Wenn die Sonne sinkt
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Der Bachfriedel.

Sein eigentlicher Name war Markus Friedel. Da aber sein stolzes Anwesen ein Stück abseits des Dorfes dicht am Rande eines hier in den Fluß einfallenden Baches lag, so trug der Bauer wie seine Vorgänger in der Familie im ganzen Dorfe nur den Namen Bachfriedel. Sein Besitz war der angesehenste in der Gemeinde. Doch auch sein Auftreten, seine ganze Gestalt deuteten auf ein Herrengeschlecht hin, das sich durch Überlieferungen seiner Macht und seines Einflusses bewußt geworden war. Mehr denn einmal war dem Bachfriedel seitens der Gemeinde das Vertrauensamt eines Schulzen angeboten worden. Doch jedesmal hatte er stolz die ehrende Wahl abgelehnt. »Ich muß Hände und Rücken frei haben,« hatte er dann jedesmal gesagt. »Ich gehe meinen eigenen Weg und kann und mag nicht die Fahne drehen, wie der Wind weht.« Dabei war er geblieben.

Er wußte, daß er auch ohne den Titel eines Ortsschulzen doch der erste im Dorfe war. Dienerten auch die Bauern nicht vor ihm, da jeder auf eigener Scholle saß, so fühlte er doch in jedem Blicke, daß sie ihn wie in stillschweigendem Übereinkommen als ihr heimliches Oberhaupt achteten.

Sein Weib lag längst unter dem grünen Rasen nahe der spitztürmigen Kirche. Es hatte mit dem Jungen, den sie dem hochgestaltigen Manne geschenkt, ihr Leben hingegeben. An eine neue Heirat hatte der Bachfriedel nicht wieder gedacht. Er hatte die Heimgegangene lieb gehabt und übertrug nun alles, was sein verschlossenes Herz an dieser Empfindung noch barg, auf seinen heranwachsenden Jungen. Der war wieder ganz seine Statur. Auch das gesicherte Wesen war ein väterliches Erbteil. Nur die Augen, die schauten zuweilen sanfter drein. Die erinnerten den Alten an die Heimgegangene. Um dieser Augen willen war ihm der Junge noch fester ans Herz gewachsen.

Schulmeister Gutjahr im Dorfe hatte ihm den ersten Unterricht erteilt, und dann war der Junge vom Vater nach der nächsten Kreisstadt in eine bessere Schule gesandt worden. »Ich will nicht mit ihm hoch hinaus,« hatte der Alte gleichsam zur Entschuldigung für sein Tun eines Abends im Gemeindewirtshause erklärt, »aber ich fühle, daß wir alle heute nicht mehr genug lernen können. Auch für unseren Bauernstand. Die Welt drängt vorwärts, und wer da nicht Schritt halten kann, fällt um und wird zertreten.«

Da hatten die dicken Bauernschädel erst ein klein wenig vor sich hingeguckt, dann aber war ein beifälliges Knurren hörbar geworden, ja einige hatten sogar den Mut gefunden, durch ein energisches Kopfnicken ihre uneingeschränkte Zustimmung zu erkennen zu geben. Der Bachfriedel! Der hatte da wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen! 's war ja in der Tat jetzt manchmal mit den alten Kenntnissen nicht mehr auszukommen! Überall Neuerungen: neue Namen, Dungmittel, Maschinen! Ja, der Bachfriedel!

Sein Junge, der Berthold, wuchs heran, ein starker Erbe eines starken Geschlechtes. Als er die Stadtschule durchlaufen hatte, schickte ihn sein Vater noch ein paar Jahre in die Welt, sich umzuschauen und für seinen Stand als Landwirt neue Kenntnisse einzusammeln. Dann kehrte er heim, dem Vater fortan tüchtig zur Seite zu stehen. Das kam bei der Größe des Anwesens dem Bachfriedel gar gut gelegen. Vier Augen sahen ja mehr denn zwei.

Wenn jetzt Vater und Sohn am Sonntag beim dritten Läuten, ein jeder das dickleibige Gesangbuch unter dem Arm, nebeneinander zur Kirche schritten, dann freute sich mancher des stolzen Männerpaares. Manch Mädchenauge blickte ihnen nach, wenn auch die Blicke mehr dem jungen Bachfriedel galten. Doch der Berthold schien von alledem nichts zu merken. Er grüßte nur da und dort, weil es so guter Brauch war und weil manche Jugenderinnerungen ihn mit den Mädchen verbanden. Wenn er aber auf dem Heimwege seinem alten Lehrer Gutjahr begegnete, so löste er sich von des Vaters Seite, um dem alten Herrn freundlich die Hand zu drücken und mit der ihn stets begleitenden Tochter einige Worte zu wechseln.

Gertrud Gutjahr war eine hohe, blonde Gestalt, in deren frischen Zügen sich neben den Reizen der Jugend eine gewisse Herbheit geltend machte. Wer sie so dahinschreiten sah, hätte schwerlich geahnt, daß das niedrige Dach einer schlichten Schulmeisterwohnung sich über ihr aufbaute. –

Es war an einem Sonntagnachmittag. Im Sonnenscheine lag die breite Dorfstraße fast wie ausgestorben. Auf einer grünen Holzbank saßen im Vorgarten ihres Hauses der Bachfriedel und Berthold. Beide hatten sich ihre Pfeifen angezündet und stießen abwechselnd blaugraue Dampfwolken in die stille Sommerluft. Die Unterhaltung ging nur tropfenweise, schleppend. Vielleicht war es die drückende Schwüle, die jedes Blatt an Baum und Strauch so müde hängen ließ. Endlich brach der Alte das Schweigen. »Der Ulrich soll morgen früh in die Stadt fahren, die Fracht von der Bahn holen.«

»Ja! Da kann er gleich beim Händler anfragen. Die beiden Kälber sind stark genug.«

»Hm! Ja, das kann er!«

Wieder eine Pause. Irgendwo schlug ein Hofhund an. Dazwischen vernahm man das Quietschen eines Brunnenschwengels. Berthold nahm die Pfeife aus dem Munde, drückte mit dem Daumen auf die halb niedergebrannte Füllung und sagte:

»Die Roggenernte wird diesmal gut, Vater!«

»Hm, ja, wir können zufrieden sein!«

Warum nur die Unterhaltung heute nicht recht zustande kommen wollte? Als läge etwas dazwischen eingekeilt, etwas Unausgesprochenes, Lastendes. Nach einer Weile fing Berthold wieder an:

»Übrigens, was ich sagen wollte – der alte Gutjahr möchte gern, daß wir ein Stück Wiesenland mit abmähen lassen. Er will unsere Leute dann selbst bezahlen.«

»Hm, hm! Kann er. Wenn er weiter nichts will!«

Der Bachfriedel war aufgestanden und an die Gartenplanke getreten. Er hielt jetzt die Pfeife in der Hand. Ein kaum bemerkbares Zittern ging über ihn. Er ließ die grauen Augen still über die Dorfstraße ein paarmal gleiten. Dann wandte er sich halb nach seinem Jungen um.

»Hm, was ich sagen wollte – hm, es wäre mir lieb, wenn du bei öffentlichen Gelegenheiten Gutjahrs Mädchen weniger bemerktest. Das fällt auf. Das liebe ich nicht. Schließlich setzt die sich noch Raupen in den Kopf. Das täte mir leid. Du aber machst dir's dann selbst schwer, wenn du mal ernsthaft daran denken solltest. Du weißt, ich habe nichts gegen den Alten, noch gegen seine Tochter – aber hm, ich will mein Haus rein wissen – hm! Das ganze Dorf steht hinter mir. Das guckt auf uns. Ich wollt's dir schon längst sagen. Wenn's mal so weit ist, dann – hm! klopfe an die richtige Tür. Wer bei Schulmeisters einkehrt, der muß sich tief bücken.« Es sollte ruhig klingen, doch zitterte die Erregung durch seine Worte.

»Ich weiß nicht, Vater –«

»'s schon gut! Ich meinte nur so. Und was ich für richtig halte, dabei bleibe ich. Du kennst mich ja.« Er öffnete die Gartentür und schritt langsam die Straße hinab zum Gemeindewirtshause.

Berthold sah ihm nach. Sein Gesicht war auf einmal ernst und blaß geworden. Ein finsterer Zug brach sich Bahn, der diesem sonst so freundlichen Gesicht fremd stand. Langsam erhob er sich und trat in das Haus ein. Nach einer Weile verließ er es wieder und wandte sich draußen zum nahen Bache, den er nun tief in Gedanken aufwärts zum Walde verfolgte. – –

Ein paar Wochen später war es, daß einige Dorfweiber, welche mit Leseholz aus dem Walde heimkehrten, ihre Schritte vor dem Hause des Bachfriedel hemmten, um dann später im Dorfe drunten weiter zu erzählen, wie drinnen Vater und Sohn in heftigen Wortwechsel geraten wären. Zum ersten Male und zum – letzten!

»Also trotz meines Verbotes? Mich zu hintergehen! Hä! Im Walde muß man euch suchen, weil ihr das helle Sonnenlicht nicht vertragen könnt?«

»Wir hatten nichts zu scheuen, Vater!«

»Mir diese Schande?!«

»Schande wär's, wenn ich es leugnete! Ich wäre doch zu dir gekommen, um dir zu sagen, daß ich keine andere nehmen kann, keine als die Gertrud! So wahr Gott lebt!«

»Hähä! Wem ist dies Haus? Mein! Mein ist es! Merk dir das! Darum habe ich auch noch ein Wort da mitzureden! Wer hier über diese Schwelle einziehen will, der zieht über meine Schwelle! An mir geht der Weg vorbei!«

»Mach, was du willst, Vater! Bei mir steht's fest!«

»Hahaha! Fest!«

»Wir lassen nicht mehr voneinander!«

»Braucht ja auch nicht! Immerzu! Aber auf Bachfriedels Hof kommt die nimmer herein! Ich such' mir die Tochter aus!«

»Reichere findest du, eine bessere nicht! Allen ist sie über. Von diesen Bauernmädchen mag ich keine!«

»Bist doch selbst ein Bauer!«

»Bin auch stolz darauf! Aber du selbst hast mich in die Welt geschickt. Das hat mich innerlich anders gemacht.«

»Armer Leute Kind aufzufüttern, dazu habe ich nicht ein Lebelang gearbeitet.«

»Sie ist reicher denn die anderen! Und zum Füttern kommt sie nicht. Sie hat arbeiten gelernt.«

»Mach was du willst. Du kennst meine Meinung. Schulmeister und Schneider mögen zusammen freien. In Bachfriedels Haus kommt mir keine von dieser Sorte!«

»Vater!«

»Richte dich danach! Sonst ist's aus. Dann mach' ich einen Strich darunter. Der Schulfuchs aber soll sich hüten, den Kuppelpelz sich zu verdienen!« –

Das war vor Tisch gewesen.

Noch an demselben Nachmittag trat der Bachfriedel in das Anwesen des alten Gutjahr. Er hatte es in seinem Leben nur zweimal betreten, damals, als er seinen Jungen zum Unterricht brachte, und dann wieder, als er ihn wieder abmeldete.

Der grauhaarige Schulmeister stand just im Vorgärtchen und bastelte an seinen Rosenstöcken herum, da plötzlich der Bachfriedel durch die Gattertür eintrat.

»Herrgott, der Bachfriedel!« rief, er erstaunt. »Da hat doch Gertrud recht gehabt, als sie heute morgen sagte: ›Vater, heut kriegen wir noch Besuch!‹ Sie hat öfter solche Ahnungen. Na, so was! Was gibt's denn?«

Der Bachfriedel sah finster drein. Das schien erst jetzt der Schulmeister zu bemerken. Verdutzt und dann erschrocken blickte er gutmütig dem Bauer ins Gesicht.

»'s ist doch nichts Schlimmes passiert?«

»Ich möcht' Euch allein sprechen. Drinnen, nicht hier!«

»Na, dann kommt nur. Gertrud hält gerade Strickstunde. Wir sind ganz allein.«

Den Stuhl, welchen der Schulmeister dem Bachfriedel anbot, nahm dieser nicht an.

»Was ich hier zu tun habe, ist kurz und kann im Stehen abgemacht werden.«

»Wie Ihr wollt.« Ein aussteigender Zug von Ängstlichkeit machte sich in dem guten Gesicht des alten Schulmeisters bemerkbar.

»Warum ich komme, das ist, daß Ihr Eurem Mädchen verbieten werdet, fernerhin meinen Jungen in ihre Netze zu locken. Daß Ihr aber die Hand dazu gegeben habt, das setzt Euch tief herab.«

Staunen, Schreck und dann ein ganz fernes, heimliches Aufleuchten malte sich in dem ehrlichen Antlitz des Schulmeisters.

»Mit meiner Gertrud?« stammelte er.

»Tut nicht, als ob Ihr nichts davon wüßtet!«

»Bei Gott! Kein Sterbenswörtchen, Bachfriedel!«

»Also ganz im geheimen haben sie es gehalten? Nun, an der Hauptsache kann das nichts ändern. Ihr müßt doch selbst einsehen, daß die beiden unmöglich sich zusammentun können. Wer ich bin, das wißt Ihr. Jedes Kind weiß es. Darum hab' ich mein langes Leben nicht geschafft. Ihr werdet es Eurer Tochter verbieten. Ich nehme Euch beim Wort.«

Jetzt erst hob der alte Schulmeister das Haupt. Sein Blick fiel zur Wand, auf das von Immergrün umrahmte Bild seiner Seligen. Damals hatte es auch harte Kämpfe gekostet. Heiße Tränen waren geflossen. Und endlich hatte doch die Liebe gesiegt. Die Liebe! Daran dachte er in diesem so schweren Augenblicke. So hob er denn langsam den Kopf und schaute ein paar Herzschläge den reichen Bachfriedel an. Dann sagte er mit leiser, milder Stimme:

»Bachfriedel! Und die Liebe?! Die Liebe? Sie ist das größte Wunder und das grüßte Glück auf Erden! Wer ohne Liebe wandelt, wandelt im Schatten. Ich hätte es auch bald einmal erfahren!«

Ein hartes Lachen war die Antwort.

»Zum Pfarrer habt Ihr nicht studiert! Darum bin ich nicht hier. Duldet Ihr das Verhältnis weiter, dann kann der Junge sehen, wo er ein anderes Unterkommen findet. Wir sind dann geschieden. Lieber mag er Einspänner bleiben, als eine Kirchenmaus mir ins Haus bringen!«

Der Schulmeister zuckte zusammen. Seine Lippen bebten. Er rang sichtlich mit einer Antwort.

»Wollt Ihr's abstreiten?« fuhr der Bachfriedel fort, »Kirche und Schule haben ja immer zusammengehört.«

»Arm sein war noch niemals Schande!« Etwas wie aufsteigender Zorn spielte aus den Augen des alten Schulmeisters. »Den Spott konntet Ihr zu Hause lassen! Euer Junge ist alt genug, um zu handeln, wie er es vor seinem Herzen verantworten kann.«

»Ihr weigert also mir die Unterstützung?«

Gutjahr zuckte stumm die Achseln.

»Nun: ich habe stets meine Äcker frei von Unkraut gehalten, ich denke auch noch mein Haus frei davon halten zu können! Das mögt Ihr dem Mädchen sagen. Vielleicht hilft ihr das von dem Traum, Herrin im Hofe des Bachfriedel spielen zu wollen!«

Ohne Gruß schritt er aus der Stube und dem Hause. Der alte Schulmeister war auf einem Stuhle zusammengebrochen. Zuweilen irrten seine Augen hinüber zum Bilde der heimgegangenen Frau, und dann kam es bebend von den Lippen: »Die Liebe! Die Liebe!« So fand ihn Gertrud noch, als sie nach einer halben Stunde zu ihm ins Stäbchen trat. – – –

Noch an demselben Abend klopfte es an die Stubentür des Bachfriedel, der einsam in einer Sofaecke saß und stumm vor sich hinbrütete. Selbst die Pfeife war ihm heute ausgegangen. Auf sein »Herein« trat Gertrud in die bereits in leises Dämmerlicht gehüllte Stube.

Sie sah blaß aus und ihre Lippen schienen heute noch fester aufeinander zu liegen. Gerade, den Kopf starr erhoben, so blieb sie an der Tür stehen. Der Bauer war unwillkürlich in die Höhe gefahren und sah sie mit weitgeöffneten Augen an, als traue er noch immer nicht seinem Blicke. Eine schwüle Pause entstand. Er sah es dem Mädchen an, daß es nach Ruhe und Beherrschung rang.

Jetzt aber strich Gertrud sich mit der Rechten über das Haar, wie dies ihre Art stets war, dann kam es kalt und ruhig von ihren Lippen:

»Ihr seid heute bei meinem Vater gewesen, um diesen der Kuppeldienste anzuklagen? Was zwischen mir und Berthold seit Jahren bestanden hat, davon hat er bis heute kein Sterbenswörtchen gewußt. Er hat nichts dazu getan, wie Ihr es nicht habt wehren können. Die Liebe fragt nicht bei anderen an, ob sie darf, ob es recht ist, sie kommt ungerufen, sie ist da und wächst von Tag zu Tag, macht uns dieses Leben erst zur wahren Freude. Ob Ihr sie jemals erfahren habt, weiß ich nicht. Das aber weiß ich, daß Ihr uns niemals auseinander bringen könnt. Das kann nur einmal der Tod.«

»Oho! Meinst du? Das kommt auf eine Probe an!« Der Bauer war ein paar Schritte unwillkürlich ihr näher getreten. Sie aber blieb ruhig stehen und fuhr fort:

»Die Probe ist bereits gemacht! Berthold hat mir vorhin erklärt, daß er nicht von mir lassen wird, und solle er von Hans und Hof herunter.«

»So! Hat er das gesagt? Hm! Er wird es sich wohl noch überlegen.«

»Er wird sein Wort halten. Ich kenne ihn besser denn Ihr.«

Der Bachfriedel war unwillkürlich zusammengezuckt. Seine Hand tastete nach der Tischplatte.

»Also soweit hast du ihn umgarnt?«

Ein mitleidiges Lächeln glitt über ihr blasses Gesicht. Sie hob still die Augen und sah den Bachfriedel ein paar Sekunden fest an.

»Umgarnt?« Es klang so bitter weh! »Vielleicht! Er hat mich, und ich habe ihn. So mag's wohl gekommen sein. Ihr nennt's umgarnen, die Menschen mit Herzen aber nennen es Liebe.«

»Ich werde das Garn durchschneiden, verlaß dich drauf. So wahr ich der Bachfriedel bin.«

»Gebt Euch keine Mühe! Es ist durchschnitten!«

»Waaas?« Er sah sie völlig verdutzt an.

»Nicht um Euretwillen! Ich tu's um seinetwillen. Ich will für ihn denken und handeln. Ich will denken, es könnte doch mal eine Stunde der Not und Sorge kommen, da er es bereuen müßte, um meinetwillen seine Heimat verlassen zu haben, daß es ihn mit Sehnsucht nach dem Hause trieb, in dem er groß geworden, in dem er nun konnte als Herr schalten und walten. So will ich denken für ihn. In ein paar Tagen verlasse ich heimlich unser Dorf. Niemand wird erfahren, wohin ich mich wandte, auch er nicht. Fern von ihm will ich versuchen, in der Arbeit sein Bild zu vergessen. Vielleicht gibt mir Gott die Kraft, daß ich es schaffe.« Es schien, als überfiel sie ein leichter Taumel. Doch als der Bauer ihr näher trat, da raffte sie sich wieder empor, ihn stumm abwehrend.

»Dem Berthold sagt heute nichts davon. Er könnte mich festhalten!« flüsterte sie.

Ein seltsamer Zug war auf dem rauhen Gesicht des Bachfriedels heraufgestiegen. Fast wie ungläubig starrte er auf das blasse Mädchen.

»Und – du wolltest das tun? – Wenn – aber –«

Sie schien seine Gedanken zu erraten. Mit einem mitleidigen Ausdruck wehrte sie ihn ab.

»Ihr braucht nichts zu befürchten. Ich werde stark sein. Die Liebe wird mir die Kraft geben. Um seinetwillen!«

»Wenn ich dir für deine Reise vielleicht – – man braucht doch draußen – –«

»Erspart mir und Euch die Beleidigung! Almosen brauche ich nicht, am wenigsten von Euch! Aber eins soll noch gesagt sei», ehe ich dieses Haus für immer verlasse.« Sie richtete sich hoch auf und blickte den Bachfriedel vernichtend an: »Arm ist in Euren Augen unser Haus, dessen stilles Glück Ihr nun zertreten habt. Unkraut sind wir aber nicht! Niemals gewesen! Wohl aber möget Ihr vor Gott ein Unkraut sein, das er noch einmal ausjäten wird, wenn die rechte Stunde dazu gekommen ist!«

Sie warf ihm einen letzten Blick zu, unter dem er den seinen niederschlug. Dann war sie draußen. Wollte er ihr nacheilen? Seine Augen hafteten noch an der Tür, dann aber trat er ans Fenster. Drüben längs der Gartenplanke sah er noch ihren Schatten in dem Abenddämmerlicht verschwinden. – – – – –

Gertrud Gutjahr hatte Wort gehalten. Die Woche war noch nicht zu Ende, da drang das Gerücht von Haus zu Haus, daß sie weit fort in die Welt gegangen sei. Den wahren Beweggrund ahnte niemand. Am nächsten Sonntag sah man den alten Bachfriedel mit Berthold wie immer zur Kirche schreiten. Sie gingen ganz steif und still nebeneinander. Auch dem alten Schulmeister schüttelte diesmal Berthold nach der Kirche nicht die Hand.

Ein paar Wochen später feierte das Dorf seine Kirmes. Tags vorher hatte Berthold einen Brief erhalten. Auf dem Wege zum Felde hatte der Briefträger ihn gleich an Berthold gegeben. Der alte Bachfriedel war an diesem Tage mal nach der Kreisstadt gefahren. Als er am Abend wieder heimkehrte, fand er auf dem Tische der Wohnstube ein verschlossenes Schreiben. Es sagte ihm, daß sein Junge in die Welt gegangen sei, Gertrud zu suchen. Daß der stolze Bachfriedel keinen Sohn mehr habe.


Über zwanzig Jahre waren seitdem ins Land gegangen. Den alten Schulmeister hatte man eines Tages in die Erde gelegt. Noch manch anderer war aus der Reihe der Dörfler hinübergewandert. Ein neues Geschlecht saß zum Teil auf den Hufen. Über den Scheitel des Bachfriedels war auch die Flucht der Jahre nicht spurlos hingerauscht. Er war schneeweiß geworden, und die Steife seines Rückens hatte sich gebeugt. Ein Großknecht führte seit Jahren den wirtschaftlichen Betrieb. Für wen der Bachfriedel eigentlich noch schaffte, das wußte niemand. Denn einen Sohn und Erben besaß er nicht mehr. Das hatte er oft genug öffentlich ausgesprochen. Dafür aber hatte sich ein tiefer, finsterer Zug in seinem Gesicht fest eingegraben. Da hatte das Schicksal Geschichte eingeschrieben.

Nun war es wieder einmal Frühling geworden. Die Stare schwatzten wieder in den Zweigen, Veilchen blühten im Grunde und längs der Hecken. Die ganze Luft war wie erfüllt von junger Schöpferkraft. Bachfriedel stand am Zaune seines Vorgartens, als ein heller Jodler ihn aufblicken ließ. Er kam vom Walde droben.

Wenige Minuten später eilte in weiten, übermütigen Sprüngen eine schlanke Jünglingsgestalt längs des Bachs hinab und hielt dann vor dem Haus des Bauern. Den leichten Lodenhut ziehend, fragte der junge Mann höflich:

»Entschuldigen Sie! Wo ist hier im Dorfe das Haus von dem alten Bachfriedel?«

Jetzt erst faßte der Gefragte den Fremden fester ins Auge – – – und dann kam ein Zittern über die gebeugte Greisengestalt. Was war dies? Wohl klang die Stimme des Fremden etwas ausländisch. Aber die Augen? Die ganze Gestalt! Standen denn die Toten auf? Er mußte sich festhalten. Alles um ihn her begann zu wirbeln. Endlich hatte er sich gefaßt.

»Kommen Sie doch herein!« Er öffnete die Gartentür, bot dem jungen Mann die Hand, und als er diese in der seinen hielt, da kam es wie ein Ruck durch seinen Leib. »Der Bachfriedel?« stammelte er. »Ja, ja! Hm! Der – – der bin ich selbst!«

Da glitt die Hand des Fremden aus der seinen. Dieser trat einen Schritt verwirrt zurück.

»Verzeihung! – – Ich habe kein Recht, hier zu weilen – – ich komme nicht im Auftrage – – nur Neugier – – weiter nichts? Glauben Sie es mir! Ich studiere auf dem Polytechnikum in Charlottenburg, benutzte nun die Ferien, mir einmal die Heimat meines Vaters anzusehen, von der er uns so oft und schön erzählt hat. Wir sind nämlich vier Geschwister. Mein Vater hat eine Farm drüben in Amerika. Als ich von der Schule kam, da hat er mich nach Deutschland geschickt, damit ich hier mein Glück suchen soll, wie er es drüben gefunden hat.«

»Weiter, weiter!«

»Weiter? Daß ich nochmals um Verzeihung bitte – doch Sie selbst haben mich ja – – –«

»Und Ihr Name?«

Da geht es über das hübsche, frische Gesicht des Jünglings wie ein trauriger Schatten. Er scheint noch zu zögern, sein Auge sucht das des vor ihm ängstlich harrenden Greises, dann erwidert er leise:

»Markus Friedel!«

Da dringt ein Schrei aus der Brust des Bauern. Sein eigener Name! Sein Enkel! Ganz der Junge, den er einst um seiner Liebe willen von Haus und Hof verstieß! Aus der Heimat! Um der Mutter dessen, der da in junger Kraft jetzt vor ihm steht.

»Markus Friedel!« kommt es mechanisch von den Lippen des Alten. Seine Brust arbeitet, und endlich bricht ein Schluchzen ihm aus tiefster Seele. Die Natur, so lange zurückgehalten, schreit in ihm nach Erlösung aus Qual und Pein. »Markus Friede!!« wiederholt er noch einmal, als könnte er sich nicht genug tun am Klang seines eigenen Namens.

»Hierbleiben! Hierbleiben!« – – – Weiter vermag er nichts zu sagen. – – –

Markus Friedel, der Enkel, ist bei dem Großvater über die Ferien geblieben. Das gab ein Aufsehen unter den Alten des Dorfes, welche sich noch der fern liegenden Ereignisse entsinnen konnten.

Auf Wunsch des Bachfriedel hat dann der Enkel nach Hause geschrieben, daß das Haus am Bache dringend einen jüngeren Bachfriedel nötig hätte, und der Alte hatte mit zitternder Hand noch darunter gefügt: »Komme bald, damit meine Augen Dich noch sehen können.« –

Der Berthold ist dann auch mit Frau und Kindern in die alte Heimat zurückgekehrt, nachdem er seine Farm drüben verkauft. Seitdem hat man den alten Bachfriedel zuweilen wieder lachen sehen.


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