Wenn die Sonne sinkt
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Martinsfest.

Ein frischer Oktoberwind streicht über das Gelände, das sich angesichts der alten, einstigen freien Reichsstadt Erfurt nach dem Steigerwald hin breitet. Von den grünen Hügelwellen blickt das Auge hinüber zu der turmreichen Stadt, über deren Dächerschar die hehren Gotteshäuser des hoch und dicht beieinander liegenden Doms wie St. Severi feierlich in die Abendluft ragen. Die Sonne ist bereits niedergegangen. Doch ihr Leuchten taucht noch einmal alles in feurige, überirdische Glut. Und in diesem wundersamen Feuerspiel tummeln sich hoch in den Lüften einige Papierdrachen lustig durcheinander. Wohl ein halbes Dutzend halbwüchsiger Jungen begleiten das bewegte Spiel unter Lachen und Schreien, indem sie wie aufgeregte Wasserfliegen hin und her schießen.

»Haha! Meiner steht doch am höchsten!« Ein ungefähr zwölf Jahre alter Junge ruft es stolz. Die großen blauen Augen leuchten auf, da er jetzt den Blondkopf in die Höhe wirft.

»Meiner war vorhin ebenso hoch! Gelle, Viktor?« Der dies schreit, blickt dabei nach einem dritten, der nur als Begleiter sich angeschlossen hat, gleichsam zur Bestätigung seines Widerspruches.

»Natürlich! Ich hab's ganz genau gesehen,« erwidert der Angerufene.

Martin Brink aber, der den kleinen Streit hervorgerufen hat, weist jetzt mit der freien Hand im Triumph in die Höhe.

»Und jetzt geht er noch höher!« Er beguckt den Rest des Bindfadenknäuels in seiner Hand. »Na, hoffentlich langt die Strippe!« »Aaaah!« Aus den Kehlen der übrigen Jungen dringt da plötzlich ein Ton schlecht verhehlter Schadenfreude. »Aaaah! Jetzt geht's runter! Der hat genug! Der ist müde! Au! und wie er wackelt! Du, Martin: Wenn's nur nicht in die Bäume geht! Da ist es schlecht wiederkriegen.«

Martin verfolgt das Schwanken und Sinken seines unsicher hin und her schaukelnden Drachens. Dann auf einmal dringt es wie ein halb unterdrückter Schmerzensruf von seinen Lippen. Der Drache, müde der Luftreise, und wohl auch nicht recht geneigt, Erdstaub für Himmelswonne einzutauschen, ist plötzlich mit einem Ruck in das Zweiggestrüpp einer Erle gefahren und sitzt da nun fest, der Dinge harrend, die da kommen können.

»Mein schöner Drache!« Martin blickt traurig empor zu dem ungetreuen Flüchtling. In seinen großen Augen scheint es heimlich feucht aufzuschimmern.

»Den kriegst du nicht wieder!« trösteten die Kameraden. »Laß dir nur 'n andern machen!«

»Und ich krieg' ihn doch wieder!« Martin zieht die Jacke aus und trifft Anstalt, den Baum zu erklimmen.

»Du! Laß das lieber!« Warnende Stimmen wollen ihn zurückhalten.

Ein geringschätziger Blick streift die anderen Jungen. Martin denkt daran, daß er das letztemal im Turnen sich eine Eins in der Zensur erworben hat, daß er im Klettern noch immer der Geschickteste seiner Klasse war. Im nächsten Augenblick hat er bereits Arme und Beine um den Stamm geworfen und beginnt den Aufstieg. Staunend sehen die Zurückgebliebenen ihm nach.

»Du, der schafft's wirklich!« raunt der eine dem anderen zu. »Jetzt ist er bald oben.«

Martin ist inzwischen nahe seinem Drachen angelangt und versucht nun, das papierne Ungetüm loszuhaken. Doch Schnur und Schweif haben sich arg in das Gezweig verwirrt. Eine Weile bastelt er herum. Dann ruft er hinab:

»So! Nun hab' ich ihn! Haha!«

Dann ein Aufschrei, schrill und fürchterlich. Im nächsten Augenblick klatscht der Körper des Jungen zu den Füßen seiner Kameraden nieder, die entsetzt und bleich zurückweichen.


Am Friedrich Wilhelmplatz zu Erfurt, da steht ein altes, hohes, graues Haus. Jahrhunderte sind über sein steiles, fensterreiches Dach gerauscht. In dieses Haus trägt man in später Abendstunde den verunglückten Jungen. Kühler Oktoberwind streicht über den weiten Platz, an dessen einer Seite Dom und St. Severi gespenstisch in den sternenklaren Himmel ragen. Ein paar seiner Kameraden haben stumm und verstört Martin das Geleite gegeben.

Der Arzt hat soeben das Zimmer verlassen. Außer einigen Abschürfungen hat er wunderbarerweise keine Verletzungen feststellen können. Doch eine schwere Gehirnerschütterung scheint der Junge erlitten zu haben. Auf die Frage nach Genesung hat der Doktor ernst vor sich hingesehen und dann erwidert: »Wir dürfen das Hoffen nicht aufgeben. Die Folgen so schweren Sturzes lassen sich erst mit der Zeit ermessen. Vorläufig heißt es: tiefste Ruhe. Fieber wird sich bald einstellen. Aber auch Pausen klaren Bewußtseins schieben sich dazwischen. Morgen früh komme ich wieder.«

Die Mutter ist am Bette zusammengebrochen. Der Vater steht am Fenster und läßt die Blicke über den nur matt erhellten Platz schweifen. Wie im Traume ziehen die Jahre an ihm vorüber, seit Martin als einzigstes Kind ihm Sonne ins Haus brachte. Die erste Ausfahrt des Jungen, sein kindliches Spielen drunten im Sandhaufen, dann der erste Schulgang, wie er so tapfer neben den exerzierenden Soldaten einherschritt, beim Sonntagskonzert auf dem Platze stolz mit anderen Jungen Notenblätter hielt. Und dann das Martinsfest! Erfurter Martinsfest! Am 10. November war ihm der Junge geschenkt worden. Da war er mit seiner Frau überein gekommen, ihn nach dem deutschen Glaubenshelden auch Martin zu taufen.

Und nun? Kaum noch an einem Faden hängt sein Hoffen, daß ihm der erhalten bleibe, dem er eine frohe Zukunft aufzubauen gedachte. Der Arzt weiß es, wenn er es auch noch aus Rücksicht verschleiert. Auf solch einen Sturz gibt's gewöhnlich nur zwei Antworten: Tod oder geistiges Siechtum! Er faßt sich an die Stirn. Er möchte laut aufschluchzen. Doch da am Bett kniet ja noch ein armes Menschenkind, das in dieser Stunde mit seinem Gotte hadert. Und er wendet sich leise um und hebt die Gefährtin seines Lebens sacht empor an seine Brust.

»Stark sein!« flüstert er mit weicher Stimme. »Aus Gottes Hand in Gottes Hand!«

Da läuft ein Zucken über den Leib der Frau.

»Theodor!« schreit sie leise auf. »Ich müßte ja mit ihm sterben!«

Sanft legt er die Hand auf ihr Haupt.

»Nein, nein! Nur noch fester müssen wir beide dann zusammenhalten, damit er droben seine Freude hat, so ihn Gott uns doch nehmen sollte!«

Am anderen Morgen ist der Arzt wieder erschienen. Sein Gesicht bleibt still und unbewegt. Doch als er die Mutter nach etwas hinausgeschickt hat, da wendet er sich plötzlich an den Vater und greift nach dessen Hand:

»Herr Direktor! Wir sind Männer – Sie müssen sich auf das Schlimmste gefaßt machen. Bereiten Sie langsam Ihre Gattin vor. Es kann heute eintreten – es kann auch noch Wochen dauern. Unberechenbar ist solcher Zustand. Ihr Junge wird auch wieder lichte Augenblicke zeigen – aber täuschen dürfen Sie sich nicht. Schwere Gehirnhautentzündung. Dagegen gibt es nichts.«

Die Blicke beider Männer treffen sich. Dann ein fester Händedruck. Wie versteint blickt der Vater hinaus auf den Platz. Da tönt es aus dem Krankenbette:

»Nicht wahr, Vater: Wenn Martinsfest ist, da darf ich wieder aufstehen? Bitte, bitte!«

Ein wildes, kurzes Aufschluchzen. Dann erwidert der Vater, an das Bett tretend: »Gewiß, Martin! Dann gehen wir alle mit. Deine neue Laterne steht ja schon in meiner Stube!«

»Oh, das wird schön! – Das wird –«

Der Kranke ist wieder in Halbschlummer versunken. Währenddessen ist die Mutter leise eingetreten. Sie faßt ihren Mann hastig am Arm.

»Sprach nicht der Martin eben?«

»Ja, ja! Er will das Martinsfest mitmachen!«

»Das hat er gesagt? O mein Gott! Nun wird er auch wieder!« Und sie beugt sich über ihren schlafenden Jungen, und ein paar heiße Dankestränen rieseln sacht hernieder.


Fast zwei Wochen sind seitdem vergangen. Der Zustand des Kleinen ist fast unverändert geblieben. Freie, lichte Minuten wechseln mit Fieberphantasien. Dann wieder schwerer, ächzender Schlaf, der von Pfeifen und Rasseln aus der Kehle des Kranken begleitet wird. So kommt der 10. November. Erfurt wird wieder einmal sein Martinsfest begehen. Haus für Haus werden bunte Papierlaternen und Lampions zurechtgelegt; da und dort hat man auch Kürbisse ausgehöhlt und lustige, fratzenhafte Figuren hineingeschnitten. Die Lichterzieher haben heute einen goldenen Tag. Selbst das ärmste Kind will heute nicht zurückstehen, sein Martinsfest zu feiern, sobald der Abend sich über die alte Lutherstadt gesenkt hat. Dann flutet es aus allen Häusern und Hütten, durch alle Gassen und Straßen, schwärmt über den weiten Platz vor dem Dome, und was zu Luther aufschaut, das singt aus frischer Kehle den uralten Vers:

»Martin, Martin!
Martin war ein braver Mann,
Steckte viele Lichter an,
Daß er oben sehen kann,
Was er unten hat getan!
Was er unten hat getan!«

Die Katholischen aber feiern daneben den Namenstag ihres Heiligen, der auch dem Luther einst als Pate an der Wiege stand:

»St. Martin! St. Martin!
Das war ein braver Mann!
Der teilte, der teilte
Sein' Mantel mit den Arm'n!«

Zuweilen aber begehrt ein protestantisches Gemüt lichterloh auf, dann tönt als Trutzreim dem anderen entgegen:

»St. Martin! St. Martin!
Da schlacht' mein Vater 'n Bock,
Da tanzt meine Mutter, da tanzt meine Mutter,
Da wackelt meiner Mutter ihr Rock!« –

Das abendliche Martinsfest hebt an. Zappelnde Kinderherzen; am Fenster, vor den Haustüren stehen die Kleinen und halten Ausschau hinauf nach den ersten Sternen! Da läuft auch schon der Laternenmann hastig vorüber, als wüßt' auch er, daß heute gedoppelte Eile not tut. Von den Türmen singen die Glocken, und viel Tausende kleiner Silberglocken klingen in ebensovielen bebenden Kinderherzen jubelnd auf und nieder.

Martinsfest! Selige Jugendzeit! Wie fernes Läuten tönt's in der Erinnerung jedem nach, der einst in der alten Lutherstadt seine Kindheit verleben durfte. Jetzt tauchen die ersten Laternchen auf. Ganz kleine Kinder sind es, die an der Hand der Mutter ihren Rundgang durch die Stadt antreten. Aber der Strom schwillt. Er schiebt sich mit viel Tausenden von irrenden Lichtpunkten über Markt und Gassen, als seien ungezählte Sterne heute vom Himmel plötzlich zur Erde niedergefallen.


Martin liegt in seinem Bette. Das Gesicht ist tief eingefallen. Blaue Ringe haben sich um die geschlossenen Augen gelegt. Heftiges Pfeifen dringt aus seiner wogenden Brust. Vor einer halben Stunde ist der Arzt wieder fortgegangen. Ein eigener Blick zum Vater sagte dem alles. Der Tod steht am Bette seines Jungen, daß er mit ihm die große Reise antrete.

Vater und Mutter sitzen nahe dabei. Sie hat das Fragen aufgegeben, doch auch das Hoffen. Da dringt vermehrter Lichterglanz durch die Fenster. Singen und Jubel hallt herauf. Droben auf der Plattform, die sich um den Dom entlang zieht, hat man soeben Rotfeuer entzündet. Die qualmende Glut vermischt sich mit dem Lichtgefunkel der über den Platz tanzenden Lichterchen.

Der Vater hat das Fenster leise geöffnet.

In diesem Augenblicke ertönt aufs neue Gesang einher. Da wird es im Bette lebendig. Martin öffnet die Augen. Ein verklärtes Leuchten, fast überirdisch anzuschauen, bricht hervor.

Er richtet sich etwas empor. Er lauscht. Dann auf einmal ruft er freudig:

»Mutter! Darf ich aufstehen? Nicht wahr, jetzt bin ich wieder ganz gesund? Horch doch nur! Martinsfest! Martinsfest! Wie sie rufen! Ja, ja! Ich komme gleich! Ach, wo habt ihr meine Laterne hingelegt? Ich muß ja hinunter! Gebt mir sie doch!« Er wendet sich halb zu den näher getretenen Eltern. »Warte nur, ich hole sie dir gleich!« Und der Vater eilt hinaus, um bald darauf mit der brennenden, an einem Stabe befestigten Laterne wieder zurückzukehren.

Mit strahlendem Antlitz empfängt ihn der Kranke. Stürmisch reckt er seine dürren Händchen danach aus.

»Ach, meine Laterne! Und wie schön sie brennt!« Seine Augen saugen sich förmlich fest an dem bunten, schaukelnden Ding. »So, nun kann ich auch hinunter. Brauchst mich nicht anzufassen, Mutter! Ich finde meinen Weg ganz allein! Martin! Martin! Martin war ein – ach, da steht auch der Dr. Martin Luther – ganz gewiß! Und der ganze Himmel ist voller Lichter – ja, ja, ich komme – Martin, Martin!« –

Sacht hat ihm der Vater die Laterne aus den sie umklammernden Händen genommen. Nun löscht er sie aus. Martin merkt es nicht mehr. Er ist in das Kissen zurückgesunken. Beide Hände strecken sich empor. »Ja, ich komme! Ich – Martin! Martin! – Mutter – Vater –«

Die Arme sinken nieder, aber das Leuchten in den Augen bleibt. Noch ein paar stoßweise, schwere Atemzüge, dann ist's still. Das kleine Herz hat zu schlagen aufgehört. Vater und Mutter sind vor dem Bette wimmernd niedergesunken. Vom Platze aber herauf tönt es im jubelnden Anwachsen:

»Martin! Martin!
Martin war ein braver Mann – –«


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