Wenn die Sonne sinkt
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Am Brunnen.

Weich und voll des Duftes, den Wald und Garten und Wiesen durcheinander weben, streicht heute die Luft von den Bergen nieder in das offene Land. Freudeheischende, sinnbetörende echte Pfingstluft! Wie gesättigt von Schönheit, Blütenpracht und Liedern! Pfingstzauber! Der scheint auch über das blonde Mädchen gekommen zu sein, das da am Fenster eines Gartenhauses sitzt, wechselnd die hellen Augen auf ein Buch gesenkt und dann wieder hinaus über die Baumwipfel zu der auf dem Horizont leicht blauen Wellenlinie eines fernen Bergzuges.

Durch das Haus zieht ein lockender Geruch von frischem Kuchen und Birkenreis. Der Mutter Hantieren in der Küche und dem Flur hallt zuweilen herauf. Im Garten steht der Vater und bastelt an einem hohen Rosenstock herum. Dazwischen klingt das Zirpen und Singen der Vögel aus den Garten, Kinderlachen tönt von der Gasse – der Zauber des Pfingstheiligabends geht durch die Welt!

Und er rührt auch an das Herz der blonden, lieben Gestalt am Fenster. Als käme eine unsichtbare Macht und hebe ihr das flechtenumwundene Köpfchen empor, lenkte ihre Augen ab von dem Buche, hinaus in die grüne, duftende Welt, die heute nur von Liebe, von beseligendem Glücke zu predigen scheint. Und das Buch sinkt in den Schoß zurück. Die Gedanken kommen und gehen. Immer weiter zurück. Ein helles Zwitschern macht sie für einen Herzschlag aufsehen. Aus dem Neste im Winkel des braungetönten Tragbalkens unter dem Giebeldache hat sich soeben das eine Rotkehlchen aufgeschwungen und schwebt nun in die goldene Abendluft hinein. Und zugleich hallt jetzt über die Gärten fort ein Jubel von hellen Kinderstimmen. Er kommt aus jenem Gassenwinkel, wo so ein paar stille Wege zusammenstoßen und der alte Laufbrunnen wie verträumt in das halb bemooste Steinbecken niederrieselt. Auf der Bank dicht dabei da war einst ihr Lieblingssitz, damals, als sie selbst noch ein Kind mit langen Zöpfen war, die es mit jedem Jungen im Laufen und Springen aufnahm, mit jedem – vor allem mit dem Volkmar Dietsch, ihrem besten Spielkameraden. Der hatte die Lene Winter wohl auch gern, denn so manchmal sonderte er sich von den anderen Jungen ab, um mit ihr allein durch Wiesen und Gärten zu toben, ihr im Herbste die saftigen Birnen über den Zaun aus fremden Gärten zu holen, die sie dann aber beide christlich teilten, nachdem sie überein gekommen waren, daß es zwar ein Unrecht sei, daß aber solch ein kühn erbeutetes Obst weit besser noch munde, denn alles ehrbar erhaltene.

Wieder hallt über die Gärten das klingende Lachen, der brausende Jubel! Richtig! Jetzt kehrten ja die Jungen mit den frischen Lärchenbäumen aus dem Walde heim, die pfingstliche Brunnenschmückung vorzunehmen. Das war uralter Thüringer Brauch, noch aus Heidenzeit her, alle öffentlichen Brunnen zum Feste gar lieblich herzurichten.

Den Jungen fiel die Aufgabe zu, die frischen Bäume sich von dem Forstwart im Walde anweisen zu lassen und diese dann auf niedrigem Wagen aus dem Walde herbeizuschaffen. Die Mädel hingegen mußten Girlanden winden, Ketten aus bemalten, ausgeblasenen Eiern herstellen, hübsche Verse auf das Fest auf Papier fein säuberlich malen und solche dann in einem Kranz befestigen. So wohl ausgerüstet erwartete man gegen Abend am Brunnen den Zug aus dem Walde, der nun mit Hurra und Jubel empfangen wurde. Wie strahlten da die Augen! Wie röteten sich die Wangen! Heiliges Vorfeiern des Festes! Fast noch schöner denn das Fest selbst! Und nun schallte wieder gleicher Jubel herüber von dem alten, lieben Brunnen, mit dem für sie so viele Erinnerungen verknüpft waren. Das blonde Mädel am Fenster fiel in Sinnen.

Am Brunnen! Da hatte es eigentlich zuerst angefangen. Sie war ein zehnjähriges Mädchen gewesen, er an drei Jahre älter. Damals, es war just auch am Pfingstheiligabend, da hatte sie beim Einsetzen der Lärchen am Brunnen tapfer mit Hand angelegt, dafür hatte er ihr geholfen, die Girlanden und Kränze zu befestigen. Die Jugend schlägt rasch ohne viele Worte Brücken von Herz zu Herz. So war es auch hier gewesen. Von jenem Abend an trafen sie gar oft zusammen, wenn daheim die Schulpflichten erledigt waren. Das ist mal wieder so ein Paar, sagten die Leute, was der eine nicht weiß, das weiß der andere! So ging die Rede. Doch sie klang nicht unfreundlich, vielmehr schlich sich fast stets etwas wie geheime Freude mit hinein.

Einmal am Pfingstfeste war die Lene mit zur Pfingstbraut erwählt worden. Im hellen Kleide, auf dem blonden Haar so stolz ihren Kranz von frischem Birkenlaub! So zog sie nach alter Sitte vor einer Reihe von Häusern draußen in der Vorstadt herum. Vor jedem Hause bildeten die Brautjungfern einen Kreis um sie, singend drehte man sich im Reigen, worauf der Dank der Hausbewohner sich in irgend einer hübschen Form bekundete. Auch vor das weinumsponnene Haus, in dem die Eltern Volkmars wohnten, hatten die Gespielinnen die Pfingstbraut geführt. Da war ihnen ein reicher Lohn zuteil geworden. Es war das letzte Haus gewesen. Nun ging man nach Hause. Die Lene in Gedanken, Warum hatte er sich denn nicht blicken lassen. Gerade heute nicht? Sie hatte sich im stillen darauf gefreut, daß er seine tolle Spielkameradin einmal so sittsam sehen sollte. Der dumme Junge!

Aber als sie an jenem Festabend zwischen den Gärten noch ein Weilchen hinstrich, fühlte sie sich plötzlich von hinten angefaßt. Aus der Hecke war Volkmar herausgesprungen. Er sah ordentlich rot und verlegen aus, da er sie anredete.

»'n Abend, Lene!« Und dann suchte er ihr ein kleines Päckchen in die Hand zu drücken. »So nimm doch!« fuhr er hastig fort. »Es ist doch für dich!«

Mit etwas erstaunten Äugen sah sie ihn an, er blickte jetzt noch verlegener an ihr vorüber. Dann hatte sie das Päckchen enthüllt. Ein Paar Stückchen Schokolade waren darin.

»Willst du mir das schenken?«

Er wurde puterrot.

»Ja! Willst du's nicht haben? Ich wollte dir eine Freude machen!«

»Schönen Dank!« Mit Vergnügen hatte sie bereits das eine Stück in Angriff genommen. »Hm! Die ist gut! Ausgezeichnet! Aber wie kommst du denn dazu?«

Da hob er den Blick zu ihr empor. Eine neue Blutwelle schoß über sein Gesicht, da er endlich halblaut sagte:

»Weil du ... weil du heute so hübsch aussahst! Darum!«

»Hast du mich denn gesehen?«

»Ich stand hinter der Gardine! Du warst die Schönste von allen!«

Und als schämte er sich dieses Eingeständnisses, schoß er plötzlich von dannen. Seit jenem Pfingstabend wußte die Lene, daß der Volkmar ihr etwas wert sei.

So gingen die Jahre hin. Beide waren aus der Schule gekommen. Sie trug lange Kleider, er hatte in Süddeutschland eine Hochschule aufgesucht. Er wollte Jurist werden, hatte er ihr damals beim Abschied gesagt. Ab und zu flatterte mal ein lustiger Kartengruß von ihm in ihr Haus. Ganz unverfänglich in Worten, wie ein Kamerad dem andern schreibt. Aber sie konnte im Geheimen sich doch nicht verhehlen, daß sie sich nach diesen Lebenszeichen zuweilen recht lebhaft sehnte.

Da hatte er eines Tages wieder vor ihr gestanden, als er in den Ferien den Eltern einen Besuch abstattete. Wie hoch gewachsen, wie gebräunt er aussah! Und wie prächtig ihm der Schmiß auf der einen Wange doch stand! Und einen Blick hatte er jetzt, der – sie mußte es sich heimlich eingestehen – ihr das Blut höher in Wallung versetzt hatte.

In diesen Ferien war es gewesen, da hatten beide in Gesellschaft einiger Familien einen weiteren Ausflug ins Gebirge unternommen. Man hatte gesungen und gescherzt, in der Wirtschaft droben im Walde ein paar Stunden flott getanzt, und als der Mond über den Bergen emporstieg, da war man wieder unter Singen hinabgezogen. Es war wohl nur Zufall, daß Lene und Volkmar die letzten blieben. Der Pfad tauchte just in ein wildes, enges Tal, über dessen Felsschroffen der Mondglanz nur drüber hinhuschte ohne die Tiefe zu berühren, da bot er ihr seinen Arm. Und sie nahm ihn ruhig und beglückt.

Es war so lustig, ihm zuzuhören! So drollig und übermütig erzählte er von seinen tollen Studentenstreichen. Gar nicht mehr schüchtern wie einst, fast ein wenig herausfordernd in Worten und Blicken. Vielleicht war das so Studentenart. Aber da kam ein Augenblick, daß sie sich doch nicht enthalten konnte, ihm zu entgegnen:

»Du bist doch anders geworden, Volkmar!«

»Wenn man erst in die Welt kommt, dann ändert man auch seine Ansichten etwas.«

»Und da meint ihr, ihr werdet nur die Sieger auf der Welt? Ihr braucht nur so gnädig zu winken, und die armen Mädchen, die gehen wie die hungrigen Fliegen auf den Leim? Da kennst du sie doch schlecht! Das mag in eurer Studentenstadt vielleicht üblich sein – wer noch ein wenig auf sich hält, der weiß, was er zu tun hat.«

»Weißt du nicht, was Uhland einmal singt: ›Ihr armen Mädchen dauert mich!‹ Siehst du, Lene, kein Mädchen ist im Grunde ihres Herzens böse, wenn der Mann einmal Mut zeigt. Das mag wohl ein Naturgesetz sein!« Er lachte sie an, und zum ersten Male tat ihr sein Lachen weh.

»Was du da sagst, ist Unsinn! Du denkst eben schlecht von den Mädchen, weil du wahrscheinlich als Student keine besseren kennen gelernt hast!« Sie sah ganz zornig aus.

»Wie hübsch du aussiehst, wenn du böse sein willst!«

»Schäme dich!« stieß sie empört hervor, und ihre Augen blitzten zornig.

Darüber hatte er sie bereits umschlungen. Er bog ihren Kopf leicht zurück und preßte für einen Herzschlag lang seine Lippen auf die ihren.

»Und du bist mir doch gut!« jubelte er.

»Niemals!« rief sie. »Niemals!« Sie entwand sich seiner Umarmung und stürmte den Vorangegangenen nach.

An diesem Abend waren sie wie Fremde auseinander gegangen. Keine Karte hatte sie je wieder aufgesucht. Auch in die Heimat war Volkmar nicht wieder gekommen. Um Neujahr herum erfuhr sie durch die Eltern, daß er sein Examen als Referendar gut bestanden habe. Dann war alles wieder still. Und nun mußte dieser Pfingstheiligabend die alten Erinnerungen wieder heraufbeschwören!

Sie hatte sich vom Fenster erhoben. Mit durstigen Zügen sog sie die weiche, würzige Luft ein. Drüben die blauen Berge – wer da hinüber könnte! Die Sehnsucht, die Sehnsucht! Sie wußte um diese Stunde selbst nicht recht, nach was, wohin, sie fühlte nur unter leichtem Erschauern, daß es ihr plötzlich so eng, so bang ums Herz geworden; als müsse sie hinaus, als warte irgend was auf sie. Drüben zwischen den Gärten war es stiller geworden. Die Brunnenschmückung war gewiß bereits vorüber.

Nun war sie im Garten unten. Der Vater hatte seinen Gang zum Abendschoppen wohl schon angetreten. Nirgends zeigte sich jemand. Lene trat aus einem Seitenpförtchen in die schmale Gasse, welche zwischen Hecken zu dem alten Brunnen leitete.

Nun hielt sie vor dem Brunnen. Wie fröhlich er ihr entgegenlachte, als wollte er ihr sagen: »Gedenkst du noch der Tage, da du selbst mich schmücktest? Komm, setz dich her zu mir, wir wollen plaudern von alten Tagen!«

Und Lene ließ sich auf der Steinbank neben dem Brunnen nieder. Ein paar kleine Mädchen waren noch hier. Von den übrig gebliebenen Girlanden hatten sie sich ein jedes ein Kränzchen aufgesetzt. Ein Stück des grünen Gewindes hielt das eine noch in den Händchen und schaute mit kindlich bittenden Blicken Lene an. Endlich fand es den Mut:

»Darf ich dir den Kranz aufsetzen,« fragte es leise. »Du siehst so hübsch aus! Bitte, bitte!« und Lene wehrte sich nicht lange, sondern ließ es still geschehen. Nach einer Weile entfernten sich die Kinder. Seltsam bewegt blieb Lene allein zurück. Wie heimliches Träumen war es über sie gekommen. Sie vernahm das Zwitschern der Schwalben in der Luft und merkte gar nicht, wie der Abend sich immer tiefer auf das Land senkte. Wie ein Gang ins Jugendland war es ihr geworden. Den Blick gesenkt, saß sie da. Da fuhr sie empor. Traum? Wahrheit? Eine Stimme schlug an ihr Ohr – eine Stimme, die sie einmal verletzt hatte, und nach der sie sich doch so sehr zurückgesehnt hatte.

»Lene! Lene!« Bebend erklang es wie Bitte, Flehen um Vergeben, wie heimlicher Jubel.

»Du hier, Volkmar?«

»Ja, weil ich dich suchte, weil ich dich all die Zeit gesucht habe, seit damals, da ich im tollen Übermut dir so weh tat, weil ich wußte, daß ich dich heute hier finden würde. Und nun versinken lange Jahre wieder zurück! Wieder sehe ich eine geschmückte Pfingstbraut vor mir, wie damals: meinem Herzen die Schönste, Teuerste, Liebste, und heute komme ich und will dich fragen, ob die Jugendgenossin, die Pfingstbraut von damals meine Braut werden will, damit ich wieder gut machen kann, was ich ihr Böses antat. Lene, liebe, liebe Lene, sage ja! Am Brunnen fing es einst an – am Brunnen soll es sich auch für immer entscheiden!«

Leise strich der Abendwind durch das Gewinde in den buntgeschmückten Lärchen, leise rieselte der Brunnen in das grünbemooste Becken nieder, neben dem zwei Menschenkinder Hand in Hand saßen, bereit, nie wieder eins vom andern zu lassen.


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