Zaum.

Nachdem es zur Welt gekommen war, liebte er es – zusammen mit dem Kater Bum, der schwarz war wie die Kohle bei Nacht. Stundenlang lag er mit dem Kater und dem Baby auf dem teppichbelegten Diwan. Kein Geld der Welt hatte ihm jemals mehr gegeben als diese beiden. Sie waren vielleicht die einzigen Wesen, für die er zeit seines Lebens etwas wie selbstlose Liebe aufbrachte. Seine Verehrung für die zwei Brüder Brannigan, für Stanley Ketchell, den Meisterboxer und all die Frauen, denen er auf seinen Streifzügen begegnet war, ließ sich nicht damit vergleichen. Das waren lauter Leute wie er, strotzend vor Mut und überschäumender Lebenskraft. Aber das Kind und der Kater waren hilflos, auf ihn angewiesen – zu ihnen war er voller Sanftmut. Als der Kater eines Morgens nach dem nächtlichen Streifzug mit arg zerbissenen Ohren heimkam, schaffte Muldoon heißes Wasser und Seife herbei und wusch ihn rein.

»Mein armer alter Bruder im Unglück! Bleib' diesen bösen irischen Katzen vom Leibe, – sie gehen jeden Sonnabend beichten!« Der Kater miaute und leckte ihm die Hand, schlich dann hinüber und legte sich an die Seite des Säuglings.

Muldoons Frau setzte keinen Fuß ins Zuchthaus. Das war kein Ort, wohin man ein Kind mitnehmen durfte. Jerry Brannigan nahm ihm zu Gefallen den Kater in sein eigenes Heim. Muldoon wünschte oft, er hätte es auch mit dem Baby getan.

Im ersten Monat glaubte er irrsinnig werden zu müssen. Den beiden Brannigan hatte er es zu verdanken, daß ihm nicht völlig das Herz brach. Jerry kam jeden Monat zweimal aus Ironton herüber. Und Patsy arbeitete bei einer Zeitung in Columbus.

Als sie in den Zug nach Columbus gestiegen waren, sagte ihm der Sheriff, indem er ihm die Handschellen abnahm:

»Ich will nicht, daß du gefesselt mitfährst. Ich traue dir, wie ein Mann dem anderen. Es ist besser mit einem Gönner wie Jerry Brannigan durchzuhalten, als dumme Fluchtversuche zu machen. Du wirst mit heiler Haut davonkommen, Junge – du bist nicht von dem Schlag, der sich knicken läßt. Und genau genommen ist es kein Mord, einem Streikbrecher den Hals umzudrehen.«

Das machte die Fahrt erträglicher.

Als Muldoon am Gefängnistor angelangt war, schreckte ihn das niedere graue Gebäude ab. Wie oft hatte er als Kind davon gehört! Einmal hatte er sogar eine Bildersammlung der dort Hingerichteten gesehen. »Bildungsagenten« hielten in Ohio Fünfzig-Cent-Bücher feil, die die Geschichte des Gefängnisses und eben diese Bilder enthielten. Die Gehenkten sahen alle aus, als hätte sich ihr Kragen verschoben – als wäre der Strick zur Seite gerutscht. Einer hatte ein Lächeln – es war erstarrt, als es sich über sein Gesicht verbreiten wollte.

Sie stiegen langsam die Treppen hinauf, die seit fünfundzwanzig Jahren von den Füßen tausender Sträflinge abgeschürft worden waren. Der Sheriff blieb stehen, um Muldoon die Handschellen anzulegen. »Es wird besser aussehen«, meinte er.

Der Häftling ließ seinen Blick über die schmutzige Stadt schweifen. Der Sheriff wartete, während Wellen von Wehmut über Muldoons Gesicht bebten. Er seufzte, zog die Schultern hoch, lächelte müde dem Sheriff zu – sagte dann – »Na schön, Ed – ich danke dir – du warst anständig – ich bin bereit.«

Sie betraten das Gebäude.

Auf der einen Seite saß ein Schreiber – ein Kalfakter in Uniform. Der trug die Namen der Neuangekommenen in ein gewaltiges Buch ein.

»Ihr Name?« fragte er.

»Jack Muldoon«, war die Antwort.

Sobald der Name eingetragen worden war, bekam er eine Nummer – Nummer 44.733.

Der Sheriff mit dem runzligen Gesicht sagte ihm Lebewohl, nachdem er seine Papiere abgegeben hatte.

Der Schreiber, ein Fälscher, behandelte ihn frech, von oben herab. Vor dem eintretenden Wachsoldaten aber, dem ungebildeteren Bruder im Staatssold, zerfloß er in fuchsschwänzerischer Ehrfurcht.

»Der Aufseher wünscht mit 44.733 da zu sprechen«, sagte er, in sein dickes Buch vertieft.

Es handelte sich um das übliche Gespräch »von Herz zu Herz«, wie es manche Aufseher mit den neuen Häftlingen führen.

Der Wachsoldat drehte sich um und befahl schroff: »Kommen Sie« und Muldoon folgte ihm. Beim Betreten des Aufseherzimmers sah er einen Mann durch eine andere Türe hinausgehen, der seinem Verteidiger Jerry Brannigan ähnlich sah.

Der Wächter blieb draußen stehen.

»Well, Muldoon –«, begann der Aufseher in jenem strengen Ton, den er seiner Würde schuldig zu sein vermeinte, – »man hat Sie der Obhut des Staates anvertraut – um ein Verbrechen zu sühnen. Es ist mir nicht darum zu tun, ungebührlich streng zu sein. Mein Ziel ist, die Leute mit neuen Idealen und neuer Arbeitsfreude der Gesellschaft wiederzugeben. Jedes Jahr werden Ihnen zwei Monate für gute Aufführung von der Strafe nachgelassen. Sollten Sie die ganze Strafe abbüßen, so kämen sieben Jahre heraus. Auch in kürzerer Zeit kann manches geschehen. Mr. Brannigan hat Vertrauen zu Ihnen. Und so lange Mr. Brannigan Vertrauen zu jemand hat – habe ich's auch.«

Jack Muldoon würgte ein Schluchzen in seine Kehle hinunter. Der Aufseher erhob sich – ein dicker, schlaffer, müder Mann. Er trug eine diamantbesetzte Freimaurernadel an seinem Rockaufschlag, hatte ein Schnurrbärtchen und langen Geißbart. Ab und zu zuckte er mit dem Kopf und sein chronisches Asthma machte ihm das Atmen schwer.

Über seinem Schreibpult hing eine Lithographie von McKinley. Daneben der Plan von Ohio, mit den Bildern der Gouverneure als Rahmen.

Der Aufseher drückte auf einen Knopf. Der Wächter trat ein und führte 44.733 hinaus.

Der neue Sträfling wurde zunächst vor den Hauptmann der Wache geführt. Er war, wie er, ein Amerikaner von irischem Blut und im übrigen ein eingebildeter Tropf. Hier hatte er eine ausführliche Schilderung seines Falles zu geben.

»Totschlag – hm – böse Geschichte – beim Raufen – well – wir werden schon auf dich achtgeben.« Dabei fixierte er den einnehmenden jungen Sträfling mit zusammengekniffenen Brauen. Aus dem Zimmer des Hauptmanns ging es in die Lichtbilderabteilung. Das war ein unheimlicher Saal, von dessen Wänden entstellte Gesichter herabglotzten. Man nahm ihn von der Seite und von vorne auf. Aus der Lichtbildergalerie wurde er in die Barbierstube geführt. Sein Haar wurde kurz geschoren und sein Bart rasiert. Der Mann, der das Rasiermesser schwang, war ein zu lebenslänglichem Zuchthaus Verurteilter, der seine Frau mit demselben Werkzeug umgebracht hatte. Er benahm sich unterwürfig – sogar schüchtern gegenüber dem Wächter, der einen schweren eisenbeschlagenen Eichenstock trug. Während all dieser Vorgänge wurde mit dem Sträfling kein Wort gewechselt; nur in einigen Abteilungen einsilbige Fragen an ihn gerichtet.

Nun führte man ihn in den Ankleideraum, wo ihm das vorschriftsmäßige Sträflingsgewand angelegt wurde – zu jener Zeit zebraartig gestreift. Von hier brachte man ihn in das Bertillonzimmer und stellte ihn an die Wand. Seine Nummer wurde an einem beweglichen Stab angebracht, so daß sie in gleicher Höhe mit seiner Brust zu stehen kam. Dann wurde alles photographiert, jeder Teil seines Körpers gemessen und untersucht. Alles wurde niedergeschrieben, verzeichnet – seine Fingerabdrücke, seine Fußstapfen, das winzige Muttermal an seinem linken Arm. Über seinen Fall wurde ein neues Protokoll aufgenommen, dem das Parere des Richters, der ihn verurteilt hatte, beigeschlossen wurde.

Hierauf schaffte man ihn wieder zum Hauptmann der Gefängniswache, der ihm ein Buch mit der Hausordnung übergab.

Endlich nahm ihn die Eskorte in den »Hof« hinunter, wo er auf seine Diensteinteilung zu warten hatte.

Während der ganzen Zeit glich er einem Schlafwandler. Ein einziger Gedanke schwirrte durch seinen Kopf. Er hatte einen Blick in das dicke Buch geworfen, in das der Schreiber seinen Namen eingetragen hatte. Es gab vier Muldoons unter den Sträflingen. Darum also hieß er 44.733. Er grübelte eben darüber nach, ob er der vierundvierzigtausendste Sträfling sei, als der Wächter ihn mit einigen anderen Eingelieferten allein ließ.

Der »Hof« oder was man so nannte, war ein flacher Zementgrund, hundert Fuß im Quadrat, von dreißig Fuß hohen Zementmauern eingeschlossen. Oben auf den Mauern standen eiserne Gitterstäbe mit scharfen Spitzen. Neben diesem Geländer marschierte Tag und Nacht eine Wache auf und ab.

Im Hofe war den Häftlingen das Gespräch gestattet. Aber 44.733 hatte seinen neugefundenen Brüdern und Schicksalsgenossen im Zuchthaus nichts zu sagen. Er stand abseits, allein. Und wie er so dastand, riß plötzlich der Nebel der vergangenen drei Monate. Es war wie das Platzen einer Bombe in seinem Hirn. Er taumelte wie ein Betrunkener und fiel gegen die Mauer. Von Kind auf in dem Glauben erzogen, daß der Kerker ewige Schande sei, erfüllte ihn nicht nur der Gedanke an die Gegenwart mit Angst und Schrecken. Ihm bangte auch vor den Jahren, die da kommen sollten. Zerstreut betrachteten ihn die anderen Sträflinge, gleich Leuten, die vollauf mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind.

Jack Muldoon wußte nicht, wie lange er an die Mauer gelehnt dalag. Einen Ellenbogen auf den Zementboden gestützt, sah er zum Himmel empor.

Nach Jahren, als er den Film »Hinter Eisengittern« inszenierte, machte er aus dem Hauptdarsteller, dem Zuchthäusler, einen berühmten Charakterspieler. Während er diese Szene drehte, durfte niemand ins Atelier.

Ein Wächter kam und führte ihn in seine Zelle. Noch immer wie betäubt, schritt Muldoon durch das übelriechende Gebäude – um ihn herum eine Wildnis grauer Eisengitter. Bis zum nächsten Tag blieb er in seiner Zelle. Zum Denken zu müde – starrte er bis Tagesanbruch an die Decke. Endlich fiel die drückende Last von seinem Hirn. Er schlief ein.

*

Niemals konnte er den ersten Morgen im Gefängnis vergessen. Das surrende Lärmen der Leute um ihn her. Seine Sinne waren seit jeher besonders empfindlich gewesen – der Umgang mit Zuchthäuslern flößte ihm Ekel ein.

Nach dem Frühstück wurde er der Sesselerzeugung zugeteilt. Diese bestand aus vier großen Zimmern. Muldoon wurde in der Drechslerei beschäftigt. Die Häftlinge saßen auf einer langen Bank und drechselten Holzknöpfe für die Stühle. Der Wächter saß auf einem hohen Sessel, ein aufgedunsener, schwerfälliger Kerl, der sich kaum bewegen konnte. Es war den Häftlingen verboten, zu sprechen – doch taten sie es trotzdem irgendwie, aus den Mundwinkeln.

Jedesmal, wenn der dicke Wächter menschliche Stimmen hörte, verschoß er einen Vogelschrot in der Richtung, aus der sie kamen. Oft traf er einen Unschuldigen am Ohr oder am Hals. Die Schüsse juckten und kribbelten wie Nadelstiche, doch keiner der Häftlinge wandte den Kopf.

Das »Stufensystem« war beachtenswert. Der Häftling wurde nach seiner Ankunft mit C klassifiziert. Das bedeutete, daß er bei getreuer Befolgung der Vorschriften die Note B erhielt – derzufolge ihm bei gutem Betragen jeden Monat fünf Tage von der Strafe abgerechnet wurden. In entsprechender Zeit konnte er dann in die Klasse A vorrücken, die ihm einen zehntägigen Abzug im Monat eintrug. Führte er sich wieder schlecht auf, wurden ihm fünf Tage zur Strafe zugeschlagen.

Schweigsam und mürrisch machte sich Muldoon im Laufe der Monate die Zuchthaussprache zu eigen. Das »Große Haus« war das Gefängnis selbst. Das Spital hieß »Hecktisch«. »Quetsch« bedeutete den Wächter. Der Oberprofoß war der »Vorquetsch«, der Gefängnisarzt wurde »Unglücksrabe« genannt. Die Kost wurde mit »Schweinefraß« bezeichnet.

Muldoon beobachtete eine kriecherische Demut in den Gesichtern der meisten Gefangenen. Fröhlicher und weniger verschüchtert gebärdeten sich die Negersträflinge.

Nach sechs Monaten Sesselerzeugung wurde Muldoon zum »A«-Sträfling und als solcher in die Schmiede versetzt, wo er Geselle des Grobschmiedes wurde.

Gleich allen Arbeitersträflingen sagte auch ihm diese Arbeit mehr zu. Es gab in der Werkstatt Stunden, wo ihn das Miasma des Gefängnisglückes – das Vergessen – überkam. Die Sonne schien den Nachmittag über auf das glühende Metall und dämpfte seine Farben ins Kirschrote. Indem er Eisen und Stahl formen half, ward ihm Gelegenheit zu schöpferischer Gestaltung, so wenig ihm dieser Ausdruck damals auch bekannt war. Da konnte er sogar durch das verrußte Gitterfenster ins Freie blicken. Minutenlang schwangen seine gewaltigen Muskeln den zehn Pfund schweren Schmiedehammer. Die verhaßten Wächter ließen sich während der Arbeitszeit nicht blicken. Die Gesellen nahmen die Gewohnheit an, sich wie freie Menschen zu unterhalten.

Besonders flott wurde drauf losgeschwatzt, wenn das Geräusch der Hämmer für Augenblicke aussetzte. Der Schmiedemeister, dem Muldoon unterstand, war ein Mann, der mit Vorliebe arglose Polizisten verprügelte. Er wog zweihundert Pfund und war ein selten tüchtiger Arbeiter. Sein einziger Fehler war – er betrank sich unausbleiblich an jedem Lohntag und ging sofort auf die Suche nach einem Polizisten. Einmal hatte er in einem Zimmer fünf Wachbeamte verhauen, und das blieb der Höhepunkt seiner Heldenlaufbahn. Oft und oft grinste er darüber, wenn er den Schlag der Hämmer auf den Amboß dirigierte. Zu guter Letzt aber hatte er einen Polizisten kalt gemacht und war wie Muldoon wegen Totschlags verurteilt worden. Er bearbeitete das Eisen mit einem fünf Pfund schweren Hammer und behielt, während die Schmiedehämmer der Gesellen niedersausten, die Ambosse im Auge; er schwang sein Werkzeug im Takt mit der Präzision eines Maschinengewehrgeknatters.

Er gewann seine Freiheit früher als Muldoon wieder und schrieb ihm zwei Briefe aus Cleveland und Pittsburgh. Er versprach Muldoon, aus ihm in sechs Monaten einen kunstgewandten Schmied zu machen. Muldoon ließ die Briefe unbeantwortet. Er hatte Zeit seines Lebens keinen Brief geschrieben; selbst als ihm Jerry Brannigan erzählte, daß seine Frau mit dem Baby Ironton verlassen hatte, schrieb er keinen Brief. Seine Gesichtszüge strafften sich, seine Bewegungen wurden maschinenhafter – das war alles.

Bei Nacht schwollen seine Qualen. Am Ende jedes Korridors brannte ein schwaches Lämpchen. Die Wächter patrouillierten – auf Katzenpfoten. Jede Stunde, die ganze Nacht hindurch, hörte man einen Wächter von der Außenmauer rufen: »Elf Uhr: alles in Ordnung!« – »Zwölf Uhr: alles in Ordnung!« – »Ein Uhr: alles in Ordnung!« Diese an sich gewöhnlichen Worte gewannen für den phantasiereichen Sträfling eine hirnzermarternde Monotonie, während er sie Stunde um Stunde, Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, und all die langen, endlosen Jahre über vernahm.

Jeder Morgen war mit Geräuschen von draußen erfüllt. Jeden Morgen um vier hörte er den Zug nach Toledo und Ohio der mächtigen Freiheit entgegenjauchzen. Seine Gedanken folgten ihm westwärts. Seine Sehnsucht nach Frauen war der herrschende Trieb. Er sah ihre Körper mitten in den Schlägen seines Hammers. Bei Nacht wurde der Drang zum Irrsinn. Oft und oft umkrallte er die Eisenstäbe, als wären sie schöne Frauenarme.

Ausgestreckt, ein leidenschaftszerwühlter Sträfling, auf der Pritsche, gedachte er der frohen Tage, die er mit Zirkusweibern verlebt hatte. Er erinnerte sich einer kleinen Kreolin im Mondschein zu Louisiana. Er ließ alle die Frauen im Geiste vorüberziehen, mit denen er im Verkehr gestanden hatte. Er rief sich ihr Verhalten von damals in Erinnerung. Verklärte sogar den ersten Monat seines Ehelebens.

Aus Zeitungen herausgerissene Akte von Schauspielerinnen schmückten die Wände seiner Zelle. Später einmal sollte er vielen von diesen berühmten Künstlerinnen begegnen. Ihre Bilder hingen jetzt an seiner Wand. Als er sie leibhaftig vor sich hatte, schrumpften sie zusammen, wie Zitronen in der Sonne. So bereitwillig sie dem großen Regisseur ihre Gunst geschenkt hätten, er wollte nichts mit ihnen zu tun haben, mit denselben, die er so oft in der Phantasie geliebt hatte.

Der Kost wurde Salpeter beigemischt, um die Leidenschaft einzudämmen. Bei Muldoon blieb er unwirksam. Es war, als wollte man einen Leoparden zähmen, indem man ihm Milch zu trinken gab.

Ein Sträfling sitzt in seiner Zelle.

Einmal erwachte er, mit den Händen in seines Babys Haar wühlend. Bum schnurrte an seiner Seite. Wilde Tobsucht überkam ihn, als er bemerkte, daß sie nicht mit ihm in der Zelle waren. Er sprang auf die Beine, brüllte durch seinen Eisenkäfig. – –

»Gott verdamme dich, Japper – ich bringe dich in der Hölle noch einmal um!«

Bild: ihály Biró

Er stöhnte unheimlich – wie ein schwerer Wind durch regentriefendes Geäst.

Der Wächter leuchtete mit seiner Lampe in die Zelle und sagte: »Was ist los, – 44.733?«

Muldoon fiel auf sein Lager und blieb stumm.

Zuzeiten war er leer an Hoffnung. Sein Herz pumpte Wasser in seine Adern. Aber er überlebte auch die große Stille des Gefängnisses, um die Mitternächte, wo Wirbelstürme über das Tal seiner Seele brausten. Mit den zu Peitschenstielen angeschwollenen Sehnen überwand er mehr als einmal seine Begier nach Frauen. Er duldete die billigen Foppereien der Sträflinge und Wächter, hatte Mitleid mit ihnen – in seinen Grimm verbissen.

Einmal war er nahe daran, zu fliehen, hätte ihn nicht Jerry Brannigans Bruder Patsy an einem Sommernachmittag besucht.

Zwei von den drei Männern, die den Ausbruch gewagt hatten, wurden niedergeschossen, der dritte später wieder eingefangen – mit dem Gesicht eines geschlagenen Hundes. Muldoon sagte ihm nachher: »Deine zwei Kumpane sind besser dran – sie sind frei.« In einer Regennacht, als es in Strömen goß, waren sie niedergestreckt worden und hatten vielleicht gedacht, die Kugeln wären Regentropfen. Damals dachte Jack Muldoon, wie gut es sein mochte, mit den Regenstriemen im Gesicht zu sterben – die Runzeln der Haft für immer verwischt.

Dämmer tränkte das Gefängnis jedesmal, wenn einer zum elektrischen Stuhl schritt. Man erzählte sich, wie sie die Schläge ausgehalten hatten, die ihnen der Mörder Staat durch den Leib jagte.

Ein Winter des Müßigganges kam für das Gefängnis. Die Handwerker draußen hatten sich über die billige Arbeit innerhalb der Gefängnismauern beschwert – diese Waren wurden so billig hergestellt und verkauft, daß die Freien draußen mit ihnen nicht konkurrieren konnten.

Die Häftlinge faulenzten von früh bis abends, so lange der Konflikt nicht beigelegt wurde.

Muldoon, mit seiner treibenden Kraft im Leibe, saß stundenlang still. Er versuchte Briefe zu schreiben, bis ihm die Finger schmerzten. Er hat nie einen Brief fertiggebracht.

Er hörte von einem andern Sträfling, namens O. Henry, der durch Erzählungen, die er hier im Gefängnis geschrieben hatte, berühmt geworden war. Er sah die Zelle, wo der begabte Kerkergast gehaust hatte. Bei Gelegenheit fragte er, ob O. Henry auch seine Zuchthausjahre geschildert hätte. Als dies verneint wurde, verlor er jede Anteilnahme an O. Henry.

Stets bangte es Muldoon vor der neunten Stunde. Im Gänsemarsch schritten die Häftlinge – ein jeder verließ die Reihe, wenn er seine Zelle erreicht hatte – Vögel mit gestutzten Flügeln und stumpfen Schnäbeln, kehrten sie in ihre Käfige zurück. Oft las er in den tiefen Furchen eines unbekannten Sträflings Hieroglyphen, die die Nacht eingegraben hatte.

Dann die gärenden Gefühle bei Jerry Brannigans Nachricht von der Abreise seiner Frau und des Babys. Der Mord, der sich, als Mitleid mit sich selbst verkleidet, in seinem Herzen breit machte. Seine nichtige Rache war endlich von einer Sintflut zynischen Gleichmuts hinweggespült worden.

Jerry Brannigan brachte ihm um diese Zeit ein Bild. Da es niemandem erlaubt war, einem Häftling etwas zu übergeben, und da der Wächter am Ende des Zimmers saß, wie ein stumpfsinniger König auf seinem Thron, der Häftling auf der einen Seite des Tisches, der Besucher auf der anderen, ohne daß sich ihre Hände berühren konnten, bat Brannigan den Wächter um die Erlaubnis und übergab Muldoon das Bild, indem er sprach:

»Es ist Ihm nicht ähnlich, Jack, ich glaub's nicht. Ich gäb' was drum, wenn ich ein richtiges Bild von Ihm hätte, so wie Er war. Er war ein Teufelskerl, wie es keinen zweiten gibt. Er war das Erbarmen, mein Junge. Er war so groß, kein Ozean konnte ihn ertränken, und vergiß nicht, Jack – Er war ein Jude, der für die Iren starb –«

Muldoon hängte das Bild in seiner Zelle inmitten der nackten Schauspielerinnen auf.


 << zurück weiter >>