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InitialDer Feldkönig, der ein geheimes Extrasträußchen Fräulein Judiths am Herzen trug, merkte es nicht, daß Heinz Heide sonderbar verstört war. Er dachte Tag und Nacht nur eines: nun ist alles gewiß!

Und so kam er einmal aus lauem Abend ins Haus und ließ endlich die große Glocke in seiner Brust zu Heinz Heide hin läuten.

»Jetzt ist die Zeit für die Liebe,« prophetete er.

Heinz Heide ging im Saal umher wie ein Löwe im Käfig. Ein Hund kläfft mich an, dachte er.

Der Feldkönig aber nahm dies starke Schweigen für Stimmung.

»Sieh,« begann er, »an die Liebe habe ich nie gedacht! Ich sah die Verliebten und die Hochzeiter und habe ihre Liebeslieder gehört, – was ist das für dich? sagte ich!«

»Es erschoß sich einer; aus unglücklicher Liebe, sagten die Leute. Aber ich sagte: da ist Gott und da sind die Geheimnisse der Welt, ein jeder könnte darin sein Leben finden. Wie ist es denkbar, daß ein Mann Gott und die Welt in einem Weibe besitzen und verlieren mag?«

Heinz Heide setzte sich ins Dunkel.

»Zornig wurde ich. Die Liebe ist eine Seuche, sie macht sie zu Tieren und raubt ihnen den Verstand! Denn ich sah wohl, da war etwas in der Weltgeschichte, was niemals genannt wird. Kriege entstehen, Throne fallen, Rassen stürzen los gegeneinander; geheime Kräfte wechseln sich aus, heißt es in der Historie. Aber wer näher zusieht, staunt plötzlich: Ein Weib, ein einziges Weib hat das verursacht!«

»Es ist nicht übertrieben zu sagen: Alles, was geschieht, geschieht aus dem Grunde: ein Mensch sucht seinen Menschen. Er will ihm eine Rose schenken, – unheimlich verwandelt sich das: König will er werden für ihn.«

Das Feuer im Feldkönig sank; ein lichter Glanz kam auf sein Gesicht.

»Auch dich sah ich einmal, Heinz Heide –«

Dem gab es einen Ruck. Aber er hielt stille.

»Es brachte mich zum Denken,« rückte der Feldkönig mit seinem Stuhl näher. »Und wenn ich auch nichts verstand von der Liebe und in jedem Weibe den Engel Gottes sah, – ja, ich betete für Euer Glück! – aber – sie war es nicht!«

Heinz Heide klammerte die Hand wie Eisen um die Lehne. Er schloß die Augen wie unter einer Eisenfaust.

»Wir haben unsere Sünden, Heinz Heide,« setzte der Feldkönig mutig fort.

»Die Einsamen am meisten! Voller Hochmut sind wir, – jawohl, das sind wir! Aller Sünden Vater ist dieser Hochmut. Wir lästern Gott und richten die Menschen; wir faulenzen in unseren einsamen Hirngespinsten, – wehe, wenn einer hineintritt!«

»Oder sind wir rein? – Von einem Weibe halten wir uns fern, und schwelgen in der Begier nach allen andern. – Oder sind wir gerecht? Lachen wir nicht über die Einfachen und über die Tugendsamen? Sagen wir nicht: die Tugend ist langweilig, sie ist ohne Erfahrung? Des Lebens Feindin ist sie, sagen wir, die Schwester der Dummheit!«

Wie lockende Wärme rückte er noch näher, »Und alle Märchen und Gleichnisse und Geschehnisse decken diese Sünden der Einsamen auf! Heinz Heide, die Religionen, die Kämpfe der Genialen und die Völkergeburten reden von diesen Sünden und von der Erlösung! Wenn du in die Welt hinausgehst, es schreien dir Tausende entgegen: erlöse uns! Sie knirschen, sie taumeln von der Dirne zur Bachantin, der Unnatur fallen sie in die Arme, wenn du sie sezieren könntest am Geiste, du fändest die getötete Sehnsucht nach der reinen, unschuldigen Seele in ihnen, nach der Seele, die nur von ferne sich zeigt und schon aus der Ferne die Sünden tilgt.«

Feuer wurde auf seinem Gesichte.

»Oder hast du nie, – oft ist es in einer Nacht, wenn der Regen vor dem Frühling niedergeht, oder an einem himmelblauen Tage, wenn alles perlmuttersilbern ist vor Sehnsucht, – hast du nie gedacht, nun tritt eine Jungfrau aus dem Walde, ihr steht die Unbeflecktheit auf der Stirn, – und du stehst, sündebeladen, vor dem Walde und rufst: erlöse mich, komme! Erlö –«

»Gragg!« machte die Lehne an Heinz Heides Stuhl. Sie flog auf den Boden.

»Ha!« sprang er davon, »ich war eingeschlafen. Gute Nacht!« –

Aber das gab Nächte voll Streit. Da lag er schlaflos und bewies allen Frauen, die er geliebt hatte, in brutaler Rede, die Liebe sei Lüge. »Reißt euch das Fleisch vom Leibe, – wer liebt ein Gerippe?«

»Nennt eure Gefühle in Münze!« forderte er sie auf.

Und kämpfte dann einen schweren Kampf gegen ein Mädchen, das ihm im Traum erschien. Und unterlag.

Aber auch der Tag war voll Streit. Denn seit einer Woche durchzog ein Singender den Freyggerberg, und von Tag zu Tag wurden seine Liebeslieder kecker und werbender. Je öfter er Heinz Heide mit dem Eschentorfräulein im Walde ertappte, sorgsam gedeckt von einem Fichtenstamm, umso reicher wurde seine Brust, wie eine Nachtigall sang sie alle Lieder ihres deutschen Volkes in den Berg.

»Wer singt, wer singt?« stürzte Heinz Heide auf den Feldkönig zu. Das sei nicht auszuhalten!

»Er hat sieben Jahre nimmer gesungen!« verteidigte der Feldkönig; er erkannte den Sänger.

Aber Lorelock wurde ungeduldig. »Die Lieder nützen nichts! Ich will ihm auf den Busch klopfen.«

So kam er eines Tages in das Heidehaus, schweißtriefend von ängstlicher Hoffnung. Er redete zuerst von der Jagd und vom Beruf. Dann stand er vom Rohrstuhl auf und sah sich um: was für ein großer Saal! staunte er. Er ging durchs ganze Haus, »mit Verlaub,« und drehte sich um: »was für ein großes Haus!«

»Ich lebe in einer Hütte,« sagte er. »Aber, man sollte es nicht denken, auch in einer Hütte gibt es tausendfältige Arbeit, von früh bis spät. Da geht die Susanne herum, immer eilig. Was gibt's da zu tun? frage ich dumm. Oh, allerorten! Ein Weib hat da einen festen Platz.«

Er wischte sich den Schweiß.

»Und dann, – ich komme heim, es trippelt etwas auf der Stiege, – eine Pfeife hängt vorbereitet am Nagel –«

Wie schwierig! Wie schwierig!

»Und überhaupt! Donnerwetter, – schon vom natürlichen Standpunkt aus: in ein Haus gehört ein Weib!« – – –

Heinz Heide fluchte innerlich: Kuppler, Emissär! Er unterbrach ihn kaltblütig: »Wie steht es eigentlich mit der Geschichte vom Lehrer und dem Mädchen von Wildeiche? Er hatte eine Braut?«

»Jawohl, jawohl,« lallte Lorelock bestürzt.

»Die starb dann?«

»Jawohl, jawohl. Die starb dann.«

Mehr war nicht herauszubringen. Keiner erreichte, was er wollte. So ging Heinz Heide, dem die Sache nicht aus dem Kopf wollte, den Feldkönig an. Und dieser, fein überleitend, sagte, an der ganzen Geschichte sei nur das eine traurig: der Lehrer wollte seinen Hausstand gründen. Sind etwa der Mädchen soviele, die zu einem werktätigen Mann passen? Der Mann muß die Augen aufmachen, sie sind rar! Und wenn er das Glück hat, eines zu entdecken, – »und das war eben das Traurige: der Lehrer hatte das Glück –!«

»Blödsinn,« griff ihm Heinz Heide in den Arm, »ich will wissen, ob mein Vater bei dieser Geschichte im Spiele war!«

Der Feldkönig knickte zusammen wie ein Windbruchbaum. Erlasse mir das! baten seine hilflosen Augen; er faltete die Hände.

»Ja oder nein?«

Da fiel dem Feldkönig der Kopf jäh nach vorne. –

Heinz Heide lag bewußtlos bis spät nachts in seinem Sessel. Erst der Morgen machte ihm klar, denn es war ein frischer, blanker Morgen, der alle Gedanken auf den rechten Platz stellte.

Er ging in die Laast hinauf und dann in den schwarzen Torbogen des Matthä und später arbeitete er. Es ist ungeheuerlich, dachte er, es ist menschenunmöglich! Da ist ein Mann, der tödlich hassen dürfte, aber er drückt einem die Hände und lehrt die Schulkinder: Ihr müßt lieben! Und ein Mädchen ist da, das legt einen Pechnelkenstrauß auf das Grab!

Ungeheuerlich! Was würde er tun, wenn er ihnen wieder begegnete?

Aber als er Fräulein Judith wiedersah, kam von neuem der Spott über ihn. »Haha,« lachte er, »wie geht es Euerer Herrlichkeit?« Mädchen, dachte er, ich spiele mit dir!

»Sie sind heiter, Herr Heide!«

Ja, er sei lustig. »Lustig, Fräulein Judith, der Feldkönig sprach mit mir über die Liebe!«

»Er sucht ein Weib?«

»Gottbewahre! Ein Weib! Er sucht eine reine unschuldige Seele! Sündenbeladen wartet er vor dem Walde, – da tritt sie plötzlich aus dem Wald, – sie wird ihn erlösen!«

Denke man! Eine Heilige, sie verdammt das Böse an sich und verzeiht es an allen anderen! –

Wollust! Wollust! Ich operiere das fromme Herz einer Jungfrau! –

»Eine, die von der Barmherzigkeit Gottes mit ihm redet! Sie versinken ineinander wie zwei Tropfen Himmelstau, Fräulein Judith! Alles begütigen, alles glattstreichen, wie auf einem Münchener Bilderbogen ist die Welt. Oben Gott Vater, unten sauberes Wohlgefallen.«

»Wild bin ich geworden! Bei so etwas erwache ich! Wenn Knaben von Liebe flöten und mit ihrem Witz Mysterien ausschöpfen!«

»Sie machen ihren Säuglingsmund auf und sagen: Weib! Aber sie nennen das Lamm und meinen den Tiger!« lachte er.

Wollust! Wollust!

»Sie stellen erhabene Theorien auf: Die Jungfrau, der elfenbeinerne Turm! Uneinnehmbar! Erst wenn der Freier von Hochzeit spricht, senkt sich der magdliche Stolz!«

Aber vom Brennenden, Vulkanischen im Weibe ahnen sie nichts! Die Hasenfüße! »Ein Weib, das liebt, – weg mit allem Stolz, es muß mir zufliegen wie der Regen der Erde! Da gibt es kein Gebot und kein Gesetz mehr, – ›ich liebe dich, ich liebe dich,‹ fliegt es mir zu!«

Oder mache man etwa noch Gedichte auf die sanftäugige Jungfrau, die schamfühlig errötete, wenn sie ein Küßchen gab? »Ein Weib muß besinnungslos machen, sage ich, – wir sind keine Schullehrersöhne!«

»Küssen muß ein Weib können! Küssen, küssen, daß man die Arme weit ausstreckt: nun kann ich alle Geheimnisse der Welt erklären! – alle Geheimnisse, – küssen muß ein Weib können, um zu erlösen!«

Er lachte. Ha, was sagst du dazu, Mädchen? Wollust, Wollust! –

Aber als Fräulein Judith im Eschentorwalde verschwunden war, nachdenklich, war doch alles nicht gut. Gelogen war alles! Worte, eine Orgie in Worten! Und das Herz saß taubstumm in der Brust drin, ein Ekel vor den Worten würgte es, alle waren falsch.

Ruhe, Ruhe, Ruhe! sagte es.

Arbeit, Natur! Natur und Arbeit!

Es sagte noch mehr. »Nein, ich gehe nicht mehr mit Fräulein Judith!« antwortete ihm Heinz Heide! –

»Aber, warum warte ich da?«

Er wartete im Eschentorwalde. »Ja, warum warte ich da?«

Da kehrte er um. Aber siehe da, – das Herz pochte ihm: Fräulein Judith kam mit einem Manne daher!

»Guten Abend, Fräulein Judith!«

»Guten Abend, Herr Heide!« –

Er erzählte zu Hause: »Ich begegnete Fräulein Judith mit einem Mann.«

»Mit einem Mann?« fuhr der Feldkönig auf.

»Im Walde!«

»Im Walde?«

»Dunkel war es!« –

Nächsten Abend hatte es der Feldkönig herausgebracht. »Es ist Hans Lister, ihr Vetter!« stürzte er daher.

»Vetter?« pfiff Heinz Heide.

Und nach einer Woche fragte er den Feldkönig: »Wie lange ist nun Hans Lister da?«

»Eine Woche, eine ganze Woche!« stammelte der Feldkönig.

Heinz Heide ging den Wald oben durch, der Feldkönig unten. Der Feldkönig bekam das Zittern, wenn er die beiden kommen sah, er machte eine schreckliche Verbeugung. Heinz Heide hingegen zog den Hut heiter: »Guten Abend, Fräulein Judith!« Aber etwas Geheimes rief: verdammter Hans Lister!

Und als nach der zweiten Woche der Feldkönig fragte: »Wie lange ist nun Hans Lister da?«, brauste er auf: »Der Mai ist dahin!«

Aber nächsten Morgen flog der Feldkönig ins Zimmer: »Er geht! Er geht!«

»Wer geht?«

»Er läuft den Steig hinab. Vom Fenster aus sieht mans!« –

Und von da ab redeten sie wieder nichts von Fräulein Judith zueinander. Aber beide suchten sie wieder. Der Feldkönig, als ob er ihr ausweichen wollte, rechts, Heinz Heide links, sodaß sie ihm am ersten Tage in den Weg lief.

»Es ist lange her,« begann er. Aber dann wußte er seltsamerweise nichts weiter. Er dachte an allerlei, als sie im Laasterwald gingen. Der Bau werde im Herbste fertig. Und wie es Frau Thore ginge?

Plötzlich platzte er los: »Ein hübscher Junge, Hans Lister!«

Ob er das fände?

»Wir setzen uns ins Moos, Fräulein Judith!« So im Moose unter einer Tanne, mit einer Jungfrau, das sei etwas Eigentümliches! »Ein Mann,« scherzte er, »über und über mit Sünde beladen, – und dicht daneben, ein unschuldiges Persönchen –!« Er lachte: »Oder, Fräulein Judith, haben wir vielleicht doch ein kleines Sündchen auf dem Gewissen?«

Sie wurde rot. Was sind das für Reden?

»Irgend ein Sündchen, ein Geheimnis –?«

Wollust! Wollust! Ich spiele mit dir!

»Sagen wir, – ein Küßchen?«

Sie fuhr zusammen.

»Da kommt ein Mann, sagen wir, – Mutter weiß nichts davon, – aber der Wald –«

Sie sprang empor. Um Gotteswillen, er hat mich gesehen!

Wer werde gleich davonlaufen? »Man braucht es nicht einmal zu beichten, es ist nur ein ganz kleines, kleines –«

Wohin? Wohin in der Seelenangst?

»Ein ganz kleines, süßes Sündchen!«

»Nein,« jagte sie bebend zu ihm zurück, »nein,« – oh, welche Qual!

»Es war nicht süß!« stieß sie hervor.

Um Gotteswillen! Ich habe es eingestanden!

»Nicht süß?« kroch Heinz Heide aus seinem Erstaunen: ha, ich habe dich! »Ei, ei, – nicht süß?«

Sie rang die Hände, fürchterliche Blässe kam auf ihr Gesicht. Um Gotteswillen, wo war da Hilfe?

Er verstehe! Seelenfreundschaft! »Es machen das alle Vettern so. Und was ist eigentlich daran?«

»Nein, nein!«

Sie wand sich in der Pein, aber sie mußte festgenagelt bleiben. Der Mund kämpfte, das Gesicht verzerrte sich, – »nein, nein!« Wo war da Hilfe?

»Ja, – das ist, – ich muß sagen: ich staune! Da tut man so, als könnte man nicht bis fünf zählen –«

Da brach sie in Tränen aus.

»Und wer sagte neulich: das Eschentorfräulein? Hut ab! – und unterdes –?«

»Ich kannte ein Mädchen,« schaute er sie unbarmherzig an, »der Bräutigam wartete darauf. Gewiß, er war kein sonderlich feiner Mann, aber er wußte: das Mädel, da ist alles klar und stolz daran! Und das hielt ihn sozusagen. Aber, – kommt da so ein Knabe –«

»Herr Heide« schrie sie unter der Folter auf, wie Espenlaub im Herbststurm bebte sie, – »es ist nicht wahr! Es ist nicht wahr! Ich habe es nicht gewußt! Ich schwöre –«

»Ah,« sank sie tränenüberströmt unter der Tanne nieder. »Sie glauben es nicht!« Das sei die Strafe! Der Schmerz saß über ihr wie ein Mißhandler, er bog sie wie einen Schatten nach allen Seiten.

Heinz Heide wurde bleich. Jetzt wurde das Spiel ernst.

Er hörte bewegungslos zu, wie die Gepeinigte in toll hervorbrechenden Sätzen eine kindliche Verteidigungsrede hielt. Als müßte sie sich vom Verdacht eines Verbrechens reinigen, entblößte sie reumütig ihr Herz. Gott wisse es, wie es war! Er wisse, sie dachte an nichts! – Als er ins Haus kam, unerwartet, – jedes Jahr kam er so, – da, – Mutter sah es, sie war dabei!

»Ah, Sie glauben es doch nicht!«

Sie seien zusammen im Walde gegangen; »freundlich war er zu mir, – aber wir redeten von gleichgültigen Dingen, ich dachte an nichts –«

»Aber Sie glauben es nicht! Nimmermehr!« brach das wilde Feuer aus der Brust hervor und bat leidenschaftlich um Glauben.

Ich glaube es! Ich glaube es! Ich habe nicht gezweifelt! wollte der Erstarrende rufen.

Zu jeder Träne wollte er rufen: Verschwinde, ich bin es nicht würdig!

Jedem bettelnden Worte wollte er sagen: verstumme, sterbe, verteidige dich nicht! Ich bin es nicht würdig!

Es ging eine vernichtende Veränderung in ihm vor. Es fielen Masken von ihm, klein wurde er, er wollte demütig bitten: der Teufel ist in mir! Vergib mir, du, die Reue brennt mich!

Und etwas Rauschendes wurde wach in ihm, er sah ein glänzendes Himmelsstück, einen silbernen Stern, eine morgenrote Wolke, – seine Brust wurde wie ein Dom weit von Anbetung und Ehrfurcht. Ein Jubel stieg die Seele empor, Gloria, Gloria! wollte er frohlocken: ich bin erlöst!

Und mußte wie Stein starren.

Die Augen wurden starr, der Mund wurde tot, die Muskeln froren ein, das Blut wurde lahm. Eine gerichtete, versteinerte Gestalt mußte er sein, und hören und sehen.

Und so, in dieser Starrheit, entriß er ihr, die das Fieber trug, das letzte Geheimnis.

»Herr Heide« sprang sie aus dem Kampfe, »jüngst sagten Sie im Walde –«

Nein! Sie konnte nicht!

Und er war unbeweglich!

»Im Walde –«; es mußte sein! »Da sagten Sie –«

Ich kann nicht!

Sonst glaubt er es nicht! »Sie sagten: küssen, küssen, küssen muß ein Weib können, – um zu erlösen.« –

Er schoß auf. Wie ein springender Panther lief er ihrer Flucht nach. Ein brausendes Weinen und Lachen war sein Leib, eine brausende Orgel seine Seele. Tausend selige Worte war er: Wald, halte sie, Bäume, fanget sie, Erde, hefte sie!

Aber, als er sie einholte, wagte er kein einziges zu sagen. Er wollte ihre Hand fassen, aber die Hand blieb nicht bei ihm. Ja, ja, natürlich; ich bin unwürdig, ich bin unwürdig, rief sein zerknirschtes Herz.

»Steine sind hier!« sagte er demütig. Er räumte die Steine aus dem Weg. Er bog die Tannenzweige zuseiten. Ob sie seinen Stab wolle? Ob sie friere? »Es ist kühl,« sagte er wie ein Bettler.

Aber sie schwieg. Ja, ja, ich bin unwürdig! Ich bin unwürdig, sagte sein ehrfürchtiges Herz.

Aber zum Abschied! Er dachte nach, in fliegender Hast. Ich werde sagen: verzeihe mir! Ich werde niederknien: verzeihe! Laß mich deine Hand küssen! werde ich bitten. –

Aber, als sie ihm davonging, dem Hause zu, konnte er den Mund nicht aufmachen. Er ließ sie gehen, er war angewurzelt.

Laufe nach! Laufe ihr nach! trieb sein orgelbrausendes Herz. Aber da war sie schon verschwunden. –

Wie ein Träumender wankte er heimwärts. Und da war der Wald voll von Furchtbarem! Wie er anklagte und verurteilte! Alle Wipfel zog er über dem Bösen zusammen und brüllte: verdammt!

Aber der Wald war, – o Wunder! – auch voll von Herrlichem. Wie eine Kirche stand er da, er pries mit hochgehobenen Riesen die reine, unschuldige Seele. Er deutete mit Sternen auf den Wipfeln himmelwärts, und mit den schwarzen Strüncken erdwärts, er einte Himmel und Erde. Und da schritt Heinz Heide mit inbrünstigem Aufhorchen, und als er aus dem Wald in die Buchenfreygger Wiesen trat, rauschte ihm der Wald nach: Gloria, Gloria!

Aber, »ha!« prallte er plötzlich zurück: eine schwarze Gestalt stand vor ihm.

Er wollte nach rechts, nach links, »he!« drohte er: aber da erschrak er. Die schwarze Gestalt kam ihm bis an die Brust, er konnte keinen Arm heben. Sie zog sich an ihm empor wie eine wachsende Feder, immer höher und höher.

Da wollte er schreien: fort! Aber die Stimme starb in dem Augenblick, als die Gestalt ihm ins Gesicht sah. Er griff in die Luft und taumelte; und dann lief er davon.

Auf einmal aber machte er kehrt. Er kam zurück und setzte sich auf einen Zaun und betrachtete die Gestalt wie ein Verhängnis, dem er nicht entrinnen konnte. Und als sie endlich den Fuß aufsetzte, um einen Schritt zu machen, ihm zu, sprang er entschlossen vom Zaun herab. »Gehen wir!« sagte er.

Im Gehen brach die Angst hervor. Sie überfiel ihn wie Tollheit und trieb ihm den Schweiß auf die Stirne. Die Fäuste ballte er, Schwindel ergriff ihn, ein Gefühl rettungsloser Ohnmacht war da: wenn sie ihr Auge auftut, – verloren!

Und als sie über die Schwelle schritten, zitterte er wie ein Irrer.

Da aber geschah das Wunderbare: die schwarze Gestalt trat in den hellen Saal, gerade als er hinter ihr über die Treppe kam, und da blieb er stehen und sah sie, ganz hell war sie, er sah Augen und Mund und Haare und Hände, – und die Angst war tot!

Ungläubig, atemlos, erschrocken sprang er herauf und trat näher und betrachtete sie. Er ging um sie herum, – die Angst war tot!

Er berührte die Gestalt, er nahm ihr das Tuch von den Schultern, – die Angst war tot!

Die Angst war tot!

Da wurde er wie ein Riese. Die Brust hob sich, sie wurde frei. Die Schultern reckten sich, es fiel ein steinerner Berg von ihnen. Ah, atmete er auf, – ah, – aus einer unerschöpflichen Tiefe herauf: ah, – ah – ist es möglich?

Und nun goß sich über ihn eine zaghafte Heiterkeit, die der Dame das Blut in die Wangen trieb und immer siegreicher wurde, je fester er es glauben durfte: die Angst ist tot! Der Feldkönig trat mit einem Schrei in das Zimmer, und die Monika wurde zitterbleich, als sie vom Fremdenzimmer hörte. Aber Heinz Heide lächelte ihnen zu und redete und goß der Dame Wein ein, aus einer immer glänzender werdenden Kummerlosigkeit heraus, und bemerkte es nicht, daß die Dame keinen Bissen aß und schwieg.

Erst als der Feldkönig zu Ende der Tafel seinen Stuhl umwarf und mit einem verstümmelten Gutenacht entfloh, und die Dame das Löffelchen auf den Teller fallen ließ, kam er zum Gedanken, sie leide. Da erhob er sich, machte eine ritterliche Verbeugung und führte sie in das Nordzimmer.

Sie möge sich da in diesen Fauteuil setzen, sagte er freundlich, hier sitze man gut, und brachte Zigaretten und Likör. Oder zöge sie Kaffee vor? Und solle er das Licht abdämpfen? Und habe sie genug Kissen im Rücken?

Dabei betrachtete er sie unablässig, und verbarg nach jedem neuen Blick seine tiefatmende Brust und sein strahlendes Gesicht und seine frohlockende Stimme, denn die schrie: – ein Wunder – ein Wunder!

»Oh,« sagte er unvermittelt, das bemerke er erst jetzt, – »Verzeihung, du bist in Trauer?«

Die Dame schlug die Augen auf. »Dareia ist gestorben«, flüsterte sie.

Er wurde starr.

»Im Winter schon. An einer Bronchitis.«

Das bewegte ihn. Er schaute vor sich hin wie ein Träumender in einen unglaubwürdigen Traum. Lief da nicht Dareia durchs Zimmer und sagte: »Ich bin Dareia, ihr Töchterchen?«

Und nun war sie tot? – –

Aber auch dieser unerwartete Schmerz tat ihm nichts an. Im Gegenteil; er fühlte, der kam aus einem plötzlichen Tauen seines Herzens, rein und aufrichtig, und so empfing er ihn als Geschenk. Ich lasse mich einhüllen von ihm, dachte er.

Ah, – erhob er sich, – wie schön, wie schön! Mir tut das Herz weh, weil eines der Kinder starb, die auf meinen Knien saßen! Wie schön!

Und da ist sie, sie, – und ich könnte kein heißes und kein bitteres Wort haben, – sie ist eine der vielen Mütter, denen ein Kind starb.

Wie schön! Wie schön!

»Nun bist du allein,« sagte er schmerzlich. Wenn auch andere Leute um sie seien, – »aber dies Kind, –«

»Auch er ist fort,« flüsterte die Dame.

Er ist fort, wollte er nachdenken. Aber da fiel ihm ins Auge, die Dame trug ein dünnes, fadenscheiniges Kleid und schlechte Schuhe. Er erinnerte sich, sie hatte einen Schal und ein Täschchen mitgebracht, und er hatte ihr den Hut abgenommen, einen billigen, schwarzen Strohhut.

»Du bist in Not?« drehte er sich jäh um.

»Ich bin nicht deshalb gekommen!« sagte die Dame rasch.

Ah, das habe er auch nicht andeuten wollen! Gott bewahre! Aber, was sie da sagte, – er habe dabei ein trauriges Gefühl gehabt, »verzeihe« bat er, – ein Gefühl: es geht ihr schlecht! Und wenn das zuträfe –

Die schwarze Dame trat da aus dem Sessel, ihre Augen strahlten einen süßen weichen Schimmer. Aber es schien, sie zwänge sich mit eisernem Willen, diesen Schritt zu tun.

»Heinz!« hob sie ganz wenig das schamvolle Gesicht, »verzeihe mir!«

Schnell darauf ließ sie es auf die Brust sinken. –

»Ah,« sagte Heinz Heide tief aufatmend, wie aus einem quellsilbernen Brunnen, – aber er ging einen Schritt weg von ihr, – was rede sie da? Sie müsse das wohl schon gesehen haben, – und überhaupt! »Es wäre mir peinlich, geradezu peinlich, glaubtest du, ich spiele da den Edelmut!« Es sei doch rein natürlich, – und wenn da etwas zu verzeihen war, »das Weiterleben, die Zeit, die Vernunft verzeiht!« –

Die Dame wechselte die Farbe, sie bemühte sich aber, die Bestürzung, die jäh über sie kam, zu verbergen. »Oh,« sagte sie, »du bist groß!« Inbrünstig wurde ihre leise Stimme, – wie gut sei er! – Wenn sie das so betrachtete, – mein Gott, in jeder Stunde betrachtete sie dies große Herz! – »es waren das brennende, verurteilende Anklagen, die ich gegen mich erhob, ich brach oft zusammen unter der Verdammung, die ich selbst über mich aussprechen mußte. Und immer, immer trieb mich eine unerbittliche Sehnsucht: geh, geh, gestehe ihm, erzähle ihm, erkläre ihm! –« nur das Eine sollte sie ihm begreiflich machen dürfen, mit ihrem Munde: »es geschah alles nur, weil ich dich liebte!«

»Aber,« schnitt Heinz Heide mit klarer Stimme ab, »das war vollkommen unnütz!« Er habe keinen Anlaß, an ihren Worten zu zweifeln, »und Erklärungen habe ich niemals verlangt. Keineswegs!« Da möge sie völlig ruhig sein, es sei kein blöder Stolz und keine Falschheit, wenn er sage: das ist ein für allemal erledigt! –

Die Dame wankte nach dem Fauteuil zurück und ließ sich langsam niedergleiten. Ihre Hände zitterten, sie schloß sie ineinander, damit er es nicht sehe.

»Wir reden lieber von anderem!« Ja, beeilte er sich, soll ich das Fenster öffnen? Es ist ein wunderschöner Maiabend.

»Dieser Mai heuer!« Es sei gar nicht zu sagen, wie schön er in Buchenfreygg sei, – »wie ist es,« drehte er sich um, »in Malaripa?«

Regen sei in Malaripa.

»Regen?« Aber auch ein Mairegen sei etwas Wunderbares. Einmal sei er in einem kleinen Dorfe gewesen, »ich sah da nachts zum Fenster hinaus, wie traurig, dachte ich, wie melancholisch! Regen machte mich früher melancholisch, – aber wie ich am Morgen den Kopf hinausstrecke: alles, alles war grün geworden!« –

Überhaupt, man müsse die Natur viel sorgsamer beobachten, als man es gewöhnlich tut. Kein Buch, kein Theater, keine Gesellschaft sei derart interessant! Und nicht etwa die Natur an sich, Pflanzen, Steine und so weiter, – sondern interessant ist das, wie wir bei ihr bleiben, ob wir nun wollen oder nicht. Und wenn man lange weg war von ihr, man dachte schon in seinem Dunkel, sie ist nichtssagend – man kriecht plötzlich auf allen Vieren zu ihr zurück. Das zu beobachten –

Da sah er, die Dame hatte die Arme auf die Lehne des Fauteuils gelegt und den Kopf darauf. Sie schläft! verstummte er, und lehnte sich mäuschenstill in den Sessel zurück. –

Eine Stunde lang blieb er so, ohne sich zu rühren. Er hielt den Atem an, vermied alles, was sie wecken konnte. Aber seinen Blick zwang er unausgesetzt auf sie hin wie einen zähen Wächter. Er sah, wie sich langsam die Glieder lösten, wie ihr das Haupt in den Rücken des Sessels glitt und das rotblonde Haar ihm ein Kranz wurde. Wie der Leib, dem Schlafe gehorchend, sich legte, die Brust aufstieg und die Lippen sich öffneten, wie durstig oder unendlich matt. Alles sah er, an alles erinnerte er sich, tausendmal erforschte er sich: kommt jetzt die Angst? Aber die Angst kam nicht mehr, – je länger er die Schlafende betrachtete, um so deutlicher wurde es ihm: eine Fremde, eine der vielen Fremden, die nicht glücklich sind und denen man nicht helfen kann!

Und darum wurde sein Blick immer heller und reiner. Bis die Schlafende plötzlich emporschreckte und ihm begegnete.

Dann dauerte es nur noch einen Augenblick und sie schoß auf, flog in seinen Sessel und fiel wie eine Flamme auf ihn nieder.

Er schüttelte sie sofort ab. »Was für ein gewaltsamer Traum!« lachte er und löste sie von sich. Und dann führte er sie wie ein Kind, fast zärtlich, zu ihrem Fauteuil und drückte sie nieder.

Aber nun war es mit ihrer Beherrschung zu Ende. Wie ein Ball sprang sie zurück, »es wäre schöner,« schrie sie ihm ins Gesicht, »du jagtest mich hinaus, du sagtest geradeheraus: ich verachte dich, ich hasse dich, ich habe alles vergessen! Ich habe vergessen, daß du für mich littest, du nahmst alle Schmach auf dich, ein Verbrecherleben lebtest du für mich, du hast für mich gestohlen, gelogen und betrogen, – – ah!« schluchzte sie auf.

»Ich habe nichts vergessen,« sagte Heinz Heide still.

»Alles!« schrie ihr empörtes Gesicht.

»Nichts!« wiederholte er ruhig. Er sei nicht so einer, der die Hand umdreht: und damit fertig! Erlebnisse ließen sich nicht einfach auslöschen, als wären sie nicht gewesen, – aber sie verstehe scheinbar nicht, daß sich Erlebnisse überwinden lassen –

Nein, das verstehe sie nicht! Darin sei das Weib jedenfalls anders. »Keinen Zug in deinem Gesichte vergaß ich! Nicht den Klang deiner Stimme, keine Bewegung, nichts, nichts, nichts! Mich haben die Furien gepeinigt, Tag und Nacht, aber Tag und Nacht war ich bei dir. Ich bin in diesem Hause gewesen im Winter, wie dein Schatten! Ich wußte, jetzt begräbt er alles Süße in seinem Haß, – aber ich träumte: Buchenfreygg! Ich war hier, wir gingen zusammen alle Wege im Schnee. Ich wußte, du sannst nach Plänen, um dich zu rächen; es war dir keiner grausam genug, aber ich küßte dich. Gestern noch, gestern noch, ich saß vor dem Regen und weinte, – geh hin! geh hin! rief mein Herz, geh! geh! bat es, – da kommt Dareia: Mutter sagt sie, Mutter –« –

Sie brach ab. Sie wurde erdfahl, ein totangstvoller Blick streifte Heinz Heide. Und sofort senkte sich dieser Blick: Heinz Heide hatte sie ertappt!

Nun kroch sie in den Sessel zurück, es war, als schrumpfte sie ein. Sie fühlte Heinz Heides Blick auf den geschlossenen Augen sitzen, die Röte stieg ihr aus dem Blut, das Gesicht wurde rot, die Hände wurden rot, sie fühlte, der ganze Körper schimmerte rot durch das Trauerkleid.

Heinz Heide wartete.

Es wurde eine Viertelstunde. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. – Ob es nicht besser sei, zog er dann die Uhr, sie ginge nun zur Ruhe?

Sie sprang sofort auf und lief an die Tür. Wo ihr Zimmer sei?

Sie kenne es ja, folgte er ihr.

Wenn sie erlaube, sagte er draußen im Saal, er möchte sich überzeugen, ob alles in Ordnung, die Monika verstünde nicht viel von den Bedürfnissen einer Dame, – und er schlafe im Verwalterhause.

Dann bitte sie, daß er das Haustor nicht sperre! stellte sie sich vor ihm auf.

»Verzeihung,« sagte er. Aber, wenn er recht verstünde, – bei Nacht und Nebel, das würde er nie und nimmer, zugeben. Es sei finster und wer den Weg nicht kennt –

»Dann, sobald es Tag wird!« wurde sie totenblaß.

Wie es ihr recht sei. Wenn sie es so wünschte, käme er bei Tagwerden herüber, um sie zu holen. »Denn ich begleite dich!«

»Ich gehe allein!« stampfte sie verzweifelt in den Boden.

Das ginge gegen die Haussitte, sagte er ruhig. Sie möge verzeihen, aber aus dem Heidehause ließ man noch keine Dame allein in die Stadt hinabgehen. »Es ist dies ein alter Brauch,« lächelte er und verbeugte sich.


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