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InitialDiese Reden! Diese pharisäischen Redensarten! »Sie wollen Taue um meinen Hals werfen, sie stürzen sich auf mich wie Geier auf ein Aas, sie umstricken mich!«

Er haßte sie. Er schwor den hintertückischen Sittenpredigern Trotz. »Haha, Sie wollen mir zeigen, wie ich leben soll! Die Bauern, die Feldkönige!«

»Ich habe mir mein Leben schon selber gemacht!« –

Da kam aber eine schwere Stunde. Ein Mann, der sich für einen gemachten Lebenskünstler hielt, er trug seine gesammelten Anschauungen in Goldschnitt gebunden, er hatte für alles seine feingezimmerten Regeln, unfehlbar, – in einer wirren Stunde kommt es über ihn: heraus damit! ich schaue mir's an!

Es kam über Heinz Heide: heraus damit! ich schaue mir's an! Er wollte es ergreifen wie eine Waffe gegen die Prediger.

Aber da war nichts! Es war da ein bißchen Duft, Dunst, Farbe, ein bißchen Schall, ein bißchen Spiel, – Wohlgerüche, verblaßte Regenbogen, künstliche Melodien, – sonst nichts!

Es war alles in Asche gefallen. Die Liebe, die schicksalsübermütige Liebe, die Sehnsucht, stille Feiertagsstunden vor blauen Meeren, die Verzückung erkennenden Schauens, die Reife des Verstandes und die Verfeinerung der auserlesenen Persönlichkeit, – alles Asche! Alles war Leidenschaft, Egoismus, Bequemlichkeit, Irrtum, Blindheit, – wo war ein einziges Werk, das rechtfertigte? –

Noch schwerer aber war die Stunde, in der jäh die Erinnerung an eine Nacht wiederkam: Feuer im rosenroten Schnee, vergißmeinnichtblaue Schatten im Schnee, »Hilfe, Hilfe, Hilfe!« –

»Gott, ich habe dich verlassen, ich will aufstehen!« betete Heinz Heide.

Es umgab ihn völlige Finsternis. Wo war Gott?

»Arbeit, Arbeit, Arbeit!« Er fraß sich gierig hinein. Aber sie betäubte nur, sie hatte kein Ziel.

Er griff sich an sein Herz. »Der Frühling kommt!« Der Frühling kämpfte, jäh, heftig, er warf den Schnee aus dem Walde, die Sonne badete in tausend Pfützen, der Wald wogte mit grellen Wipfeln, und über die Berge wanderte der Himmel wie ein Hochzeiter.

Oft war es wirklich so unter diesem Frühling, als hätten sie recht, die Einfältigen und Feldkönige. Ja, wahrhaftig, man konnte denken, der lila Crokus neben dem Schneekranz sei ein Symbol: ich wuchs aus dem Eise! Oder ein Stein in der Sonne! Er fühlte sich warm an. Man konnte ihn reden lassen: ich werde noch heiß werden!

Oder die Osterhoffnung! Sie war überall, sie ging aus dem Walde heraus, sie ging in den Wald hinein; weit drüben im Westen, irgendwo, – überall: wir stehen auf!

Auch die Menschen, halb war ihnen der Winter noch im Gesicht, aber mit der anderen Hälfte sagten sie: wir stehen auf!

»Ich beneide Euch!« rief Heinz Heide.

Er ging herum: hier, sagte er zu den Bäumen, zu den Saaten, zum Himmel: da ist mein Herz. Gebt etwas hinein, viel, viel! Er berührte sie mit seinen Augen, dabei hatte er den Willen, von ihnen die Auferstehung zu empfangen.

Aber das war es: was er mit den Augen berührte, – sie hatten ein flehendes Licht: nun wollen wir vom Anbeginn ausgehen und die Reinheit des Erschaffenen betrachten! – wurde unter seinen Augen wesenlos und grau.

Und was er mit den Händen berührte, – seine Hände waren zaghaft und voll Demut, sie legten sich um ein Ding: wie schön ist das, wie wunderbar! – wurde unter seinen Händen häßlich; zwecklos zerfiel es.

Und was seine Gedanken zur Rettung herbeizogen, das Gute, das Kleine, das Einfache, – alles, was er bisher geschmäht hatte, –: nun wollen wir uns gesund machen! – wurde unter seinen Gedanken reizlos und kalt. Es fror ein.

»Das ist das Blut meines Vaters!« schüttelte er sich, »ich habe ein fluchbeladenes Erbteil übernommen!« Er erinnerte sich an den Mann, dessen Dunkel jeder mied, in dessen Dunkel die lichte Mutter zugrunde gegangen war, und den er doch oft bemitleidete.

Er sei vergiftet! »Vollgetrunken bin ich mit Gift!« Er besah sich, er fand, da war nichts als Gift! –

So sprang er von selber wieder in die Menschen zurück. Einer, einer mußte wie eine Quelle sein, frisch, unschuldig, den hatte das Böse noch niemals gestreift, im Geiste dieses Menschen mußte er sich baden!

Da kam Tobias Weiße.

»Herr Pfarrer!« stürzte er ihm entgegen. Ah, der ist es! Der ist eine unverbrauchte, kinderreine Seele, »Herr Pfarrer!« Er zog ihn die Treppen hinauf, ja, so ein Gesicht, so ein Gesicht, da stand der Seelenfriede darin. »Ein Glas Wein, Herr Pfarrer! Ein Glas Wein!«

Dann aber machte er viele Umschweife.

Es habe ihm ein Freund geschrieben, ein sehr herabgekommener Mann, der Verhältnisse halber –, »man muß Barmherzigkeit üben damit.«

»Wie?« Ja, dieser Mann, er hatte keine Erziehung. Das muß man verstehen. Ich bin, so schreibt er, – ja, da schreibt er, ob ich ihm helfen könne, es fehlt ihm alle Kraft; – nein, das ist falsch gesagt. So möchte ich es sagen, Herr Pfarrer: Dieser Mann sagte mir einmal: was? da redet einer, – in einem Buche: Gott hat mich verlassen! Das ist eine blödsinnige Redensart. Eine Redensart! Aber nun, – es geschehen Wunder; nun, – schwarz auf weiß steht es da: Gott hat mich verlassen! Wenn ich, – es steht da! – wenn ich einen Menschen anschaue, sehe ich den Teufel, wenn ich den Himmel anschaue, sehe ich die Hölle; wenn ich einen guten Gedanken fassen will, – das ist es! Das ist es: ich kann keinen guten Gedanken mehr fassen!«

Man müsse Barmherzigkeit haben mit einem solchen Manne. »Was meint der Herr Pfarrer?«

Tobias Weiße mußte da von der Beichte reden. »Aber, Herr Pfarrer!« Ja, er begreife seinen Standpunkt, »aber, ums Himmels Willen, der Mann kann keinen guten Gedanken fassen!«

Gerade deshalb, beharrte Tobias Weiße. Oh, er kenne tausend Beispiele. »Da war ein Fürst, ein hochangesehener Fürst – Standesherr war er –, da möchte man glauben: ein Fürst und unglücklich? Der kam zu einem Bischof. Bischöfliche Gnaden, sagt der Prinz, retten Sie mich! Der Bischof –«

Heinz Heide lächelte und brach das Gespräch ab. »Wie ist der Wein?« fragte er.

Vor dem Hause pfiff nämlich Lorelock. Heinz Heide war sofort vor dem Haus. »Adieu, Herr Pfarrer,« rief er, er schaute mit einer Art felsenfesten Vertrauens auf Lorelocks behäbiges Gesicht und seinen breiten Brustkasten. »He, Doktor?«

Lorelock nahm die Pfeife aus dem Munde, Umstände waren nicht seine Sache. Aber er klimperte an der Uhrkette, in Wildeiche drüben, – »in Wildeiche, Herr Heide, sind zwei Höfe unter den Hammer geraten.«

Er tauchte die Pfeife wieder ein.

»Zwei Höfe! Ja, – und?«

»Und, und! Natürlich werden sie die Welschen ersteigern!«

»So! Und –?«

»Dann sitzen sie an Ihrer Grenze, Herr Heide!« schrie Lorelock.

Heinz Heide wollte aufbegehren, ha, wollte er sagen, mir ist das vollkommen egal, mir sind alle Menschen gleich. Ihr Standpunkt ist ein verteufelt kleinherziger, und übrigens mache ich nicht Politik.

Aber, – das wäre vielleicht ein Werk? Man setzt sich dafür ein, man täuscht es sich vor, man sei national, und es hätte überdies eine psychologische Begründung?

Er bezwang sich. »Das wäre zu überlegen!«

»Es wäre eine völkische Tat,« atmete Lorelock auf, – ha, triumphierte er, ich habe ihn!

Eine völkische Tat im höchsten Sinne. Oder, um etwas heranzuziehen, könnte es einem Herrschaftsbesitzer gleichgültig sein, wenn an seiner Grenze eine demoralisierende Hetzarbeit geschehe? »Es ist Pflicht eines jeden ehrlichen Deutschen, –« er redete den ganzen Waldweg hinüber nach Tannenfreygg gleich einer dröhnenden Trompete.

»Ja,« blieb dann Heinz Heide zerstreut vor dem Schulhause stehen, »darin steckt ein Körnchen Wahrheit«.

Er werde sich das überlegen, drückte er dem schweißtriefenden Doktor die Hand. Dabei war es dunkel in seinem Herzen. –

Kaum daß er ins Schulhaus schlüpfte, da knarrte schon die Treppe.

»Herr Heide?«

Dieser Mann im Schulhaus sprang wie ein schießender Quell über ihn her. Die Augen leuchteten ihm, wahrheitsgroß wurden sie, heißhungrig nach einer befreienden Seele, und Heinz Heide lächelte, eine stille Hoffnung erfaßte ihn.

Und der Mann, eins, zwei, drei, ließ, wie ein im Laufe störrisch gehemmter Quell, endlich aus der Schleuse gerissen, seinen Sprudel über den Rettungssüchtigen schäumen. Es war, als ob ein Schmied ein riesiges Rad gefertigt hätte, nächtelang, nächtelang schmiedete er daran, Speiche auf Speiche. Nachts klang sein Hammer drei Winter lang in die fernen Höfe, nachts blinkte sein Feuer drei Sommer lang in die Wiesen hinaus, »da arbeitet der Schmied«, sagten die Schläfrigen zum Fenster hinaus, eh sie zu Bette gingen.

Und nun, das eiserne Rad, noch ist es glühend, es knistert und stiebt noch, es brennt, aber es saust drehend, windschnell um die erfundene Achse. »Ha, es läuft!« keuchte der Schmied.

Eine konfuse Rede war es. In Glut getauchte Worte, die Weltordnung in aufgelöstes Gift getaucht. »Ich bin ein Lehrer vom Lande, jawohl, aber ich muß es einmal gestehen: es herrscht die Dummheit!«

Die Dummheit herrsche, – überall. »Tun Sie einen Blick in die Organisation: es ist faul überall, Herr Heide! Schein, Schein, Schein, Götzendienst, Banditenwirtschaft. Der freie Gedanke liegt geknebelt, wo ist einer mit einem vernünftigen Gedanken, der nicht mausetot geschlagen wird?«

Er wurde bleich vor Erregung. »Oder finden Sie Christus noch irgendwo? Ich möchte davon reden, Herr Heide –,« er fuhr sich in das Rothaar, – »in Christi Namen wird die ganze Welt verblödet!«

»Die Leute sagen, ich bin ein Phantast.« Aber, ha, da könne er aufwarten mit der Praxis!

Der Lehrer hielt die ausgestreckten Finger vor Heinz Heides Nase. »So oft ich einen niederbiege, – eine hiesige Dummheit! Der Kirchenbau, – wir brauchen ein Spital! Herr Heide, oder ist etwa eine neue Kirche –?«

»Die Wasserleitung! Wer schreit seit Jahren: Wasser, Wasser her! und der Berg ist voll Wasser? Wer schreit? – Die Winterschulmesse! Ich sage: sie kommen anderthalb Stunden von Wildeiche her, die Kinder, kalt, sehr kalt, es ist kannibalisch kalt, – dürfen sie etwa an den Ofen? Mitnichten! Ich, ich, ich bitte, ich muß mit dem Spanischen dahinterstehen: da, her auf den Steinboden, niedergekniet!«

»Die Straßenfrage! Ja, ein Ingenieur, einer?, sechse kommen herauf: hier wird eine Straße gemacht! Reden schön, messen aus, he, Ihr werdet sehen, was für ein neues Leben! Verkehr, leichter Transport, Warenumsatz! – Was Verkehr? Verkehr? Die schwarze Gesellschaft in der Gemeindestube läuft zusammen, Bauern, sage ich, Tröpfe, Strohmänner: nein, es kommt die sittliche Gefahr herauf auf den Berg!«

»Die Straße wird nicht gebaut, sagen wir!« –

Es kam noch der miserable Sittenzustand in dem ganzen Distrikt, die Ohrenbeichte, der Ablaß, das hintertückische Frömmlertum. »Erziehung! Erziehung, Herr Heide, Licht in die Köpfe!« Es sei zum Ausderhautfahren, »keinen Kreuzer für Erziehung!«

Zuletzt, mit erstaunlicher Vorsicht: das Colonnensystem! Die Grundfrage! »Ein freier Mann, auf freier Scholle!«

»Ja,« lächelte traurig Heinz Heide, aber im selben Momente packte ihn etwas Widerwärtiges: sie sind alle Egoisten, ein jeder hat sein Steckenpferd! – »ja, es steckt ein Körnchen Wahrheit –«

»Nicht wahr, nicht wahr?« Ha, ich habe ihn, triumphierte der Lehrer, er wollte fortsetzen.

Er werde sich's überlegen, stieg Heinz Heide an die Türe, – »ich danke, Herr Lehrer.« –

Voll glühender Begierde sind die Köpfe dieser Männer, sagte er im Tannenfreygger Rasen, ein jeder will seine Begierden durchsetzen. Sie sind, als hätten sie auf mich gewartet, in goldenen Schalen bringen sie mir ihre Träume, – aber keiner hat das Bedürfnis zu fragen: was fehlt dir? –

Aus dem Eschentorer Walde kam der Feldkönig. Er erkannte ihn von weitem, es flog zum dritten Male die Hoffnung in ihn – »Severin, woher kommst du?«

Und es überfiel ihn eine drängende Lust, in die Arme dieses Pilgrims zu fallen, der kein Glück sein eigen nannte, vor diesen kindlichen Augen voll Abendfriedens zu warten, bis aus dem kristallenen Herzen des Reinen ein Tropfen in das seine fiele, aus diesem weltfremden Gesicht den Willkommegruß zu hören, den es, tiefgebadet im Gottesgeheimnis des Strauchs, des Käfers, des Wurms, des Lufthauches, liebkosend jedem Menschen gab: ave, templum Dei!

Er sei im Eschentore gewesen, lächelte der Feldkönig, und Heinz Heide stutzte.

»Ich war im Eschentore,« leuchtete der Feldkönig, in seinen Händen, dicht vor dem Herzen trug er ein kostbares Geheimnis, er war voll von seinem Glanz.

»Ich war im Eschentore,« wiederholte er noch einmal; der Wald wurde hell davon.

Da lief Heinz Heide weiter.

Mit einer jähen Enttäuschung lief er aus dem Walde.

Aber vor dem Eschentorhause kehrte er um. –

Dasselbe tat er anderen Tages. Vor dem Eschentorhause kehrte er um. Auch am dritten, am vierten, am fünften Tage.

Er jagte eine Woche lang umher, ein plötzlicher Gedanke war in ihn geschossen: Wann fiel mir das ein?

Dieser Gedanke spielte mit ihm. »Ja, ja, ja,« schrie er, oft brüllte seine habgierige Seele auf. »Das ist es!« Der Quell, unschuldig und uneigennützig, ohne Begierde, dieser Quell war sie!

Er hängte über den Wald schüchterne Zukunftsbogen. Er lachte in den Wald hinein: »Ja, ja, ja!«

Aber da war es mit einem Male unmöglich. »Unsinn!« Nein, nein, nein!

Oft schlug er sich an das Herz. »Wie leerer Ton! Klingendes Eis!« Er ballte die Fäuste: »Nein, nein, nein!«

Und dann wieder ein Glauben in der verborgensten Brust: »Ja, ja, ja!«

Er lief endlich ohne Besinnen in einen Abend hinein: »Ja, ja, ja!«

Und dann schlich er sich nahe, er hatte sie entdeckt; sie stand auf einer abschüssigen Wiese, vor dem Alpenglühen.

»Fräulein Judith,« flüsterte er.

Da bewegte sich die Gestalt.

Sie stiegen in den Weg hinab und gingen in das Alpenglühen hinein. Die brennende Dolomitenwand stand vor ihnen, rosenfarben, himmelblau, und in den Schatten tiefblau; sie schien ihrer zu warten. Groß stand sie da auf dem Sockel der stiefmütterchendunklen Täler.

Eine glühende Menschenbrust wartete da, mit glühend ausgebreiteten Armen. Die Arme ließen aus flackernden Händen ein perlfarbenes Feuer auf ferntiefe Häupter sinken, sie deuteten damit die Unerschöpflichkeit ihrer Liebe an.

Heinz Heide ging mit zuckenden Schritten, seine Hände waren wie Fieber in der totstillen Luft. »Fräulein Judith!« hatte er im Munde.

Die brennende Kette erlosch langsam. Das Licht rann aus den sonnroten Almen aufwärts. Es saß bald auf der Stirne.

Plötzlich war es im Himmel.

»Fräulein Judith!«

Aber Fräulein Judith ging stille. Die Kette wurde grau, sie wurde darauf wie trüber, dünner Wein; sie wurde nun wie bleiche blaue Tinte. Aber im Himmel entstand eine Krone über der toten Stirne, ein Rosenreifen.

»Fräulein Judith!«

Aber Fräulein Judith lächelte und ging weiter und antwortete nicht. Denn nun sank das Licht aus der Krone wieder in die Felsen herab, es wurde eine lampenhelle Hand, die legte sich über das schöne Gesicht: nun schlafe!

Und der Himmel wurde tiefblau, wunderbar blau hinter der schlummernden Brust. –

»Herr Heide?« sagte jetzt Fräulein Judith.

Aber nun ging er stille. Ha, es ist etwas Eigentümliches, dachte er, da geht ein Mädchen, sie tut, was sie will; nun dürfen Sie reden, sagt sie. Aber nun will ich nicht!

»Man hört die Glocke von Elster.«

Ja, man höre die Glocke von Elster.

»Es ist ein schöner Abend,« sagte Fräulein Judith; es sei schade, daß Mutter im Lehnstuhl sitze. Übrigens, ob Herr Heide dem Feldkönig begegnet sei?

»Nein.«

»Er baut ein Haus!«

»Fräulein Judith,« brach Heinz Heide zornig heraus, er riß sich den Hut vom Kopfe, – »merken Sie denn nicht? Das sind Redensarten, Redensarten! Der Feldkönig baut ein Haus, er baut ein Haus, er baut, jawohl!« –

Fräulein Judith wurde bleich.

»Er baut ein Haus! Ich habe ihm den Grund abgetreten, im April baut er, Fräulein Judith. Und ein schöner Abend ist es, es ist schade, daß Frau Thore, – und die Glocke von Elster hört man!« –

Fräulein Judith wurde totenbleich.

»Da,« stampfte er in den Boden hinein. »Da, das ist ein Baum, fest steht er seit hundert Jahren, und da ist ein Stein, er steht felsenfest drinnen, – aber ich! ich, – ich –«

»Verzeihen Sie,« fiel seine Stimme zusammen, er setzte den Hut auf, »verzeihen Sie!« Es kämen ihm oft sonderbare Dinge in den Kopf.

Fräulein Judiths Herz schlug: rede, rede, rede! Es wollte, die Lippen sollten sich auftun, aber es gelang nicht.

Man merke nun jeden Tag den Fortschritt des Frühlings, sagte Heinz Heide.

»Ja,« hauchte Fräulein Judith. –

Sie kamen in ein Stück finsteren Waldes, man hörte ihre Tritte nicht.

Aber da fiel ein Ast vom Stamme. »Knack« machte es im Walde, alle toten Äste taten mit.

Das sei eigentümlich im Walde, sagte Heinz Heide, jedes kleine Geräusch erschreckt.

Und im selben Augenblick rüttelte er sich, er warf alles ab. »Fräulein Judith,« sagte er frankweg heraus, »haben Sie schon einen Menschen gesehen, der verzweifelt?«

Eine eiserne Hand tat sich aus dem Boden auf, halt! faßte sie Fräulein Judith am Fuß. Aber Heinz Heide riß sie rücksichtslos aus der Schlinge, er nahm große, gewaltige Schritte.

Ja, in den Büchern treffe man das an! Da heißt es: aus Liebesgram, oder weil jemand wegstarb, oder so weiter. Aber das glaubt man nicht, das ist übertrieben, sagt man!

»Aber es kommt bei ganz gewöhnlichen Menschen vor! Knall auf Fall kommt es!«

Er könne einem Mädchen da nicht schildern, wie so etwas – »es ist auch gleichgültig! Nur das: Sie müssen wissen, der Mann hatte eine anständige Erziehung! Eine Mutter! Ich kannte sie! Wenn er Kirschen im Winter haben wollte, er bekam sie von ihr. Eine Mutter –!«

»Dabei aber – ist es Ihnen zu dunkel im Walde?«

»Nein, nein,« hauchte Fräulein Judith.

Dabei aber war er ein hochmütiger Mann, das könne er sagen. »Er tat, was er wollte!«

»Wenn da einer kam: du solltest arbeiten, lieber Freund! – er hätte genug Arbeit zu Hause gefunden, – nein! ich habe keine Zeit zur Arbeit! Er habe nicht einmal Zeit genug, sich selber zu leben! Das war Verblendung, natürlich, – Wahnsinn war es, denn der Mann bildete sich auf seine Weltauffassung furchtbar viel ein! Von Gott hatte er zum Beispiel einen feinen Begriff; er tat, so möchte ich sagen, Gott die Gnade an; – vom Menschen hingegen hielt er kolossale Dinge. Der kann alles! Allerdings – nur der Gebildete! Damit ging er durch die Welt, immer schön vorbei am Häßlichen; ich nehme das Schöne mit, dachte er, – das andere sah er nicht.«

»Oder es kam einer: lieber Freund, – denn, verzeihen Sie, er hatte eine Liebschaft! – lieber Freund, das ist nichts für dich, diese Dame –!«

Er fuhr ungeduldig in seine wirren Worte. »Herrgott, das ist ja gleichgültig, das ist vollkommen schnuppe! Aber – er ging nicht einmal zum Begräbnis seines Vaters!«

»Seines Vaters!« lispelte Fräulein Judith.

Ob Fräulein Judith noch eine Tour –? »Kehren wir um!«

»Nein, nicht! Mein Vater hat meine Mutter zugrunde gerichtet, sagte er, ich bitte!«

Es war unmöglich, was da im fieberigen Hirn geisterte, klar zu sagen!

»Es ist ein Jammer,« klagte er, er könne sich nicht ausdrücken, sie werde ihn nicht verstehen, – »aber das muß ich doch sagen: stellen Sie sich einen hochmütigen Mann vor, einen munteren Mann: mir geht es nach Wunsch, sagt er, – da, plötzlich, er sieht, vollkommen plötzlich: betrogen, ich bin betrogen! Stellen Sie sich vor: ganz plötzlich – fertig! In einem Augenblick ist alles aus!«

»O Gott, o Gott,« raste Fräulein Judiths Herz, es war in jagender Angst.

»Da möchte man glauben, etwas ließe sich doch retten von früher! Aber, – das ist das Sonderbare, es bleibt gar nichts von früher! Nur der Ekel. – Wo ist ein Strohhalm? sucht man herum, es muß doch möglich sein, wieder anzufangen, um des Himmels willen? Es ist doch noch die ganze Welt da, etwas wird doch gut geblieben sein daran! – Aber, das ist das Sonderbare, kein Haar an ihr ist gut geblieben! Man begegnet einem Briefträger, einem Fuhrmann, –: ha, ich beneide euch, ihr seid beneidenswert! Im nächsten Augenblick: ich verachte euch –!« –

Nun trat der weiße Schimmer des Eschentorhauses in das Dunkel und kam schnell nahe.

»Arbeite! riet ich ihm. Die Arbeit betäubt dich, später befriedigt sie dich! Aber er sagt: ich glaube nichts mehr, nichts, nichts, nichts, es ist nichts mehr der Mühe wert, alles ist zwecklos; lächerlich ist es! – Klammere dich an gute Menschen! riet ich ihm, – in solchen Zeiten ein guter Mensch, – einer, der frisch ist wie eine Quelle, unschuldig, es hat ihn das Böse nie gestreift, – klammere dich an einen solchen! – Was? Das sei Ironie, Unsinn sei das, es mag sich keiner um einen Verzweifelten kümmern –«

»Das ist nicht wahr, Herr Heide, das ist nicht wahr!«

»Keiner! Ich habe es erfahren, sagt er, ich bin schon herum gewesen, keiner nimmt sich die Mühe!«

»Nein, nein, Herr Heide, gewiß erinnert sich einer –«

»Keiner! – Denn, – das ist es, Fräulein Judith! – er ist ein schlechter Mann; – ich bin wie ein gemeiner Verbrecher, sagt er, was soll ich bei guten Menschen, wenn sie erfahren –«

»Nein, nein, nein, Herr Heide, um Gottes willen!«

»Er gestand es mir, Fräulein Judith! Wie kann ich herauskommen, sagt er, wenn ich das getan habe? Es läßt ihm keine Ruhe, ist das nicht Beweis? Keine Minute Ruhe hat er, – ich gäbe eine Million, wenn ich das nicht –«

»Er tat es ohne Wissen, Herr Heide, er ist ein Unglücklicher, – vielleicht – –, er war vielleicht wahnsinnig, Herr Heide?«

»Ja, – aber das bleibt dasselbe! Ein Wahnsinniger, der mordet, hat gemordet! Oder, – es fliegt ein Kind in den Fluß. Rettet, rettet! schreien alle, er aber schaut am Ufer zu, wie das Kind ertrinkt, – er hat es hineingestoßen!«

»Nein, nein, nein!« Das sei nicht so! Der Mann war ein Verzweifelter! Hatte er etwa seine Vernunft? Er hatte sie nicht! Er hatte sie nicht! Er erwachte erst, als er da am Ufer stand, – jetzt sprang er hinein!

»Ja, er sprang hinein, gewiß, das tat er, Sie haben recht, – aber er, – er hat es hineingestoßen!«

»Er erwachte jetzt, Herr Heide, Gott hat ihn aufgeweckt!« Es sei das so zu nehmen, sie begreife vollkommen; das müsse er, – »Herr Heide, das ist so: ein Mann in der Verzweiflung, verstehen Sie nicht? – Gott weiß das, es war Verzweiflung! – Gewiß, es ist sonderbar, aber oft werden Schuldige durch eine Sünde, und Verzweifelte werden oft durch etwas Schreckliches aufgeweckt, – sie morden, sie zünden ein ganzes Dorf an, – ›soweit ist es gekommen!‹ will der Herr zeigen –«

Heinz Heide fuhr auf, seine Augen wurden starr vor Staunen –

»Gottes Wege sind unbegreiflich – –!« – o Gott, o Gott! betete ihr Herz, – »Sie müssen nur denken, wer wollte ein unschuldiges Kind in das Wasser stürzen? – aber in der Verzweiflung –?!« –

»Fräulein Judith!« stürzte er auf ihre Hände zu, umklammerte sie, küßte sie, – »Fräulein Judith, helfen Sie mir!«

»Ja, ja, ja,« weinte sie, laut weinte sie, der ganze Wald weinte vor Freude.


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