Wenn die Sonne sinkt
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Weihnachtsfeier.

Die Sonne stand schon tief drüben im Westen jenseits der spitzkegligen Basaltkuppen der Hohen Rhön, als ein Mann über den Kamm des Thüringer Waldes bergein mit kräftigen Schritten zog. Droben auf der Höhe war er aufatmend ein paar Minuten stehen geblieben, die Blicke noch einmal rückwärts wendend. Er sah, wie das Feuer am fernen Horizonte wuchs und sich breitete. Ein Abglanz davon glitt über das beide Gebirge trennende Werratal und ließ die in Schnee leicht eingehüllten Städtchen, Teiche, die Dorfsiedelungen und den Flußlauf sanft erglühn.

Da schüttelte der Einsame droben fast wie unwillig mit sich selbst den dunklen Kopf. »Einmal und nicht wieder!« sagte er halblaut für sich. »Mich bringt kein Mensch wieder dort hinüber. Gott sei Dank, daß es vorbei ist. Henner, da hast du 'mal wieder einen dummen Streich gemacht!« Bei den letzten Worten ging ein eigenes, fast schalkhaftes Lächeln flüchtig über sein Gesicht. Dieses Lächeln schien zu sagen: Wenn's nur wenigstens dein letzter Streich gewesen wäre! Aber dein heißes, unruhiges Blut! Du hast dir zwar ernstlich vorgenommen, nun ein vernünftiger Kerl zu werden, Henner, und es ist Zeit! Hohe Zeit! Eigentlich setzt sich dein ganzes Leben aus Streichen zusammen. Ein vernünftiger allein war es, als du die Gretlies zur Frau nahmst. Aber das hat dich wahrscheinlich gefuchst, daß du einmal der Vernunft die Ehre gabst, und dann bist du um so hitzköpfiger geworden und hast wieder verdorben, wozu doch der Pfarrei und der Himmel »Ja« und »Amen« sagten. Und nun kehrst du heim, deiner Schuld bewußt, und mußt mit jedem Tage dir nun Mühe geben, an der armen Gretlies wieder gutzumachen, was du an ihr und ihrer heiteren Liebe so arg gesündigt hast. Heim am Weihnachtsabend! Zum eigenen Herd!

Dem hochgeschossenen Manne wurde es mit einem Male ganz seltsam zumute. Er wußte nicht, sollte er beschämt den Kopf hängen lassen oder einen Juchzer ausstoßen, daß ihn die Berge im Echo weitertrügen, vielleicht bis zu ihr, daß sie in ihrer einsamen Hütte höre, er kehre wieder, und nun sei alles gut. Er rückte den Ranzen fester an den Riemen, und dann stürmte er ein Stück abwärts das Waldtal, dem Wirrwarr der Gefühle zu entfliehen. Die hohen Tannen zur Seite der bergein sich wendenden Waldstraße zeigten dichten Schneebehang. Auf den ruhig emporstarrenden Wipfeln lag letzte Abendglut und rötete prächtig die noch festgeschlossenen Zapfen. Ihn wie ein munterer Wanderkamerad begleitend, sang unter leichter Eisdecke ein Wildwasser, gleich ihm zur Tiefe stürmend. Just strich auch noch mit hellem Schrei ein Bussard hoch über ihn hin. Tannenzapfen, Bergbach und der kreisende Vogel: alles erinnerte ihn wieder an sich, seine Jugend, sein heißes Leben.

Schon als Knabe war ihm kein Baum zu hoch gewesen. In den Wipfeln hatte er sich gewiegt, an den Porphyrwänden festgeklebt, Nester auszunehmen, der Eichkatze nachzustellen und, da er älter geworden, für die Samenhandlungen die Zapfen herunterzuholen. Ein gefährliches Handwerk, das schon manchem den Hals gebrochen! Nur er war immer wieder lachend und gesund nach Hause gekommen. Keiner war so geschickt im Vogelfange wie er im Dorfe gewesen; vom glatten Maienbaume hatte er sich stets die besten Preise heruntergeholt. Dann war er ein Zimmermann geworden, recht und tüchtig. Nur der auffahrende Sinn war ihm geblieben. Einst fing er Singvögel des Waldes, jetzt singende Dorfschönen, Die Mädchenherzen flogen ihm ja nur so zu. Er brauchte ja nur zuzufassen ... festzuhalten ...

Aber dann kam die Gretlies. Blondzöpfig, frisch und fest und von einer wahrhaft strahlenden Heiterkeit. Alle Herzen nahm sie im Sturme, männliche und weibliche, und jedem neigte sie sich freundlich zu. Nur ihm nicht, der doch so ans Siegen gewohnt war. Das machte ihn erst stutzig, dann ärgerlich. Endlich aber fühlte er etwas brennen, was er bisher noch nie empfunden hatte.

Von da an wurde er ein anderer. Er sah kein Mädchen mehr, nur noch sie. Ein stilles, ehrliches Werben ging von ihm aus, nicht mit Worten, aber mit den Augen, im Tun. Und sie fühlte es mit geheimer, wachsender Freude, ließ es ihn aber nicht gleich merken, um seiner Neigung auch ganz sicher zu werden. Dann aber kam die Stunde, da er mit heiß klopfender Brust und leis bebender Stimme das sagte, was ein Mädchen mit Schauern ahnungsvoller Wonne füllt.

So wurden sie Mann und Frau. In einem schlichten Häuschen am oberen Dorfende hatten sie ihr Nest begründet, und mit ihnen war die Liebe und die Fröhlichkeit eingezogen. Bartels Henner und sein Gretlies, das war so ein Paar, das sich schon sehen lassen konnte.

Fast zwei Jahre waren so vergangen. Kinder waren dem Zimmermann Bartels nicht beschieden gewesen. Keiner der beiden jungen Eheleute hatte es zum andern ausgesprochen, daß er das bedauere. Sie nahmen das Schicksal hin, wie es sich ihnen bot. Man regte die Arme tüchtig bis zum Abend und ging des Sonntags, wie einstens, ins Wirtshaus zum Tanze. Die Jugend und ein gesunder Hang am Vergnügen trieben beide dazu.

Nur eines bereitete Henner zuweilen ein Mißbehagen. Seine Frau war sich in ihrer zutunlichen Heiterkeit jedem gegenüber gleichgeblieben. Wie sie es als Mädchen gehalten, tat sie es noch jetzt. Es kam vor, daß er geradezu einen Tanz bei ihr voraus für sich festlegen mußte, wollte er mit ihr im Saale dahinfliegen. Und da sie seine Unlust merkte, neckte sie ihn.

»Bist etwa eifersüchtig, Henner?« lachte sie ihm voll ins Gesicht. »Denk doch dran, wie ich's hätte früher sein können!«

»Ja, früher! Aber jetzt sind wir Mann und Frau!«

»Nun? Und? Auf dem Tanzboden hat doch jeder ein Recht, mich aufzufordern?!«

»Daß ich nicht wüßt'! Ich hab' zuerst das Recht! Zuerst und zuletzt!«

»Schau! Ja! Wenn du mich zuerst aufforderst! Sonst aber ... siehst du, da kommt schon Pfannschmidts Welm ... jetzt hat der mehr Recht als du! Adje, Henner!« Sie lachte ihn herzlich und offen an und flog mit dem anderen durch den Saal.

Henner biß sich auf die Lippen und blieb für den Abend stumm zu ihr. Er überließ seine Gretlies auch völlig den anderen und entschädigte sich dafür am Schanktisch.

Nach Mitternacht kehrten beide heim. Er zürnte ihr, und sie war traurig über seinen Trotz. Noch vor dem Zubettegehen kam es zur heftigsten Aussprache. Anfangs versuchte sie, seine Vorwürfe zu entkräften. Da sie aber die Nutzlosigkeit ihrer Bemühung erkannte, verstummte sie. Das reizte ihn noch mehr. Seine ganze Leidenschaft brach durch. So hatte sie ihn noch nie gesehen. Ein Gefühl der Furcht wuchs in ihr empor. Doch es kam nicht zum Ärgsten.

Am anderen Morgen waren beide schon früh auf. Henner kramte und packte allerhand zusammen, und dann trat er vor seine junge Frau.

»Es wird dir ja am liebsten sein, wenn ich dir aus den Augen komme,« sagte er stockend, ohne sie dabei anzusehen. »Ich gehe hinüber in das Meiningensche. Da gibt's flott Arbeit. Was du brauchst, schicke ich dir jede Woche. Und ... wenn ... du mich wieder haben willst ... so ... so ... kannst du mir's ja schreiben. Adje!«

Er reichte ihr die Hand. Aber ihre Hände blieben schlaff niederhängen. Etwas würgte ihr den Hals zu. Nicht 'mal einen letzten Gruß konnte sie herausbringen. Dann war er fort. Das war vor einem halben Jahre gewesen. Man fuhr gerade das erste Heu ein. Jeden Montag traf das Geld pünktlich ein. Aber stets dabei nur ein kurzer Gruß. Er wartete, daß sie ihn rufen solle, und sie, in welcher der verletzte Frauenstolz erwacht war, harrte aus, bis daß bei ihm das rechte Gefühl durchbrechen mußte. Denn sie fühlte sich schuldlos und hatte nicht die Schmach vor dem ganzen Dorfe verdient.

So verging Monat auf Monat. Da brach die Rinde. In einem kurzen Briefe fragte er an, ob sie noch immer böse sei und ob das Haus nicht wieder Platz für zwei hätte. »Liebe Gretlies!« stand darüber. Wie oft sie diese zwei Worte heimlich jauchzend geküßt hatte, das wußte sie nicht mehr. Aber am Abende des folgenden Tages hielt auch er ein Brieflein in der zitternden Hand, das nur wenige Worte brachte:

»Mein lieber, guter Henner!

Komme sobald als möglich. Böse bin ich dir nicht eine Stunde gewesen.

Deine Gretlies.«

Und nun kehrte er heim, die Christnacht mit ihr zu feiern.

Die Nacht ist nun aus dem Walde auch in das offene Tal getreten. Leichte Nebel schwimmen näher. Kälter setzt die Luft ein. Am Himmel ziehen die ersten Sterne auf. Die Stunde ist da, wo die Engel durch das Land schreiten, der aufhorchenden Christenheit die alte, selige Botschaft zu verkünden.

Henner beschleunigte seine Schritte. Noch eine Stunde Weges, dann ist er daheim. Am Wegrande taucht jetzt ein einsames Wirtshaus auf. Holzfuhrwerke halten vor der Tür. Rötliches Licht fällt durch die beschlagenen Fenster auf die schneebedeckte Waldstraße. Henner zögerte hier ein Paar Augenblicke. Ein gesunder Durst regt sich in ihm. Da schlägt rohes Lachen an sein Ohr. Und er geht weiter. Nur nicht heute! Nicht heute! Wie ein schöner Stern leuchtet ihm das Bild seiner Gretlies voran.

Nun blicken die ersten Lichter aus der Tiefe. Das ist das Dorf, seine Heimat. So seltsam wird's ihm ums Gemüt. Seine Schuld an ihr, Jugenderinnerungen – alles drängt sich zusammen. Sieh da! Im Turme oben leuchten heute wieder die acht Lichter zur Feier der heiligen Nacht. Da er ein Kind war, konnte er diese Pracht nicht genug bewundern. Späterhin hat er sie kaum mehr bemerkt. Seltsam! Jetzt kann er den Blick kaum von dem Turme wenden.

Da ist schon der Kirchhof. Hügel, Kreuze und Engel – alles verschneit. Aus dem hellerleuchteten Kirchlein dringt brausender Orgelschall. Dazu singen sie:

»Vom Himmel hoch, da komm' ich her
Und bring' euch gute, alte Mär!«

Er muß stehen bleiben. Er muß lauschen. Wie so manchmal hat er's einst mitgesungen, gläubigen Herzens, frommen Sinnes. Und heute rührt's wieder an sein Herz, zieht ihn empor, macht ihn so still und jubelnd zugleich.

Noch eine Biegung. Da steht sein Häuschen im Schatten. Doch aus dem Schatten winkt ein sanftes, warmes Licht. Daheim, daheim!

Schon ist er im Flur und tappt nach der Stubentür.

»Gretlies! Gretlies! Ich bin's!«

Da wird die Tür von innen geöffnet. Eine alte Frau tritt ihm entgegen.

»Der Henner! Der Henner ist da!« sagt sie leise und legt dann den Finger bedeutsam an den Mund und winkt dem Ankömmling, einzutreten.

»Sie kommen gerade recht! Vor einer Stunde hat das Christkind für Sie was abgegeben. 'n großen Jungen!«

Wie betäubt steht noch immer der Henner, als könne er die Wundermär gar nicht fassen. Seinen Ranzen, Stock und Hut legt er nieder. Da regt sich's schon drüben im Bette. Ein blasses, blondes, liebes Gesicht wendet sich ihm zu. Eine Hand streckt sich nach ihm aus.

»Bist wieder da, Henner?«

»Gretlies!« Auf den Fußspitzen nähert er sich ihrem Lager.

»Bist nun mit mir zufrieden?« lächelt sie matt. »Wie du schaut der Junge aus!«

Da überläuft ein Zucken den starken Mann.

Er beugt sich nieder und vergräbt sein Gesicht in ihrer heißen Hand.

»Gretlies! Gretlies!« stammelt er leise, »das hab' ich nicht verdient!«


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