Wenn die Sonne sinkt
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Wenn die Sonne sinkt.

Über den Kuppen und dem langgewellten Kamm des Waldgebirges lag der volle Goldglanz eines Spätsommertages. Die Sonne stand schon ziemlich tief. Höher und höher rückte sie an den Wänden empor, und wo ein ihr voll und breit zugewandter Hang unter ihrem Scheine magisch erglühte, da zeichnete sich der gegenüberliegende Berg in ernstem Dunkel auf ihm ab.

Quirlend und schäumend rauschte ein Bergbach unter moosbefransten, niederhängenden Tannen talab. Das klang wie heimlich Jauchzen und verstohlenes Lachen. Wenn eine Forelle unter einem Stein hervorschoß und blitzschnell sich hob, so leuchtete es silbern auf und erstarb dann wieder in einem verzitternden Ringe. Dazwischen scholl leis gedämpft das Tirilieren der Waldvögel. Sonst war alles feierlich still in dieser Abendstunde.

Die schwermütigen Tannenhäupter schienen der Sonne sehnend nachzuschauen, ehe diese hinter der jenseits ferner Höhen aufdämmernden Wolkenbank niederging. Durch das sich bereits leis färbende Laub der Buchenwipfel aber leuchtete es im wundersamen Geflimmer von Gold und Purpur, Wunder auf Wunder dem schauenden Auge in Höhe und Tiefe entschleiernd. Ein zarter Duft schwebte über die entzündeten Höhen dahin und rieselte zwischen den Baumstämmen hernieder, weich und träumerisch wie der Frieden, der dieses weite, herrliche Waldgewoge bis zu den blauen Bergen am Horizonte einzuhüllen schien. Wie ein Abendgebet lag es auf der Natur.

Da mitten hinein kracht ein Schuß von irgend einer Waldblöße!

Die Bergwände geben dröhnend seinen Schall wieder, der sich im Echo von Tal zu Tal allmählich verhallend fortpflanzt. Und erschreckt scheint der erschauernde Wald aufzuhorchen. Als habe eine Frevlerhand die geweihte Andacht dieser Stunde trotzig aufgehoben. Dann aber liegt alles wie zuvor.

Die Felszacken und Fichtenstreifen der Bergwände glühen geheimnisvoll weiter; in der Tiefe rauscht der Wildbach, die Vögel singen sich sacht in Schlummer ein, der Abendwind setzt auf den Höhen ein und zieht mit tiefberuhigendem Rauschen durch die hohen Wipfel und Buchenkronen hin.

Um diese Zeit stieg eines der wildeingerissenen Quelltälchen, die pfadlos zum Gebirgskamm hinanführen, ein kräftiger Bursch empor. Die Spielhahnfeder auf dem etwas nach hinten geschobenen Hute stand gut zu dem trutzig ausschauenden, tiefgebräunten Gesichte des hübschen Dorfbewohners. Seine Rechte hielt einen derben Knotenstock energisch umspannt. Er schien in dieser Wald- und Felsenwirrnis zu Haus zu sein. Mit seinen schwer beschlagenen Schnürschuhen sprang er von Stein zu Stein, glitt gewandt durch eine moosfeuchte Schlucht, von deren Hängen Farrenwedel in dichten Büschen niederhingen, jetzt schwang er sich über einen abgestürzten Baum, duckte in eine Dickung hinein, bohrte die Hacken in das Gestein und klomm der nahen Höhe zu.

Das Bächlein an seiner Seite hatte gegluckert und geflüstert: Ich weiß, wer es tat! Ich weiß, wer es tat! Hüte dich! Hüte dich! Aber all sein Raunen und Warnen hatte dem Aufwärtsstrebenden das siegesfrohe Lächeln nicht vom Antlitz bannen können. Da war das Bächlein nach und nach still geworden. Nun war es gar nicht mehr zu schauen. Der Bursch aber schwang sich mit einem letzten Anlauf über eine vorspringende Felskante. Und dann stand er oben, wo über den schmalen Kamm eines seitlichen Bergzuges ein schwach ausgetretener Fußsteig lief. Jenseits in der Tiefe, bereits in leicht webende Abendnebel eingehüllt, grüßten die schiefergedeckten Dächer eines Walddorfes herauf. Von diesem wandte sich im malerischen Bogen eine helleuchtende Straße zum Hauptkamme des Gebirges empor. Man konnte sie von dem waldumstrüppten Platze, auf dem der schlanke Bursch jetzt auslugend und atemschöpfend hielt, ein gut Stück übersehen. Ein scharfes Auge vermochte wohl auch die einzelnen Menschen nach Gang und Haltung von hier aus zu erkennen.

Der Einsame hier droben jedenfalls. Denn jetzt flog ein halb boshaftes, halb triumphierendes Lächeln über seine wetterharten Züge. Die glänzend braunen Augen funkelten geradezu übermütig nach der Straße, auf der eine etwas nach vorn gebeugte Förstergestalt dem Hochwalde eiligst zustrebte.

»Aha!« lachte der Bursch.«Der Schuß vorhin hat ihn aus seiner Ruh' aufgeschreckt! Da vergißt auch wohl einer sein Podagra dabei. Wie oft er nun wohl umsonst sich die Beine abgerannt hat! Auch heute wieder! 's war ein Kernschuß – kapitaler Bock! Er mag nur herumschnüffeln. Er find't den Bock nicht und den Jäger auch nicht.«

Ein finsteres Sinnen war über ihn plötzlich gekommen. Eine Weile blickte er schweigend über die glutangehauchten Bergspitzen nah und fern. Aus den Wäldern und Tälern drang der feine Abendgruß der Erde herauf.

»Das ist meine Rache!« murmelte der droben Stehende. »Einst hätte ich's nicht getan. Aber er nahm mir alles, das Beste meines Lebens. Bin ich schlecht geworden – er trägt allein die Schuld. Bah, schlecht! Jeder sucht zu vergessen. Der eine säuft, der andere verlumpt anders. Ich habe mir den Wald dazu ausgesucht und dem Alten das Leben vergällt. Ruh' soll er nicht mehr haben!«

Er wandte seine Augen wieder zu der Straße, von der soeben der Förster seitwärts in den Hochwald eintauchte. Ein pfeifender Ton glitt dem Burschen durch die Weißen Zähne. Es klang wie das Schleifen eines Birkhahns.

»Vier Jahr' tappt er nun umsonst im Dunkeln umher, wenn's auch noch so taglicht ist. Er muß einen Rüffel nach dem andern von oben her einstecken. Das frißt ihm am Herzen. – Mir auch ... mir auch! Nur noch brennender wie ihm ... all die Jahre, heute ... solang' ich noch leben werd'.«

Er ließ sich auf einer stark bemoosten Baumwurzel am Wege nieder, die wie eine Naturbank zum Rasten lockte. Den Kopf grübelnd gebeugt, stocherte er mit der Eisenspitze des Stockes im Boden umher. Plötzlich hielt er inne. Sein Gesicht hob sich. Ein Stückchen davon, wo er sich vorhin über die Felskante hinaufgeschwungen hatte, zog sich ein von Regengüssen stark ausgewaschener Hohlweg heran. Von dort kamen Schritte herauf. Bald darauf tauchte die kraftvoll jugendliche Gestalt einer jungen Frau empor, die, halb bäuerisch gekleidet, kräftig ausschritt. Ihr von starken braunen Flechten umrahmtes Gesicht zeigte Gesundheit und Frische. Oben angekommen, blieb sie, ein paar Herzschläge lang atemschöpfend, stehen. Dann setzte sie ihre Wanderung fort. Erst als sie nahe dem Baum war, unter dem der Einsame Platz genommen hatte, bemerkte sie diesen.

Ein jäh aufschießendes Rot, das sie in sichtlicher Verlegenheit gern verborgen hätte, färbte ihre Züge. Ihr Gang stockte, fast wie hilfesuchend irrte ihr Blick an dem Burschen vorbei in das Leere.

Ihm war die Selbstbeherrschung leichter geworden.

Es klang fast nachlässig und gleichgültig, als er ohne Erregung die Frage an das junge Weib richtete:

»Na, sieht man dich auch 'mal wieder, Theres'?«

Als sie wohl nicht gleich eine Antwort zu finden schien, fuhr er ruhig fort:

»'nen schöner Tag heut'! Warst gewiß bei der Freundschaft drunten in Wahldorf? Gelle?«

Sie nickte kurz.

»Hast's geraten, Bartels! Man muß schon alle Jahr 'mal hinüber. Sonst nehmen sie's übel!«

»Ja, ja!« fügte der Bursch mit leichtem Spott hinzu. »Soweit darf man's nicht kommen lassen, das tut sonst weh! Gelle?« Er blickte auf die noch immer unschlüssig vor ihm Stehende und sagte dann: »Brauchst mir nicht die Ruh' mitzunehmen. Komm, setz dich ein bißchen her. Ich mein', 's ist lang' her, daß wir uns nicht sprachen. Da gibt's mancherlei zu schwatzen. So, hier ist noch Platz. Brauchst nicht zu fürchten, daß ich dich hernach begleit'. Um des Geredes willen schon nicht!«

Die junge Frau schien noch einen Augenblick zu zaudern. Aber als sie dem Blicke des Burschen begegnete, der fest und mit ganz eigenem Ausdrucke an ihrem verwirrten Antlitz hing, da war es, als banne eine seltsame Macht sie nieder. Ihr Auge glitt noch einmal über die Waldfläche zum Dorfe hinab. Dann nahm sie hart neben dem andern Platz am Wegrande.

Ein paar Herzschläge lang sprach keiner ein Wort. Dann löste sie das lastende Schweigen.

»Du warst im Holz? Gelt?« fragte sie. Man fühlte es aus ihrer Stimme, daß sie nach einem Anknüpfungspunkte tastete.

Ein heimliches Leuchten glitt über sein Antlitz. Es kam und ging so rasch, daß sie es gar nicht merkte.

»Ja, ja!« bestätigte er dann. »Wir wollen demnächst Holz rücken für unsere Glashütte. Ich hab' mir's angesehn, wo es liegt. Drüben an der Rabenwand – weißt, wo wir früher immer beide die meisten Erdbeeren fanden.«

Sie nickte nur stumm, während ein leichtes Rot ihr über die Schläfen huschte.

»Du warst wohl lange nicht dort?« fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich komme jetzt seltener in den Wald,« fügte sie dann hinzu.

»Ja, ja! Kann mir's denken: Würde bringt Bürde! Ich bin ledig geblieben und so verschlägt's mir nicht. Ich bin dem Walde treu geblieben und habe auch sonst nichts weiter. Daheim ist's still – da treibt's mich fort. Ich dachte auch 'mal, es hätte anders kommen können – 's hat nicht sein sollen. Nun muß man zufrieden sein.« Er warf den Kopf auf, und die Augen jagten über die schweigenden Bergwälder in die duftverschleierte Ferne. Etwas wie Trotz und Schmerz schienen in seinen Zügen zu kämpfen. Aber er suchte die Erregung niederzudämmen. Es war der alte Ton wieder, als er jetzt fortfuhr:

»Wir waren übrigens immer gute Kameraden, Theres'? Nicht? Weißt du noch, wie ich dir 'mal am Hangeberg die Eichkatze aus dem Neste herunterholte? Das Teufelsvieh biß und kratzte – aber du warst mir gut, und die zerrissene Jacke hast mir auch nachher geflickt.«

Ein Lächeln lief verschämt über das blühende Gesicht des jungen Weibes.

»Drunten am Meisenbach wächst noch immer der Haselbusch, von dem ich uns beiden manchmal Flitzbogen zurechtmachte. Du hast 'ne sichere Hand damals gehabt, just wie ein Junge. Aber unser Kantor auch. Als du einmal nach der blauen Glaskugel in seinem Rosengärtchen zieltest, gab's einen hübschen Knall. Du ducktest unter, ich blieb stehen und meinte mich halbtot zu lachen. Dafür habe ich dann für dich die Dresche gekriegt.«

»Aber verraten hast doch nichts, Bartels! Das war brav von dir!«

Er zuckte die Achseln.

»Verraten? Um dich hätten sie mich damals können totschlagen! Ich hätt' die Zähne zusammengebissen – aber ich hätt' stillgehalten. Ich war ein dummer Junge wie alle in den Jahren, und daß wir alle wilden Streiche so hübsch zusammen ausheckten, das hielt mich zu dir. Heut' weiß ich, daß es noch mehr war ... daß 's in unseren Bergen nichts Schöneres hat gegeben ... als dich, Theres'!«

Er preßte die Zähne aufeinander und starrte in die verlöschende Abendglut.

Da fühlte er seine Hand leicht berührt. Weich und fast traurig klang die Stimme der neben ihm Sitzenden.

»Wozu das? Und heute? Wir haben ja alle zu tragen. Der eine so – der andere so. Man kann lachen und doch insgeheim sein Leid spüren.«

»Du aber nicht ... Du nicht, Theres'! Du bist Frau Förster geworden und kannst, wenn du nur willst, dich der Jugendbekanntschaft schämen. Ich bin ein Gläser geblieben, wie es die meisten drunten im Dorfe sind, und habe nicht höher hinausgewollt, weil ich's nicht hab' anders kennen gelernt. Aber früher war ich glücklich und vielleicht auch gut. Jetzt aber ist's mit der Zufriedenheit dahin... und ich bin schlecht geworden!«

»Bartels!«

»Was denn?«

»Du sollst nicht so sprechen ... nicht heute... nicht zu mir!«

»Ha, ha! Hast recht! 's nützt ja auch nichts. Aber du bist ja noch immer die einzige, zu der ich's sagen könnt'. Hast recht! 's geniert dich – und es ändert ja auch nichts mehr daran. Aber manchmal, da überläuft 's mich heiß und kalt und schnürt mir die Kehle zu, daß es so hat kommen müssen. Seitdem ist da drinnen mir etwas wie zersprungen und ich hab' die rechte Freud', aber auch den Glauben an die Menschheit verloren.«

Er zwirnte finster den dunklen Schnurrbart und seine Augen hafteten am Boden.

Da klang die Stimme der jungen Frau weich an sein Ohr und Herz:

»Bartels, weißt noch das letzte Maienfest drunten im Dorfe, ehe du unter die Soldaten gingst? An der allerobersten Spitze flatterte ein seidenes Knüpftuch als bester Preis. Alles andere war schon von den Burschen heruntergeholt worden. Dort hinauf aber war keiner gekommen. Mir ist's noch wie heute. Ich starrte immerfort in den blauen Pfingsthimmel hinein, in dem das bunte Tuch so luftig wehte. Die Musik spielte, Burschen und Mädchen standen lachend in Gruppen und musterten die heruntergeholten Preise und tranken sich dabei zu. Auf einmal standest du vor mir. ›Theres'!‹ sagtest du, ›möcht's du das Ding da oben wohl haben? Es ist hübsch!‹ Was keiner vermocht hatte, wolltest du für mich tun .. für die vielleicht Ärmste im Dorfe. Mir schlug das Herz höher. Du mußtest es mir wohl angesehen haben. ›Also ich darf's für dich holen?‹ drängtest du. Ja, ja! Wenn du ... Da warst du schon an der Maie und dann ging's hinauf, höher und höher den spiegelglatten Fichtenstamm hinan. Die Musik schwieg. Allmählich verstummte auch das junge Volk. Aller Augen gingen hinauf zu dir. ›Hm! ob er's schafft?‹ ›Wird's wohl bleiben lassen!‹ – ›Soweit bin ich auch gekommen, aber dann ..‹ – ›Aha! Jetzt heißt's frischen Atem einsetzen!‹ – ›Donnerwetter! 's sieht wahrhaftig so aus, als ob ...‹ – ›Der Bartels hat den Teufel im Leibe!‹ – So schwirrte es durcheinander. Dazwischen sahen die Mädchen zu mir herüber, aber ich tat, als merkt' ich's nicht. Ich sah nur dich, hatte nur den einen Wunsch, daß es dir gelingen möge. Nicht um des Tuches willen mehr! Das hätte ich gern geopfert! Aber mir war's, als stünde deine Ehre auf dem Spiele. Ich glaube, ich habe in jenen Augenblicken um dich gebetet. – Und dann auf einmal drang jauchzender Ruf an mein Ohr. Alles schrie ›Hoch!‹ und ›Hurra!‹, die Musik fiel ein, ich sah, wie du mit dem bunten Ehrenpreise niederwinktest, und dann war es mir, als schwanke der Boden und Himmel und Berge tauchten ineinander. Ein paar Minuten später standest du, hochrot noch von der Anstrengung, mit leuchtenden Augen vor mir. ›Da, Theres'!‹ sagtest du. ›Ich wünscht', es macht dir etwas Freude!‹ – – Bartels! Dieses Tuch ist mir ein Heiligtum geworden, ein Abschiedsgruß aus meiner Jugendzeit. Jeden Sonntag trage ich es, wenn ich zur Kirche gehe.« Er hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Haupt in die Hände gelegt. Nun lief ein Jucken über seinen Leib.

»Allsonntäglich!« murmelte er halb für sich hin. »Allsonntäglich ... und dorthin, wo du vor dem Altar mich verrietest ... unsere Jugend ... unsere Liebe... alles – alles und für immer. Ach!« Er stöhnte schwer auf und schüttelte den Kopf.

Sie aber legte ihre Hand auf seinen Arm und näherte ihr Gesicht dem seinen.

»Bartels! Nicht so, nicht so! Du sollst mich nicht verdammen ... du nicht ... du nicht! Die ganze Welt will ich gegen mich haben ... nur dich nicht. Ich tat dir weh ... ich weiß es. Unter Tränen und Jammern tat ich es, nicht weil mich gelüstete, mehr zu werden, als was ich bisher gewesen. Ich habe dich betrogen ... aber auch mich .... auch ihn! Ja, auch ihn! Aber ich ging über mein eigenes Gefühl und Empfinden hinaus und brachte ein Opfer. Und darum solltest du mich nicht schelten, wohl aber beklagen. Denn ich tat uns beiden das Schlimmste an, was zwei Herzen erfahren können, die von Kindheit an zusammen erklangen, die zusammengehörten ... füreinander vielleicht bestimmt waren. – Hör' mich heute an! Einmal muß es ja doch herunter und vielleicht ist's darum gut, daß wir einmal allein zusammentrafen.«

Sie hielt inne und wartete auf Antwort wohl. Doch keine erfolgte. Unbeweglich saß der Bursche neben ihr, den Kopf noch immer in den Händen vergraben.

»Siehst du, Bartels! Als du unter die Soldaten gingst, als du zum letzten Male mir die Hand drücktest ... da hätt' ich dir mögen ins Gesicht schreien: Nimm mich mit! Eine unbeschreibliche Angst kam über mich, wie eine Ahnung, daß etwas Furchtbares zwischen uns treten müßte ... etwas, das ich nicht wußte, nicht kannte ... das uns aber für ewig trennen sollte. Wir waren ja noch immer nur die alten Spielkameraden ... große Kinder, denen aber die Liebe im Herzen saß, obgleich keiner von uns jemals dieses Wort hatte fallen lassen. Bei diesem Händedruck, bei einem letzten Blick blieb es ja auch damals. Wir glaubten an unser Glück auch ohne Worte, weil es gar nicht anders sein konnte.« Sie legte die Rechte einen Augenblick über die Augen, dann fuhr sie fort: »Du warst kaum vier Wochen fort, da verfiel die Mutter in eine lange, schwere Krankheit. Meine Angst stieg, aber auch die Sorgen wuchsen. In jenen Tagen näherte er sich uns. Er hat damals für uns geschafft und gesorgt, und ohne seinen hilfreichen Zuspruch hätte meine Mutter dieses monatelange Leiden nicht überstanden. Das hat mir der Doktor fast jedesmal gesagt. Denn es fehlte bei uns am Allernötigsten. Und welche Freude, als es dann wieder vorwärts ging, als die Gesundheit wieder in die Wangen und die Hoffnung in unsere Hütte zurückkehrte. Nur eines fehlte immer mir zum vollen Glück: ein Lebenszeichen 'mal von dir! Du bist still geblieben all die Zeit, gerade da, wo ich am heißesten mich nach dir sehnte. Das war nicht gut. Für mich nicht ... und für dich nicht.« Der neben ihr Sitzende nickte stumm. »Als der Doktor nicht mehr kam ... da kam der Förster. Schließlich fast jeden Tag. Er sah nach der Mutter und schwatzte mit mir. Ich war ihm immer freundlich, denn wir dankten ihm alles ... an etwas anderes hätt' ich nie gedacht bei seinem Alter. Eines Tages aber nahm mich die Mutter her und stellte mir alles vor: unsere Armut, was ohne ihn aus uns geworden wäre ... wie gut und bescheiden er sei, gar nicht aufdringlich. Und dann zog sie mich näher und flüsterte mir zu, daß in meiner Hand jetzt mein Glück ruhe ... ich könnte es auch gar nicht abschlagen, das sei ganz unmöglich ... ich hätte sie doch lieb, das wüßte sie, und ohne ihn hätte ich keine Mutter mehr. Bald darauf stand er selbst vor mir und bat mit ruhigen, freundlichen Worten um meine Hand. Ich muß wohl blaß geworden sein, denn er beruhigte mich und sagte: er wolle nicht drängen, er würde morgen wiederkommen und bis dahin würde ich wohl erkannt haben, daß er nur unser aller Gutes im Auge habe. Soll ich dir noch sagen, was darauf kam? Ich hab's der Mutter gesagt, wie's mir ums Herz war... daß ich bisher noch nicht darüber nachgedacht hätte, nun aber wüßte, daß es ein anderer wäre, daß es nur einen geben könnte, dem ich mich mit Leib und Seele dürfte hingeben. Da ... da hab' ich – dich genannt ... dich, Bartels!« »Theres'!« Ein schmerzlicher Ton drang von den Lippen des Lauschenden. »Ob die Mutter es geahnt hatte, ich weiß es nicht. Aber sie entgegnete mir, du müßtest doch noch zwei Jahre dienen und dann seist du auch noch nicht so weit. Und ob wir uns fest versprochen hätten? Was sollt' ich darauf erwidern? Dann aber drang sie heftiger in mich ein. Wir wären dem Manne Dank schuldig. Dank sei auch Liebe. Er wäre ein braver Mann, tüchtig und geachtet. Dann wären wir für alle Zeit geborgen. Ich könnt' ihn doch unmöglich hassen. Wenn das nicht wäre, dann würde sich auch alles andere finden. So ging's weiter. Ich tat diese Nacht kein Aug' zu. Ich hab' geweint und gerungen, gebetet und geflucht. Wäre der Tod gekommen, ich hätte gejauchzt. Aber der kam nicht. Aber am nächsten Tage stand der Förster wieder vor mir. Er las in meinen Augen wohl manches. Er sprach freundlich zu mir und sagte, er wolle warten. Es wäre mir wohl überraschend gekommen. – Ein halbes Jahr hat er gewartet... dann gab ich den stillen Kampf auf. Die Dankbarkeit entschied. So ward ich sein Weib!« »Und bist, doch mit einer Lüge vor den Altar getreten!« »Bartels!« »Willst du's leugnen? Vor Gott und vor dir selber kannst du nicht bestehen! Das hieße sonst gegen die Natur sündigen. Das Jawort war erlogen, dein Schwur war ein Meineid. Es muß ein Schauder dich überlaufen, dem Mann dich hinzugeben, während ein anderes Bild vor dir schwebt, während deine Seele nach einem andern schreit!« »Bartels! Ich beschwöre dich! Hab' Erbarmen!« »Erbarmen! Erbarmen! Wer hat mit mir Erbarmen gehabt? Wer hat daran gedacht, daß man in mir das Beste mit Füßen trat, daß man mich schlecht machen würde?! Als ich's damals erfuhr, ich hab' gemeint, ich hätt' müssen lang hinschlagen. Aber ich saß ja fern im Elsaß, sah nicht, was mich alle Tage grämt und tritt und an mir frißt. Als ich aber dann zurückkam, da hat's angefangen. Tag und Nacht hat's in mir gebohrt all die Zeit, daß ich wieder hier bin. Siehst du, Theres': von den Qualen hast du doch nichts erfahren ... und diese... die haben mich dahin getrieben, wo ich jetzt bin. Die haben mich schlecht gemacht! Jeder Wurm krümmt sich , wenn du ihn trittst, und mich hat man getreten, getreten bis ins Innerste.« »Bartels!« Sie rief es mit flehender Stimme. Ihr Antlitz, leicht blaß geworden, tauchte vor dem seinen auf. Er fühlte den Hauch ihres Mundes, den warmen Druck ihrer Hände auf seinem Arm. »Bartels!« klang's noch einmal bittend. »Du kannst's nicht ausstreichen, nicht tot machen, was du die letzten Jahre aus mir gemacht!« »Nein, nein! Aber bitten kann ich dich: Sprich nicht so weiter ... nicht so! Du bist nicht schlecht ... du wirst's auch nie werden.« Er lachte kurz auf. »Was weißt du! Aber was ich geworden bin... man hat mich dazu getrieben.« Wieder suchten ihn die Augen des jungen Weibes. Aus dem Grunde seiner Seele schien ein Leuchten heraufzudringen, vor dessen Glanze des Mannes Innerstes heiß erzitterte. »Kannst du mir nicht vergeben? Wir tragen ja beide Leid.« »Wenn ich's auch tu' ... vergessen ... vergessen, das kann ich nicht. Das kannst auch nicht von mir verlangen. Das geht über Menschenkraft. Als wir Kinder waren, war ich dir gut. Heut' aber weiß ich, daß ich dich geliebt habe ... daß ich ohne dich nicht mehr fertig werden kann.« Schwer ging sein Atem, seine Finger glitten unsicher über die warme Hand des Weibes, von dessen Gesicht er nur noch mühsam seine Blicke abzulenken suchte. Ein wilder Kampf durchschüttelte ihn. Vor diesem Flirren und huschenden Blitzen schlug die Frau die Augen nieder. »Weißt du noch, Theres'? Damals die fröhliche Jagd an der Wand des Silbergrabens hin? Wir waren beid' noch nicht konfirmiert. Es ging heimwärts und – ich weiß nicht, wie's kam! – auf einmal liefst du mir zu: Hasch mich doch! Los ging's! Über Wurzeln und Geröll, um Felsecken und durch Buchenschlag hin. Eine tolle Jagd! Das Haar hatte sich dir im Busch gelöst. Ich sehe noch die Zöpfe vor mir flattern. Eine verrückte Lust überkam mich, dich daran zu fangen. So ging's hinunter in den Grund. Jetzt noch ein paar Sprünge! Du wendest dich um und lachst. Ich strecke schon die Arme nach dir aus – da schreist du auf, gleitest hinab und dann ist's still. Unten liegst du stumm und von deiner Stirn quillt's rot herunter. Siehst du, Theres': da wußt' ich zum ersten Male, daß ich ohne dich mir ein Leben nicht mehr denken konnte.« Er legte seinen Arm um ihren Hals und zog sie sacht an sich. Willig wie ein Kind ließ sie es zu. Einen Augenblick hatte sie die Augen geschlossen. Nun öffnete sie diese wieder. Weich, wie halb im Traume, klang ihre Stimme: »Und als ich wieder aufwachte ... da lag ich in deinen Armen ... so wie jetzt ... so wie jetzt ... und du sahst mich an, so besorgt, so gut. Ach!« Wieder senkten sich ihre Lider halb. Dann aber traf ein Strahl des Dankes, wie ein Nachglanz verwehten Glückes, sein Gesicht. »Wär' ich doch damals nicht wieder aufgewacht... eingeschlafen bei dir ... schöner hätte meine Jugend nicht enden können. Und mitten im Walde, an dem wir zwei beid' so hängen.« Er streichelte ihr sacht das krause Haar aus der Stirn und sie duldete es still. »Theres'!« »Was denn?« »All' die Jahre sind wie ausgewischt, nun ich dich einmal wieder habe. Es ist so lange her!« »Lange ... lange, Bartels!« »Damals hielt ich mein Glück im Arm und dacht' nicht daran, daß es jemals anders werden könnte. Theres! Hast du niemals wieder daran gedacht?« »Warum fragst du?« »Weil ich mir nicht denken kann, daß du im Arm eines anderen das auch nur eine Stunde gefunden, was uns beschieden sein sollte, nach dem ich gehärmt mich habe.« Vor seinen zehrenden Blicken schlug sie die Augen nieder. Er aber umfaßte in aufquellender Leidenschaft mit beiden Armen ihren blühenden Leib und zog ihn unter glühendem Erschauern ihrer Seelen an sich. Ihre Brust hob sich ihm entgegen, ihr heißer Atem umwehte stoßweise sein brennendes Gesicht. Doch ihre Blicke gingen noch aneinander vorüber in banger Erkenntnis aufdämmernder Schuld. »Gäb's ein Recht,« fuhr er mit leiser Stimme fort, »so gehörtest du mir und ich dir. Aber man hat es uns gestohlen ... über Nacht... während wir schliefen... und nun sitzt die Sehnsucht uns beiden im Herzen und quält uns, raubt uns die rechte Freude am Leben! Was man aber fühlt... das kann sich wiederholen, Theres'!?« Sie hielten sich mit heiß zitternden Händen, und Auge in Auge tauchte tief ein leidenschaftlich Sehnen. Näher und näher rückten die Gesichter, über welche es in jähen Flammen floß. Und dann fanden sich zum ersten Male die Lippen. Und alles Stammeln von Schuld und Abwehr, Verlangen und seligem Genießen erstarb in diesen! langen Kusse. Dann aber raffte sich das junge Weib zusammen. Seine beiden Hände ergriffen die des Jugendfreundes. Liebe und Scham rangen in ihm. »Bartels! Bartels! Wir tun nicht recht! Gewiß nicht!« Er aber faßte ihren Kopf mit seinen Händen und blickte ihr leidenschaftlich in das glühende Antlitz. »Höher als Menschenmacht ist die Liebe! Das fühl' ich in dieser Stunde wieder, da wir vergaßen, was man an uns gesündigt hat. Mir ist das Herz voll zum Springen. Dich hab' ich lieb, von dir kann ich nicht lassen. Und auch du – du sollst mich wieder lieb haben ... wie einstens. Niemand weiß davon – nur wir allein. Tun wir unrecht – man hat noch viel mehr an uns gesündigt, daß man uns gereizt, heimlich unserer Liebe nachzugehen.« Sie hatte den Kopf gebeugt und lauschte bebend seinen Worten. »Komm morgen wieder... Theres'! Bitte, komm! Hier hinauf... um diese Abendstunde! Bitte! Hab' mich lieb! Ich will dich hier erwarten ... wenn die Sonne sinkt! Komm! Willst du?« Er sah den stillen Kampf in ihren Zügen und drängte stürmischer. »Du wirst kommen ... du kannst gar nicht anders ... du mußt kommen! Wir wollen noch einmal vergessen und glücklich sein.« Sie war aufgestanden und blickte über die schweigenden Berghäupter in die nächtliche Ferne. »Wenn die Sonne sinkt!« murmelte sie. Er hatte ihre Hand wieder ergriffen. Lockend drang es an ihr Ohr: »Wenn die Sonne sinkt! Ja! Dann bist du mein und ich dein!« Er wollte sie noch einmal an sich ziehen. Doch sie entwand sich ihm. »Leb wohl! Auf Wiedersehn!« Hastig folgte sie dem Fußsteige, der zum Dorfe hinabführte. Er blickte ihr sinnend nach, bis ihre Gestalt längst im Tannicht entschwunden war. Dann schlug er langsam einen anderen Pfad ein, der sich rasch zwischen dem Felsgewirr verlor. Wie mahnend rauschten die Wipfel über ihn hin, vom einsetzenden Nachtwinde sacht bewegt. Traumhaft gluckerte ein Quellbach ihm zur Seite. Von irgendwo tönte der heisere Ruf eines Käuzchens durch den aufhorchenden Wald. –

Es war am Nachmittage des nächsten Tages. Der Förster stand an der Holzplanke seines Gartens, der sich an den Hof des Hauses anschloß. Das Forsthaus lag über den Hütten des tief in einer Talsohle eingebetteten Dorfes und gewährte einen schönen Blick auf die angrenzenden Waldberge und weiterhin, dem Laufe des Tales folgend, ins offene Land hinaus, aus dem nun vereinzelte Höhen wie Inseln über den Fluren sich erhoben. Die buschigen Brauen des ältlichen Mannes zogen sich leicht zusammen. Etwas wie geheime Freude glomm darunter aus den gutmütigen Augen hervor. Er drehte den grauen Schnauzbart stillvergnügt, indem er aufs neue die Blicke hinüber zum Walde richtete, und murmelte dabei für sich: »Heut' wird's! Heut' wird's! Oder es sollte doch sonst ein heiliges –« Er brach ab und lachte leise auf. Dann pfiff er dem bräunlichen großen Jagdhunde, der unter den Obstbäumen schnüffelnd Kreise im Grase zog, und wandte sich durch eine schmale Tür in den rings abgeschlossenen Hof. Einige Waldarbeiter waren hier mit Reisigaufschichten und Holzschlagen beschäftigt. »Brückner und Seeber!« »Jawohl, Herr Förster!« Die beiden Angerufenen blickten von der Arbeit fragend auf. »In anderthalb bis zwei Stunden seid ihr oben an der Dickung neben der Fuchswiese. Bringt den Karren und ein Paar feste Stricke mit. Ich denke, ihr sollt eine gute Ladung kriegen! Verstanden?!« »Jawohl, Herr Förster!« Wieder leuchtete der eigentümliche Freudenstrahl unter den grauen Brauen des alten Grünrocks hervor. Ein Nachschimmer davon lag noch auf seinem verwitterten Gesicht, als er jetzt in die Wohnstube, begleitet von dem Hunde, eintrat.

Therese saß am Fenster mit einer Handarbeit. Aber die Arme ruhten im Schoße. Zurückgelehnt, mit halbgeschlossenen Augen, lag das jungblühende Weib wie träumend im Stuhl zurück.

Beim Geräusch der sich öffnenden Tür fuhr es erschrocken in die Höhe. Hitze und Blässe wechselten jählings in seinem Antlitz. Fast wie im Gefühl begangener Schuld hob es die Augen nur halb zu dem Manne hin und ließ sie dann unsicher durch den gemütlich ausgestatteten Raum gleiten, bis sie endlich einen Ruhepunkt auf der wieder aufgenommenen Arbeit fanden.

Der Förster schien von alledem gar nichts zu bemerken. Er schritt zu der Wand in der Nähe des Kachelofens, wo Waffen und allerlei Jagdwerk an einem hölzernen Pfostenrahmen hingen. Ein ausgestopfter Bussard breitete wie spähend seine weitklafternden Schwingen darüber. In den Fängen lag als Beute eine graue Spitzmaus.

Des Försters Auge mußte wohl zufällig darauf gefallen sein. Denn während er die Patronentasche ob ihres Inhaltes prüfte, zog wieder das stille, siegbewußte Lächeln über sein Gesicht. Wie im Selbstgespräch polterte er stückweise und halblaut für sich hin: »Wenn's die Maus noch so schlau anfängt ... einmal geht's ihr doch an'n Kragen! ... Hahaha! ... Mausefalle – Bussard ... das bleibt sich gleich ... Leben um Leben! ... Hahaha! ... Jahrelang hat er mir 'nen Possen gespielt ... so manche Nase mußt' ich von oben her einstecken ... nun hat's ein End' ... ein End'!«

Er ließ einige Patronen in die Tasche seines graugrünen Jägerrockes gleiten, dann griff er zur Büchse, hakte sie vom Pfosten ab und hing sie über die Schulter.

»So! Und nun wird Abrechnung gehalten! Scharfe Abrechnung!« Er stand vor der jungen Frau und schmunzelte vergnügt. »Was sagst du da, Albert?« »Daß ich Abrechnung heut' halten will! Aber das verstehst du natürlich nicht.« Er faßte sie behutsam am Kinn, als fürchte er gleichsam durch rauhen Druck sie zu verletzen, und hob ihr glühendes Gesicht empor, in das er mit seinen offenen, ehrlichen Augen eine Weile stumm blickte. Unter diesem Blicke wuchs ihre Befangenheit. Sie versuchte das Gesicht ein wenig zu wenden, doch gelang es ihr nicht. Lachend bog er sich ein Stückchen zu ihr nieder.

»Wenn du wüßtest, Theresel!« Das war der Kosename, den er ihr gab, wenn er sich glücklich fühlte. Es schoß ihr heiß zu Herzen bei diesem Tone. Als müsse sie etwas gut machen, als müsse sie Abbitte tun für eine Schuld, die ja nur Gedankensünde bis jetzt geblieben war, die aber immer wieder an ihr Herz herankroch, lauernd, lockend, die ihr diese Nacht, den ganzen Tag heute klares Denken, sichere Hand, die stille Fröhlichkeit eines guten Gewissens geraubt hatte – so kam es plötzlich über sie. Mitleid, Dankbarkeit, Liebe wie zu einem sorgenden Vater stritten in ihr heftig.

Die eine Hand ließ die Stickarbeit fallen und strich jetzt zärtlich über seine Wange und blieb dann an seinem Halse leise hängen.

»Na, was denn, Albert? Was weiß ich denn nicht? Du bist ja ganz aufgeregt.«

»Weil du von jetzt ab sollst einen vernünftigen Ehemann kriegen. Jung kann ich mich leider nicht mehr machen – so gern ich's wohl auch tät'! Damit ist's vorbei! Aber das Ärgern und Schimpfen soll doch jetzt besser werden, nun die Maus in der Falle sitzt.«

»Die Maus?« Sie sah ihn fragend an. Ein gewisses Interesse wuchs in ihr empor.

»Abrechnung wird heut' gehalten, Theresel! Abrechnung!« Es wetterte über sein Gesicht. »Jahrelang hat mich der Malefizhund geärgert und vergrämt; in Sturm und Wetter bin ich ihm nachgeschlichen, hab' mir das Podagra geholt, oben manch langes Gesicht bekommen – alles umsonst. Wenn ich schon glaubte, ich hätt' ihn, war er mir wieder durch die Lappen gesetzt. So ist's Jahr um Jahr gegangen. Ich hätt' ihn so gern übern Haufen geschossen und muß doch immer wieder sagen: 's ist ein Teufelskerl! Er hat seine Hintermänner im Dorfe und niemand schwatzt drum aus. Gestern abend aber habe ich ihm die Falle gestellt. Einen starken Bock hat er niedergeschossen und in die Dickung nahe der Fuchswiese so geschickt – mit wahrer Indianerschlauheit! – zu verstecken gewußt, daß es mir noch jetzt fast wie'n Wunder erscheint, daß ich ihn finden konnte. Na, Pascha hat freilich auch sein Anteil dran! Gelle, Pascha?« Er streichelte das sich klug anschmiegende Tier und fuhr dann fort:

»Jetzt muß ich schleunigst hinauf und im Versteck mich sichern. Der Kerl wird ja heute kommen und vermutlich den Bock auswirken. Da heißt's dingfest machen. Jedenfalls fällt jetzt die Maske. Dann kann ich wieder aufatmen. Dann wird's Ruhe in meinem Revier!«

Er stülpte sich die Mütze auf und griff zum Knotenstocke.

»Adieu, Theres'! Drück den Daumen gegen Abend. Das hilft!« Er lächelte und schüttelte ihr dann die Hand, die heute wie teilnahmslos in der seinen ruhte.

»Na, also adje!« wiederholte er.

»Adje!«

Er wandte sich zur Tür. Die junge Frau sah starr vor sich hin, dann ihm nach. Und mit einem Male sprang sie auf. Die Handarbeit fiel zur Diele. Sie flog auf den Mann zu, der sich lachend noch einmal nach ihr umwandte.

»Albert!« schrie sie auf. Es zitterte eine Flut von Empfindungen durch den Namen. Sie warf ihre Hände um seinen Hals und blickte ihn nur zitternd, schweigend an.

»Na, was denn? Was ist denn? Ich glaube gar .... Unsinn! Unsinn! Adje, Theresel! Auf Wiedersehen! Wir haben noch 'ne Pulle alten Rotspon von unserer Hochzeit unten im Keller ... die hol heute abend 'rauf. So, und nun adje! Sonst komm' ich noch zu spät!«

Er küßte das bebende Weib auf die Stirn und wandte sich dem Ausgang zu.

»Hiergeblieben, Pascha!« rief er dem wedelnden Hunde zu. »Ein andermal!«

Die Tür schloß sich geräuschvoll hinter ihm. Therese war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben. Sie lauschte seinen verhallenden Schritten. Jetzt sprach er zu den Holzhauern ... sie lachen ... der Herr ist heute aufgeräumt ... noch ein paar Schritte ... Die Hoftür knarrt ... dann hört sie nichts mehr von ihm.

Sie blickt wie eine Irre in der Stube mit flackernden Augen und wogender Brust umher. Auch auf die Maus und den Raubvogel fallt ihr Blick. Ein Zittern überläuft ihren Leib.

»Wenn die Sonne sinkt!« murmelte sie. »Wenn die Sonne sinkt!«

Sie schlägt die Hände vors Gesicht und schluchzt krampfhaft auf.

Draußen auf der stillen Straße des Walddorfes liegt blanker Sonnenschein. Er wandert von Haus zu Haus und blickt in die niedrigen Schubfensterchen hinein, hinter denen alt und jung emsig und gebeugt für des Daseins ärmliche Notdurft schaffen. Er klettert die steilen Bergwände in die Höhe und legt sich dort droben wie flutender Goldschimmer über die leis atmenden Wälder, welche bis zum fernen Horizonte alle Bergkuppen als ein grünwogendes Meer badeten. Dort hinauf in den Wald schreitet jetzt der Mann, dem das Herz im Leibe vor Freude klopft, endlich dem Feinde nahe zu kommen, seine Försterehre wieder blank zu waschen. Auch er freut sich des goldenen Sonnentages!

Eine Stunde später verließ auch Therese das Forsthaus. Sie hatte gewartet, bis die Holzhauer auf dem Hofe ihre Arbeit eingestellt hatten. Jetzt stand sie im Hofe still und ihre Augen glitten wie abschiednehmend über das Haus. Sie sah blaß aus und wer ihr näher ins Antlitz geblickt hätte, dem wäre eine gewisse Aufregung wohl nicht entgangen. Etwas Schweres, Peinigendes schien auf ihr zu lasten. Dann schien es plötzlich wieder heiß in ihr aufzuwallen. Ihre Brust hob sich leidenschaftlich, schwer ging der Atem und in den matten Augen glomm verzehrendes Feuer auf. Da drückte sie die Hand aufs Herz und ein verhaltener Seufzer entfloh ihren Lippen.

Aus dem stillen Hofe schritt sie in den anstoßenden Garten. Einige Sommervögel lärmten noch in den Obstbäumen; vom Felde her drang das süße Tirilieren der Lerchen aus der blauen Luft. Sie öffnete eine niedrige Tür im Holzgatter und betrat die Wiese. Von hier aus kletterte ein schwach betretener Pfad über Wiese und mageren Triftboden und verlor sich allmählich droben im Walde. Hier konnte sie unbemerkt von dem Dorfe sich aus dem Hause entfernen. Auch heute war niemand in der Nähe sichtbar.

Ehe sie in den Eichbuschwald eintrat, der sich vor den höher ansteigenden Tannenforst wie ein lichtgrüner Gürtel legte, blieb sie noch einmal stehen. Sie schaute zu dem heimatlichen Dorfe nieder, dessen schieferbeschlagene Dächer und Wände bereits im Schatten des Tales standen; dahinter aber stand über dem dunkeln Waldstreifen, der die schroffen Berghänge krönte, die volle Glutscheibe der Sonne, Büschel zuckender Lichtstrahlen nach allen Seiten sendend. Sie flammten in den blauseligen Himmel hinauf und zitterten abwärts wie Funkensprühen durch die scharfgezackten Tannenwipfel.

Therese blickte schweigend in das rote Feuermeer hinein.

»Die Sonne rückt!« murmelte sie. »Und wenn sie sinkt ...« Sie deckte für ein paar Herzschläge lang die Augen mit der Hand und heimlich Zucken ging ihr über Gesicht und Leib. Als sie die Hand wieder langsam löste, blieb ihr Auge an dem Forsthause hängen. »Allein trage ich nicht die Schuld!« sprach sie leise. »Ich gab, was ich geben konnte ... man hat mich gezwungen und ich hab's ans mich genommen. Und nun ist's doch wieder über mich gekommen! Die Treue hielt ich ihm bis heute ... da ich seinen Namen trug ... aber meine Jugend hat auch noch Blut, und die Jugendliebe könnt' man mir auch nicht aus dem Herzen reißen. Nur einmal noch, nur ein einzig Mal will ich den an meinem Herzen halten, für den ich einst bestimmt war ... dem alles zu eigen war ... meine Liebe ... mein ganzes Denken und Fühlen ... auch heute wieder! – Und ist's eine Sünd', so verzeiht's mir Gott! Eine Sünd' war's ja auch, als ich mich zum Opfer brachte. Da habe ich ihn und ihn belogen... und mich auch. – Nun rächt's sich! – Nun schreit das Blut nach seinem Recht!«

Sie wandte sich langsam um, in den Eichbusch einzutreten.

Da stutzte sie. Jähe Blässe deckte ihr Gesicht. Was war das?

Ganz aus der Ferne rollte deutlich im ersterbenden Echo ein Schuß. Und noch einer! Kaum einen Atemzug später! Einen Atemzug! Großer Gott! Was war geschehen? Das konnte aus der Richtung kommen, wo drinnen in den Bergen die Fuchswiese eingeschlossen lag. Vielleicht aber täuschte sie sich auch! Es gibt Stunden, wo man am hellichten Tage glaubt Gespenster zu sehen. Und heute hatte sie diese Stunden! Das böse Gewissen! Glück hatte sie nicht in dem Forsthause gefunden. Nur ein stilles, fast wunschloses Ausruhen war es gewesen. Wie dichter Nebel hatte es sich seit Jahren zwischen ihr und dem Traume ihrer Jugend niedergesenkt. Erst der Sturm gestern hatte mit einem Schlage den Wolkenvorhang beiseite gepeitscht, und nun sah sie den Freund ihrer Mädchentage lockend vor sich stehen, hörte nur noch seine Stimme ... ein Gefühl unsäglicher Trostlosigkeit war über sie gekommen. Nun war auch der Frieden des Hauses dahin und sie auf dem Wege, die Ehre desselben ... ihre eigene in dem wilden Taumel ihrer Empfindungen hinzuopfern.

Und über den Waldbergen stand noch immer die strahlende Feuerkugel! Groß und feierlich ragten die Höhen in den durchglühten Abendhimmel hinein. Dort oben wohnte der Friede ... da war die Heimat des Glückes.

Des Glückes! Sie faßte sich an die hämmernden Schläfen, sie warf den Kopf auf, als wollte sie eine Last abschütteln, eines besonderen Gedankens sich heftig erwehren, der immer wieder an sie und all ihr brausendes Denken und Fühlen heranschlich. Des Glückes! Vielleicht brach nun auch die Sonne ihres Glückes an! Das war wie ein Stück Wahnsinn! Sie hätte mögen laut aufjubeln und sich dann wieder schluchzend ins Gras niederwerfen.

Konnte ihr Geschick sich nicht bereits erfüllt haben?! Vielleicht hatte eines Wilderers Hand ihn getötet und er war gefallen wie ein Held im Kampfe. Und mit seinem Falle war diejenige befreit, deren armes, gedrücktes Herz in dieser Stunde laut nach Liebe, warmblütiger junger Liebe schrie ... Dann wollte sie ihn beweinen und betrauern, der in ihr Leben zum zweiten Male wohltätig eingegriffen hatte ... der ... sie schauerte zusammen, sie horchte hinauf und hinaus, als müsse es aus dem todstillen Bergwalde droben jetzt wie ein Sturm von Klageliedern hervorbrechen ... Hilferufe ... Menschentritte . Menschengewirr ....

Stumm rang sie die Hände.

Wo hatte ihre Phantasie sie hingeführt?! Konnte nicht auch der andere liegen? Keiner von beiden? Wußte sie denn, wo die Schüsse gefallen waren? Ja, sie sah wirklich Gespenster am lichten Tage! Sie raffte sich innerlich auf, den Aufruhr ihrer Gefühle niederzukämpfen.

Hastig eilte sie den Waldsteig hinan, als wollte sie unsichtbaren Verfolgern entfliehen. Nach und nach aber mäßigte sie ihren Schritt, und als sie endlich oben auf der Waldblöße anlangte, lag wenigstens äußerlich wieder die Ruhe auf ihrem Antlitz.

Sie ließ sich auf der Baumwurzel sacht nieder, auf der sie gestern abend um dieselbe Stunde mit dem Freunde ihrer Jugend gesessen hatte, dessen Bild und Wesen heute ihr ganzes Herz füllte. Weich und warm legte es sich auf ihr Gemüt.

»Könnt' ich doch auswischen, was dazwischen liegt,« murmelte sie leise, »wär' ich doch arm geblieben, wie ich war. Die Welt sollte mich neiden um meines Reichtums willen!«

Sie hob die Augen auf. Im sachten Wehen ging es wie ein halblaut Gebet durch das Wipfelmeer der Waldberge. In ihren bläulichen Umrissen zeichneten sie sich wie scharf hingebeizt von dem Horizonte ab, über den noch ein letztes Glühen und Flimmern ging. Der feine Abendgruß der Erde umwitterte die Einsame.

»Wenn die Sonne sinkt!« flüsterte sie, während es leicht in ihren Augen aufschimmerte. »Dann kommt er ... dann will ich noch einmal vergessen, was sich auf mein Leben gelegt hat .... nur noch einmal ... heute! ... Damit auch ich sagen und davon träumen kann: ich habe das Glück für eine einzige Stunde in meinem Arm gehalten.«

Dann auf einmal schnellte sie auf.

»Bartels!« rief sie jubelnd. »Er kommt ... er kommt!«

Aus dem Tannengewirr ihr gegenüber arbeitete es sich jetzt empor. Dann tauchte der Kopf des Burschen auf. »Bartels!« schrie sie noch einmal auf. Im nächsten Augenblicke hing sie zitternd, selig an seinem Hals.

»Du siehst, ich halte Wort! Denk was du willst von mir! Ich kann nicht anders, es geht nicht mehr, Bartels! Freust dich nicht, daß ich da bin – so lache doch! ... Oder möchtest auch bald weinen wie ich, daß ich dich noch einmal halten darf, noch einmal lieb haben darf ... weil ich dich immer lieb gehabt habe ... immer... wenn du's auch nicht hast gemerkt, nicht hast mehr glauben können!« Sie barg aufschluchzend ihr Haupt an seine Brust. »Nur heute noch einmal ... dann will ich alles vergessen ... unsere Jugend ... dich, mein Bartels ... mich ... , dann mag mir Gott verzeihn, wenn ich mich einmal vergaß um unserer Liebe willen, die heiliger ist, als ... küsse mich ... halte mich ... Nicht wahr, nun glaubst du's, daß ich dich lieb habe ... nun mußt du's glauben!«

Jubel und Schmerz, Scham und Liebe zitterten durch die Stimme des jungen Weibes.

»Theres'!« Es klang fast wie ein Hilferuf.

»Ja, ja, mein Bartels! Ich weiß, daß du mich lieb hast! Nun müssen wir beide darum leiden!«

Sie nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände und zog sanft sein Gesicht an das ihre. So schauten sich beide eine Weile an. Ihr Atem mischte sich. Seele tauchte tief in Seele. Dann ging ein glückselig Lächeln wie Sonnenleuchten über ihr schönes Angesicht.

»Weißt du noch, Bartels? Damals... als du mir den Ehrenpreis hoch, von dem Maienbaum herunterholtest ... damals« – sie lachte heimlich still auf – »da wär' ich dir am liebsten um den Hals gefallen und hätte dich geküßt. Aber es ging ja nicht vor allen Leuten, und ich wüßt' auch nicht, ob du dir was draus gemacht hättest,« Wieder dieses selbstvergessene, glückliche Lachen! – »Heute, Bartels, heut' weiß ich's anders ... heut' will ich's nachholen ... den Dank von damals ... damit ich die Schuld los werde!«

Sie schmiegte sich fest an ihn und preßte Mund auf Mund.

Endlich gab sie ihn frei. Aber ihre Arme blieben leicht um seinen Hals geschlungen. Sie blickte hinüber zum Waldgebirge, und dann huschte mit einem Male ein Schatten über ihre glücklichen Züge.

»Wenn die Sonne sinkt!« murmelte sie.

Da war es, als würde der Bursch wie ans einem Zauberbann befreit. Blässe überzog sein Gesicht, die Augen sanken wie erloschen zurück, ein Krampf schien seine Brust zu überfallen und den Hals hinaufzusteigen. Er wollte reden und vermochte es doch nicht. Zitternd ergriff er ihre beiden Hände, die noch immer auf seinen Schultern ruhten, und löste sie dort los.

Seine Augen gingen wie scheu an ihr vorüber, dorthin, wo man die Dächer des Dorfes lauschig gebettet sah, und die helle, mit Ebereschen bepflanzte Straße, die zum Walde emporführte. Und auf einmal schienen sich diese Augen schreckhaft zu dehnen, ein verzweifelt-furchtbarer Ausdruck trat in ihnen hervor ... es war, als wollte er die Geliebte weit von sich stoßen ... die eine Hand hob sich wie mechanisch in der Richtung nach der Waldstraße ... und dann brach sich ein erschütternder Schrei aus seinem Munde Bahn.

Therese war in gesteigerter Angst seinem Blicke gefolgt. Auf der Straße sah man langsam einen kleinen Trupp Männer hinab zum Dorfe steigen. Schwere Last ruhte auf leicht zusammengestellter Bahre. Edelwild!

Wie ein Blitz der Erkenntnis schlug es flammend in ihre Seele ein. Ein grauenvoller Blick streifte den Mann vor ihr, dann brach sie, von seinen Armen aufgefangen, stumm zusammen. –

Bartels trug die liebe Gestalt die wenigen Schritte bis unter den Baum. Dort ließ er sie sacht auf das Moospolster niedergleiten. Sie noch immer haltend, kniete er vor ihr nieder, angstvoll seine Blicke auf ihr blaß gewordenes Antlitz heftend. Dann barg er seinen Kopf in ihrem Schoß und schluchzte leise, sie immer wieder mit Namen liebkosend, hilfeflehend rufen.

Nach einigen Minuten kehrte das Leben wieder in ihre Gestalt zurück. Er fühlte, wie sie begann sich leise zu regen. Mit tränenfeuchten Augen schaute er ihr ins Gesicht. Nun schlug sie die Wimpern langsam in die Höhe. Als sie den vor ihr Niedergesunkenen erblickte, brach ein warmer Strom von Liebe aus ihren Augen.

»Bartels! Mein lieber, guter Bartels!«

»Theres'!«

Liebkosend strich ihre Hand statt aller Antwort über sein volles, dunkles Haar. Dann aber schien ihr erst wieder Erkenntnis, volles Bewußtsein zurückzukehren. Schrecken und Schauder malten sich in ihren Augen. Vor diesem bannenden Blicke wich er wie betäubt zurück.

Die Hände ineinandergerungen, den Kopf gebeugt, klang es jammervoll von seinen Lippen:

»Theres! Hab Erbarmen, hab Erbarmen! Ich möcht' der Stunde fluchen, da ich geboren ward ... aber du – du sollst es nicht. Zum Unglück bin ich auf die Welt gekommen ... Unglück zu bringen ... Unglück zu leiden. Nun ist's zu spät. An dich glaubt' ich einst wie an einen Stern. Du leuchtetest mir voran, bis die schreckliche Stunde kam, da dein Licht für mich erlosch. Und nun ich mich noch einmal daran erfreuen wollte, da wir beide wollten schuldig werden ... da hat der Himmel gesprochen, da mußte ich noch eine größere Schuld auf mich nehmen, um dich frei zu lösen, dich vor dir selbst zu retten!

Nicht diesen Blick, Theres, nicht diesen Blick... als wolltest du sagen: ›Blut klebt an dir! Rühr mich nicht an!‹ Ich weiß es, ein höherer Richter hat entschieden. Wir sollen uns nicht freuen! Unsere Liebe war nach menschlichen Satzungen eine Schuld, ein Verbrechen. Was fragen die Menschen, ob ein Herz älteren Anteil an einem anderen hat? So ist's denn gekommen, Schlag auf Schlag!

Aber wie ich jetzt vor dir liege, verabscheut, verachtet und gerichtet: allein, ich allein trage nicht die Schuld! Als er dich zwang, ihm in sein Haus zu folgen, als er nicht danach fragte, ›liebt dieses junge Herz nicht einen anderen?‹ – siehst du, da nahm er die erste Schuld auf sich, der dein Vater sein konnte, nicht aber dein Geliebter, der genau fühlte, daß nur Dankbarkeit dich an ihn fesselte. Du aber nahmst den andern Teil Schuld auf dich, da du ihn, mich, dein eigenes Herz belogst und betrogst. Ich aber bin schlecht geworden. Ich hätt' ihm können den Hals zudrücken, der dich in den Armen halten durfte, dich, die vor Gott und unseren Herzen mir allein gehörte. Ja, schlecht, schlecht! Und da ich nicht durfte, wie ich am liebsten getan, so hab' ich ihm wenigstens das Leben sauer gemacht, verbittert, aufgestört. Keine Ruh' sollt' er mehr haben all die Jahre lang. Jeder Schuß im Forste ging ihm durchs Herz. Das wußte ich. Mir lag nichts am Gewinn, nur an der Rache! Die aber genoß ich in satten Zügen. Er war pfiffig, ich noch schlauer. Du nahmst mir mein Weib, ich dir deine Jägerehre. Aug' um Auge, Zahn um Zahn!« Die Stimme Bartels sank jetzt zum Flüstern herab.

»In der Nähe der Fuchswiese streckte ich gestern gegen abend einen Rehbock. Um die Stunde, da wir hier Wiedersehen feierten, hat er ihn aufgespürt, zum ersten Male meine Spur entdeckt. Vor einer halben Stunde stand er plötzlich vor mir. Kaum zwanzig Schritte trennten uns voneinander. Triumph lag auf seinem Gesicht. Ich aber ... fürchtete mich. Um deinetwillen, Theres'! Droben wartet sein Weib, hier gilt's Mann gegen Mann. Ich hätt' mich ja können ergeben ... aber ein Wilderer hat auch seine Ehre. Ich sprang auf. Am nahen Baumstamm lehnte meine Büchse. Ich ergriff sie nicht. Ich dachte nur immer an dich, an dich, Theres'! ›Hab' ich dich endlich!‹ höhnte er. ›Gib dich freiwillig mir!‹ Nein, rief ich! Aber ich will Euch einen Vorschlag machen. An Eidesstatt verspreche ich Euch, es soll heute mein letztes Mal gewesen sein. Von heut' an sollt' Ihr Ruhe vor mir haben!

Er lachte laut auf. ›Noch einmal!‹ rief er. ›Willst du dich ergeben?‹ Nicht um meinetwillen bitt' ich Euch, entgegnete ich, um Eures Glückes willen, um – einer – aber ich bracht' den Namen nicht heraus. Er hat nicht erfahren, daß das Herz seines Weibes an einem anderen hing. Er hatte seine Büchse ergriffen und hob sie an. Im nächsten Augenblicke lag auch die meinige an der Backe. Um Euretwillen... hört mich ... gebt mich frei... glaubt mir's, ich mein's in dieser Stunde ehrlich ... wir wollen Blut schonen ... seid vernünftig! Er aber rief: ›Die Büchse herunter!‹ – Nein! ›Eins ... zwei ... drei!‹ Er schoß zuerst, ich kurz hinterher. Als der Dampf sich verzogen, lag er am Boden. Lautlos, schmerzlos war er gefallen. Mitten ins Herz hatte die Kugel getroffen... wie er mich einst mitten ins Herz getroffen hatte.« Bartels schwieg ein paar Augenblicke. Dann fuhr er düster fort.

»Gott hat entschieden, Theres'. Wir sollen uns auf dieser Welt nicht lieben. Einst bannte uns der Lebende, jetzt steht bis an unser Lebensende der Tote dazwischen.« Er schlug die Hände vors Gesicht und verharrte so in Schweigen.

Langsam hatte sich die junge Frau erhoben. Etwas Starres, Feierliches lag auf ihrem todblassen Angesicht.

»Ja, der Tote!« sprach sie halb wie für sich, halb zu Bartels gewandt, der vor dem Ausdruck ihrer Züge scheu zurücktrat. »Sein Schatten wird nimmer zwischen uns weichen, und wollten wir über alle Meere in fernste Länder fliehen. Wir sollten uns nicht lieben. Gott hat's gewollt! Aber recht hast du in einem: Wir tragen alle Schuld! Und daß du nun das Schwerste auf dich nehmen mußt, das wird mich peinigen und verfolgen bis in meine eigene Todesstunde.«

Das eine weiß ich, Bartels: wir müssen beide weiterleben: du und ich! Wir müssen sühnen, ausgleichen! Was geschehen, wissen nur wir allein. Der Tote nahm das Geheimnis mit sich. Höre mich und folge mir! Du mußt's mir versprechen, daß du's tust. Geh hinunter und nimm das Nötigste zusammen. Durch einen Boten lasse ich dir ein Stück Weggeld heute abend noch zugehen. Heute abend noch verläßt du das Dorf. Keiner ahnt, wer den Schuß getan. Morgen fährst du nach Hamburg und mit dem nächsten Schiffe hinüber, dir drüben eine neue Heimat zu gründen. Dies mir zu versprechen, ist die einzige Bedingung, die ich stelle. Und hast du nach Jahr und Tag dir festen Boden erkämpft ... dann ... dann ein paar Zeilen, daß ich's weiß, daß ich auch drüben meine Ruhe find'. Du wirst alles so tun, Bartels. Du mußt es tun! So! Und nun geh hin! Vielleicht gelingt's uns beiden, doch noch einen Schein von Glück einmal zu erhaschen.« Sie wandte sich um, ihre heftige Bewegung zu verbergen.

Zweifelnd, zögernd hielt Bartels noch immer auf seinem Platze. Dann sagte er leise:

»Leb wohl, Theres'! ... Und tausend Dank!«

Sein Blick umfaßte noch einmal ihre liebe Gestalt, dann wandte er sich langsam zum Gehen.

»Bartels!« Wie der Hilferuf eines Ertrinkenden schlug es an sein Ohr. Im nächsten Augenblicke sah er ihr bebendes Gesicht dicht an dem seinigen. Noch einmal fühlte er ihren blühenden Leib, die weichen Arme, den warmen Atem, noch einmal, zum letzten Male, preßte sich in langem, wehevollem Kusse ihr Mund auf seine Lippen. Dann noch ein heftiges: »So – so! Und nun geh! geh! ... Ich will für dich beten ... werde glücklich ... leb wohl!« Sie winkte mit der Hand und hieß ihn gehen.

Die Tannenzweige schlugen hinter ihm zusammen.

Einsam blieb droben die junge Frau zurück. Schmerzvoll gingen die Augen hinüber zum Gebirge, hinter dessen Bergwellen die Sonne längst nieder war.

»Wenn die Sonne sinkt!« kam es halblaut von ihren Lippen. »Nimmer wird sie meinem Leben wieder aufgehen!«


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