Wenn die Sonne sinkt
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Schneeflocken.

Mit hellem Jubel hat die Jugend den ersten winterlichen Gruß empfangen. Das gibt nun wieder Schneeballschlachten, rote Backen, derben Hunger! Noch ein paar Tage, und die kleinen Handschlitten sausen wieder die Berggassen nieder.

Schneeflocken sind lustige Himmelsboten dem, dessen Herz frisch und frei in den Tag hinein singt. Weihnachtsfest ohne Schnee! Nur halbe Freude wäre es den Menschen gewesen, welche mit der Natur so innig verwachsen sind. Was am Bergwald haust, kommt nie recht los von Mutter Natur. Das ganze Gefühlsleben ist darauf gestellt. Seit Wochen haben die Lichter in den Berggassen bis tief in die Nacht aus den niedrigen Fenstern geleuchtet, daß, wer vom Gebirge stieg, wohl meinen konnte, Sterne seien aus den Wolken niedergefallen. Fabriken und Heimarbeit schafften Hand in Hand, daß noch alles vor dem Feste fertig würde. Zur Thüringer Lichtstubenpoesie aber gehört der Schnee, damit man recht den Gegensatz zwischen draußen und drinnen spüre. Und nun war er die Nacht gekommen, ein rechtes Weihnachtsgeschenk!

Es schneit unablässig hernieder. Doch die himmlischen Bettfedern verdüstern nicht das helle Firmament. Leicht und sonndurchleuchtet tanzen die Flocken wie kleine, weiße Schmetterlinge durch die Lüfte. Auch an einem niedrigen Schubfensterchen vorüber, hinter dessen sauberen Gardinen eine Greisin sitzt und mit emsigen Fingern niedliche, bunte Lackschuhe für eine Puppenfabrik anfertigt. Auf der einen Seite ruhen die Zutaten, auf der anderen enthält ein Korb bereits eine ansehnliche Ladung fertiger Schuhe. Allwöchentlich liefert sie ab, streicht den schmalen Erlös ein und nimmt den neuen Auftrag mit heim. So hat sie es schon lange gehalten. Auf Lackschuhen ist eigentlich ihr ganzes Leben dahingegangen.

Manchmal hat sie wohl lächelnd gesagt, daß sie so weit gar nicht zählen könne, wollte sie nachrechnen, wie viele Tausende solcher kleinen glänzenden Kunstwerkchen sie hinaus in die weite Welt gesandt habe. In ferne Länder, über alle Meere! Und fremde Kinder haben die Puppen an ihr Herz gedrückt und sich wohl auch dann gefreut, wie hübsch die zierlichen Schuhe den blonden und braunen Lieblingen an den Füßchen saßen. Wie angegossen!

Schon als kleines Kind hatte sie ihrer Mutter Lackschuhe mit helfen machen, und als diese starb, hieß es für die jüngeren Geschwister noch eifriger sorgen. Die sind dann in die Welt gegangen, und schließlich kam einer, der sie zum Weib begehrte. Aber der Ehestand hat nicht allzulange gewährt. Schon nach vier Jahren trug man den Mann hinaus. Nun war sie wieder auf sich und ihrer Hände Arbeit angewiesen. Aber ihr Junge war ihr in all dem Herzeleid doch geblieben. Sie beide zu ernähren, begann sie wieder mit der alten, vertrauten Tätigkeit, Und sie lernte sich in die Einsamkeit fügen. Sie blieb ledig, trotzdem der jungen hübschen Frau noch mancher Antrag nahegelegt worden war.

Ihr Junge! Das war ihre Welt! Ein Kind besitzen! Das war immer ihr ganz heimlicher Traum gewesen. Für etwas ganz Kleines, Hilfloses sorgen zu dürfen, es Heraufziehen, gesunden Leibes, guten Herzens. Das war eine Aufgabe, um welche es sich schon lohnte, die Mühen dieses Erdenlebens auf sich zu nehmen. Ernestine Gassen war glücklich, »Mutter Gaffen«, wie sie jedermann nannte, war im Grunde eine lichte Frohnatur. Sie gab Sonnenschein; ihr Lachen und Singen tönte oft fast ausgelassen über die schmale Berggasse.

Der Junge aber wuchs stämmig heran. Er war ihr heimlicher Stolz, ihre Augenweide. Bernhard Gassens Fäuste hatte schon mancher fühlen müssen, der ihm einmal zu nahe getreten war. So band denn auch keiner leicht mit ihm an. Als er eingesegnet ward, ließ ihn die Mutter ein Handwerk erlernen. Er sträubte sich anfangs dagegen. Er wolle es auch so gut wie die anderen haben, welche in die Fabriken gingen und abends frei waren. Doch Mutter Gassen schüttelte den Kopf zu allen seinen heftigen Einwendungen. Sie hatte einen Blick, der ging so aus der Tiefe heraus, war so still und doch bestimmt, daß Bernhard vor ihm nicht bestehen konnte.

»Laß nur, Junge,« sagte sie freundlich, »ich will nur dein Bestes! Dein Vater war auch ein braver Handwerker und stolz darauf. Nun sollst du's auch werden. Du wirst's mir noch einmal danken. Glaub mir's!«

Da wurde Bernhard ein Schlosser, und da er ausgelernt hatte, wollte ihn der Meister kaum ziehen lassen, solch Gefallen hatte er an dem tüchtigen Burschen gefunden. Bernhard aber ging für ein paar Jahre in die Welt. Den echten Thüringer läßt es nicht heim, bei aller Liebe für die grüne Heimat. Dann kam er wieder, trat beim Lehrmeister ein und schaffte nun wieder an alter Stelle. Und eines Tages vertraute er der Mutter an, daß er sich mit der Rose, des Meisters Töchterlein heimlich verlobt habe. Es sollte es niemand wissen, bis er zum Militär müsse. Dann solle es jedermann erfahren, damit die anderen Burschen wüßten, woran sie seien.

Mutter Gaffen ging noch denselben Nachmittag hinaus an den Hügel, unter dem ihr Mann ruhte, und erzählte ihm die Freude ihres Herzens, damit auch er sich freuen sollte. Denn in ihrer schlichten Seele liebte sie es, noch immer den Heimgegangenen als wie anteilnehmend an den Geschicken der Seinen zu betrachten.

Flinker noch denn sonst schaffte jetzt die glückliche Frau. Nur wenn die Rose einmal Einsprach in ihrem Stübchen hielt, dann stockte die Arbeit. Dann holte sie irgend einen aufbewahrten Leckerbissen hervor, ihr zweites Kind zu erfreuen. Und dann kam eine schwere Stunde, als habe der Böse sich an dem Glücke ihres Hauses neidisch gestoßen!

Eines Tages bekannte Rose ihr schluchzend, daß Bernhard und sie niemals sich angehören könnten. Er habe sich an eine wilde, schlechte Person gehangen, mit der man ihn schon ein paarmal auf dem Tanzboden zusammen gesehen habe. Das habe ihr das Herz abgedrückt. Alles habe sie ihm gesagt, seine Untreue ihm vorgeworfen. Er aber habe nur gezuckt und erwidert, daß er sich keine Vorschriften machen lasse. Eifersucht sei ihm überhaupt verhaßt. Wenn sie jetzt schon so anfange, dann könne es ja später schön werden. Er sei schließlich hitzig geworden. Da habe sie ihm gesagt, er könne ja zwischen ihr und jener noch wählen. Noch wisse ja niemand, wie es um sie beide stünde, daß sie heimlich verlobt seien.

Aber alles sei vergebens gewesen. Wie Feuer sei es aus seinen Augen gesprungen. Seit jenem Abend habe er sich nicht wieder abends draußen am Garten blicken lassen. Mutter Gaffen hatte die Arbeit sinken lassen, als wäre der Himmel eingefallen.

Sie saß noch in gleicher, gebrochener Stellung da, als Bernhard heimkehrte. Da hat sie ihm alles gesagt, an seiner Ehre gerüttelt, sein Gemüt bewegt. Doch kein Echo kam zurück. Als wäre ein Zauber über ihn gekommen. Ein Paar Tage darauf war er heimlich entschwunden. Und wieder einige Tage später teilte er ihr mit, daß er sich freiwillig zum Feldzuge gegen die Schwarzen in Afrika gemeldet habe. Zu Hause bleiben sei ihm unmöglich. Er sei ihr doch nur im Wege. Hoffentlich kehre er gesund wieder. Da war Mutter Gaffen über Nacht eine alte Frau geworden. Ihre Hände fuhren fort in der altgewohnten Beschäftigung, doch ihre Seele wanderte ruhelos umher. Verblaßte Bilder flüchtigen Glückes stiegen zuweilen herauf, dann ein jäher Schnitt – und vor ihr dehnte sich endlos und grau die Zukunft.

Die Rose aber war der Alten treu geblieben. So oft es nur ihre Zeit gestattete, huschte sie herüber, der Einsamen tröstend beizustehen. Auch heute in aller Morgenfrühe war sie plötzlich in das Stübchen getreten und hatte einen kleinen Weihnachtsbaum gebracht. »Den putzen wir heute abend an, Mutter! Zur Christnacht soll keine Seele trauern!« So hatte sie gesagt, und Mutter Gaffen hatte sie nur stumm umarmt und sie unter heiß hervorbrechenden Tränen geküßt. Was sollte ihr noch der Weihnachtsabend bringen?

Sie hob den Kopf hinüber in die Ecke, wo das Bäumchen stand, und dann zum Fenster. Draußen lief der Laternenmann just vorüber. So lustig tanzten die Schneeflocken auf und nieder. Ein ungeheures Weh schüttelte sie. Sie dachte an den fernen Jungen, wie es einst gewesen, und wie nun alles zertrümmert am Boden lag. Da huscht die Rose herein. Die Schürze hat sie mit einigen Paketen geheimnisvoll gefüllt. Diese legt sie in eine Ecke und eilt dann auf die alte Frau zu. »Nicht weinen, Mutter! Jedem will heute das Christkind Freude machen! Auch uns! Was soll ich denn tun, darf's doch niemand merken lassen. Nur dir, Mutter!«

Und sie beginnt den Baum rasch zu putzen, steckt ein Dutzend Lichter drauf und wendet sich dann wieder zu Mutter Gaffen, welche inzwischen ihre Arbeit beiseite gelegt hat. Sie streichelt ihr die eingefallenen Wangen und führt sie sacht zum Fenster, das sie nun öffnet. »Guck doch nur, wie lustig die Schneeflocken wirbeln! Der Türmer hat auch schon die Lichter droben angesteckt! Nun gehen die Engel über das Land, Mutter! Botschaft zu bringen – Botschaft – von dem Heil – – .« Sie kommt nicht weiter. Auf einmal birgt sie ihr Köpfchen an der Brust der alten Frau. »Zusammenhalten, Mutter!« flüstert sie. »Zusammenhalten! Was soll denn sonst aus uns werden?« Da taucht durch das brauende Schneegeflock ein Schatten draußen auf. Der Postschaffner ist's. Durch das noch immer geöffnete Fenster reicht er einen Brief.

Die beiden Frauen sind zur Lampe getreten. Der Brief hat ein ungewöhnlich großes Format, ein Dienstsiegel schließt es. Mit zitternden Händen, von Ahnen gefaßt, erbricht Mutter Gaffen das Schreiben. Ein flüchtiger Blick, dann stößt sie einen Schrei aus. Es wird ihr mitgeteilt, daß in einem Gefechte ihr Bernhard verwundet worden sei. Doch jetzt sei die Krisis überstanden. Mit dem nächsten Truppentransport kehre er nach Deutschland zurück.

»Gott sei Dank!« kommt es von bebenden Lippen.

»Aber Mutter, da ist ja noch ein Zettel beigelegt!« ruft Rose. Sie hat ihn zitternd ergriffen, die Augen fliegen drüber hin, dann reicht sie ihn der Mutter. Aus ihren jungen Augen taucht ein Schein unendlichen Glückes herauf. Stockend liest Mutter Gaffen:

»Liebe Mutter! Ich komme wieder zu Dir, nach der ich mich jeden Tag gesehnt habe. Ich war dumm und blind. Wenn die Rose mich noch haben will – ich werde ihr nie wieder weglaufen. Tausend Grüße Euch beiden! Dein Bernhard.« –

»Mutter Gaffen! Mutter! Nun darf ich doch das Bäumchen anstecken?« Und Rose fliegt hin, legt ein paar Geschenke unter den Baum, dessen Lichter sie entzündet. Aus den Zweigen, aus beider Augen bricht ein hoher seltener Glanz. Eng umschlossen halten sich zwei Menschen und genießen die Weihe dieser heiligen Nacht.

Draußen aber rieselt es sacht und unhörbar immer weiter vom Himmel nieder, lustige, flatternde, flimmernde Schneeflocken! Stumme Grüße wie aus einer anderen Welt.


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