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18

InitialIm Grafenzimmer, zur Christtagsdämmerung, kommt der kleine Kiebitz zur Welt. Er ist ein gesunder Kiebitz, er schreit heiter durch das Haus, das Haus erholt sich vom Schrecken, Männlein und Weiblein schleichen vor die Tür des Grafenzimmers und lauschen; »er schreit!« lächeln sie.

Der Kiebitzvater, man sollte es einem Bauern nicht zumuten, hat Tränen. Er geht den ganzen Abend um Heinz Heide herum. »Herr,« versucht er ihn jede Viertelstunde anzureden, aber er bringt nichts heraus.

Es kommt aber einmal der Pfarrer herbei, der hilft dem verlegenen Manne. »Ja,« sagt er, »Herr Heide, das haben Sie gut gemacht. Denn, – ja, das mag kein Kleines gewesen sein, auf einmal bricht die Bahre –!« – »Stangenholz!« seufzt der Kiebitz, er habe es dem Doktor wohl gesagt, »sie ist schwer, habe ich gesagt, und die Stangen waren schon angefressen –.« »Herr,« schaut er Heinz Heide tiefdemütig an, »vergelt's Gott, vergelt's Gott!«

Sie sind alle in gerührter Stimmung, wie sie überstandene Gefahr erzeugt. Denn plötzlich hilft ein jeder, die Schwermütigsten lachen. »Das soll man sich keine Sorge sein lassen, dafür wird gesorgt werden!« Mehl oder Fett? Was? Zu wenig Betten? Der Haller springt nach Tannenfreygg, die Eschentorer Knechte laufen nach Eschentor, der Lärchentroger, der Nachtigaller, der Berberitzer, die Wildeicher, der Lichtmesser räumen in einer glücklichen Großmut die Höfe aus, vor den Verwalterhäusern, darin die Abgebrannten wohnen, fahren die Schlitten auf, die Knechte tun wie Verschwender.

Und in den Stuben: »Wie der Herr die Kiebitzin heruntergetragen hat! Wie ein Brett hat er sie vor sich getragen!«

»Heilige Jungfrau,« erzählt die Worweberin in einer dichtvollen Stube, »aber sonderbar ist's gewesen, wie der göttliche Wille! Niemand hat ihn wecken können, aber auf einmal, – heilige Mutter, sei gepriesen! – ich sehe noch den Doktor ausgleiten, die Bahre bricht zusammen, ein Streubrand saust vom Dach herunter, – heilige Mutter! – da ist er, wie aus dem Boden gezaubert! Sie wär' elend zugrunde gegangen, sie ist schon ins eisige Rutschen gekommen!«

»Und ins beste Zimmer hat er sie gelegt!«

»Die Johannisbuben liegen in seinem eigenen Bett!«

Er habe gesagt, die Abgebrannten sollen im Verwalterhause bleiben bis um Martini. Er will bauen, sobald das Eis fort ist.

Er gehe immerzu von einem zum andern. »Wie geht's, Johannes?« hat er den Johannes gefragt. »Nicht verzagt sein, Johannes!« hat er ihm zugesprochen, »der Doktor bleibt im Haus, bis alle gesund sind.«

»Die Patenschaft für den kleinen Kiebitz hat er angenommen!« –

Es ist zum Beispiel nur noch ein freies Bett im Heidehause für diese Nacht. »Nein,« sagt der Pfarrer, ihm mache das gar nichts. Er liege auf dem Boden. »Mir ist es ein Vergnügen, auf einem Sessel zu schlafen,« erklärt Pius Vesper. Lorelock lacht sie aus. »Herr Heide, Sie sind am angegriffensten, Sie müssen schlafen!«

»Gott bewahre! Gott bewahre!« ruft Heinz Heide erschreckt aus, man werde ihm doch nicht zutrauen, – er sei es gewöhnt, zu wachen; Fräulein Judith müsse sich zu Bett legen.

Sie schlafe mit ihrer Mutter im Speisezimmer auf den Korbdiwans. Es sei dort vorzüglich zu schlafen!

Das Bett blieb leer.

Am nächsten Morgen, Fräulein Judith deckte den Frühstückstisch im Saal, schoß Heinz Heide herein. Er prallte zurück. »Oh, verzeihen Sie,« bat er, er wollte gleich wieder davon.

»Ob das Haus nicht sein Haus sei?« lächelte Fräulein Judith.

Er wagte es aber nicht, sie anzuschauen. »Jawohl, jawohl,« lächelte er.

»Er müsse erlauben,« sagte Fräulein Judith, »daß sie ihm das Haus einstweilen in Ordnung halte. Er fände sonst zuletzt eine Mördergrube.«

»Oh, das besorge sie nicht. Die Leute seien außerordentlich bescheiden. Übrigens –«

»Übrigens,« lächelte Fräulein Judith, »dürfte mir nicht das Verwaltermädchen helfen?« Es sei vieles zu besorgen.

»Ach,« schreckte Heinz Heide auf, »das Verwaltermädchen ist seit drei Wochen nicht mehr im Hause.«

»So? Und ich suche im ganzen Hause nach ihr!«

»Sie hatte Heimweh.«

Ja, aber war dann Herr Heide ganz allein im Hause?

»Oh, ich nahm Tee. Ich liebe Tee sehr.«

Er habe in seinem Zimmer auf dem Sofa geschlafen. – –

Er war vollkommen umgewandelt.

Er war Tag und Nacht auf den Beinen, unermüdlich besorgt. Er verließ nur für Minuten das Haus, er stand dann davor und schaute daran empor und sah sich im Finstern sitzen.

Er lief dann jedesmal auf den Brandplatz und besichtigte die Stelle, wo er die Kiebitzin gerettet hatte. Er ging den Weg von der Laast herab und wieder zurück. Nun kam er mit den Johannesbuben, einen links im Arm, einen auf der Schulter.

Er setzte sein Rettungswerk herab. Es sei nichts besonderes daran gewesen. Infolge der Überraschung, daß er plötzlich kam, standen die anderen von der Arbeit ab und ließen es zu, daß er sie tat.

Aber wenn er dann die Gesichter der Leute sah, sie kamen einer nach dem anderen zu ihm und dankten, atmete er auf: ich habe doch etwas geleistet! Er freute sich, wenn ihn Lorelock beiseite zog: »Herr Heide,« sagte er, »wie denken Sie, daß wir das machen sollten? Der Eulenhofer sagt, er hat einen Pfandbrief gehabt, der ist natürlich verbrannt!«

Das freute ihn. Oder wenn der Lehrer kam: »Herr Heide, ob die Leute Ihre zwei Gäule brauchen dürfen? Der Berberitzer weiß umzugehen.«

Er lachte dann, er trat in den Schnee hinaus, der Himmel war blitzblank darüber. Es gefiel ihm, er atmete tief, er sah im Tannenfreygger Schnee einen schwarzen Mann gehen. In der Sonne, wie der Mann in die Sonne kam, wurde er ein roter Käfer.

»Herr Heide,« rief ihn da Tobias Weiße.

Eilfertig kehrte er sich um.

Ob er etwas dagegen habe, wenn das Kind in seinem Hause getauft werde?

Wie ihn das freute!

Gegen Abend, die Kiebitzin schlief und Loreloy hatte den Johannesbuben den Verband angelegt, saß er in seinem Lehnstuhl. Er war ein bißchen müde, mochte ein bißchen einnicken, da stand Fräulein Judiths Mutter in der Türe.

Was dürfe man Herrn Heide zum Abendbrot bringen? fragte Frau Thore mit dem silbernen Scheitel.

Ach, daß sich Frau Thore bemühe! wurde er rot. Er bedauere so sehr, daß er ohne Bedienung, – »aber,« sagte er, »nein, ich bitte, sich nicht zu bemühen, ich brauche wirklich nichts.«

»Was nicht gar!« Es sei alles im Hause.

Höchstens ein Omelettchen; vielleicht. Oder etwas Tee. Tee liebe er sehr, »ein Schnittchen Brot dazu.«

Frau Thore schüttelte den Kopf, sie lächelte fast zärtlich.

»Übrigens« lief er ihr in die Halle nach, – ob die Monika eine warme Decke habe?

Frau Thore lächelte. »Gewiß, gewiß!« sagte sie. –

Er hatte nun schöne Nächte in seinem Knabenstübchen. Er lag nächtelang ganz ruhig da und dachte nach. Das tat wohl.

Er lief eines Morgens Fräulein Judith entgegen; es war ihm nachts eingefallen, er müßte Fräulein Judith irgendwie sagen, daß ihm nun leicht sei; sein Herz habe begonnen, still zu sein, er danke das ihr. Ja, hatte er in der Nacht sich vorgenommen, ich werde das Fräulein Judith ganz offen sagen, ich werde sagen: Fräulein Judith, ich danke Ihnen! Was wäre mit mir geschehen, wenn Sie nicht gerufen hätten?

Aber Fräulein Judith wünschte schnell »Guten Morgen, Herr Heide!« sie hatte eine Lampe in der Hand. Da versank ihm jedes Wort, er wagte es nicht, ein einziges auszusprechen. Er verbeugte sich und ging davon.

Gegen Abend einmal pochte er an die Mägdekammer, und als niemand »herein« sagte, trat er behutsam ein. Es war fast dunkel. Aber das Weiblein im großen Bette mußte ihn erkannt haben, es fuchtelte mit den Kissen und Decken auf und nieder, es war in schrecklicher Verlegenheit. »Mein Gott,« flüsterte es, »der gnädige Herr!«

Er setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hand. Da schnellte sie behende empor, sie keuchte ein bißchen, und küßte seine Hand. »Mein Gott, der gnädige Herr, der gnädige Herr!«

Ob sie Fieber habe, die Monika? behielt er die runzelige Hand.

»Keine Spur von Fieber.« Es sei nur der Doktor ein so ängstlicher Mann. Sie fühle sich sehr wohl, es sei Faulenzerei, so liegen zu bleiben, – »und im Hause keine Magd!«

Er verbiete ihr strengstens, aufzustehen. Es seien genug Leute oben, die arbeiten.

Aber sie höre, der Herr wolle gar nichts essen. Er schliefe nicht einmal in seinem Bett. »Oh,« – sie mußte sich eine Träne fortwischen.

Er lachte. Sie solle an sich denken. Er sei prächtig versorgt. –

Er stieg in die Küche hinauf, er trat scheu in das Licht.

Da war Frau Thore.

Er bitte um Entschuldigung, verbeugte er sich, »könnte ich etwas Himbeersaft haben?«

Aber sie fanden keinen Himbeersaft. Frau Thore rief Fräulein Judith. Ob sie Himbeersaft gesehen habe?

»Gott,« wie leid ihm das tue, er wollte nicht stören, es fiel ihm aber gerade ein: ein Glas Himbeersaft.

Frau Thore meinte: Limonade könnte man bereiten?

»Nein, ich danke.« Limonade, – es sei ihm plötzlich ein Gelüste nach Himbeersaft gekommen.

»Gießhübler?« rief Fräulein Judith.

»Nein,« lächelte er; man möge verzeihen. »Verzeihung, meine Damen!« bat er.

Aber er kam nach einer halben Stunde wieder. Er schlich, als ob Kranke in der Küche lägen. Es sei ihm eingefallen, man habe im Hause stets ein paar Gläser Himbeersaft in einem eigenen Kistchen im Speiseraum gehalten. »Wir mochten Himbeersaft sehr gerne,« – ob er nachsehen dürfe?

Fräulein Judith ging mit einer Kerze in die Speisekammer voraus. Und wahrhaftig, da stand das Kistchen, es stand genau an der angegebenen Stelle. »Da ist es!« rief Heinz Heide, es sei doch merkwürdig, nach so langer Zeit! »Aber ich erinnerte mich!«

Fräulein Judith wollte nun das Getränk bereiten. »Nein,« er besorge das selbst! Er nahm eine große dunkelrote Flasche mit sich und ein Krüglein mit Wasser. –

Die Monika schlief, als er mit dem Glase bei ihr eintrat. Er verdeckte die Kerze mit der Hand, aber er sah sie doch. Das Gesicht war gelb und runzelig, unzählige schwere Stunden hatten es zerpflügt. Das aber, was ihn so rührte, daß er sich niederbeugen mußte, waren die zwei dünnen weißen Zöpfchen, die auf dem Kissen lagen.

Es überkam ihn bei diesem Blick eine Art von Heimweh, vernehmlich redete etwas zu seinem Herzen, aber die Kranke seufzte auf, als er den Löffel in das Glas senkte und damit klimperte. Nun erwacht sie, dachte er, blies das Licht aus und schlich sich hinaus.

Oben im Flur standen Tobias Weiße und der Lehrer. »Herr Heide,« flüsterte Tobias Weiße ihm zu, leise, denn drinnen schlief die Kiebitzin, »wir wollen Abschied nehmen!«

Er erschrak heftig. In der Furcht vor der Einsamkeit, und weil es ihn so schön gedünkt hatte, plötzlich mitten unter Menschen zu sein, brauste er auf: er gebe das nicht zu! Man möge bedenken, jede Stunde könnten die Wöchnerin und die Johannesbuben –, »man weiß von einer Stunde nichts zur anderen! – und auch der Herr Lehrer,« erinnerte er, »es gibt ja, denken Sie nur, was es alles zu tun gibt! Da muß vor allem noch Brandwache gehalten werden, denn es ist erst der achte Tag, – es ist erst der achte Tag! – und dann die Laaster drüben, – wer weiß, wie es ihnen geht?« Sähen die Herren denn nicht, daß überall zu arbeiten sei, »und mit vereinten Kräften,« – kurz er lasse sie nicht fort!

Der Pfarrer erwiderte, die Kiebitzin befinde sich schon bei Kräften, und mit den Johannesbuben sei der Doktor auch zufrieden. Und der Lehrer sagte, die Brandstätte sei völlig mit Schnee eingedeckt worden, er käme gerade von oben, – und was die Laaster anbetrifft –.

»Und übrigens,« fiel Tobias Weiße mit einiger Verlegenheit ein, »wir können Ihre Gastfreundschaft nicht so lange –«

Heinz Heide war empört. »Ein Werk der christlichen Nächstenliebe!?« »Fräulein Judith,« lief er ihr entgegen, denn sie kam gerade aus der Küche, »Fräulein Judith, die Herren wollen fort; sie sagen, – sagen Sie den Herren! – ja ich brauche sie ja!« rief er aufgeregt.

Fräulein Judith sagte, sie finde Herrn Heides Bitte sehr begründet. Sie denke, die Herren müßten das wohl einsehen, »wir sind noch nicht aus der Angst, es sind erst acht Tage her!«

Da gaben sie nach und folgten ihm zufrieden in den Saal. Tobias Weiße legte eben den Mantel ab, als Lorelock kam. Er lächelte, »Herr Heide,« wies er auf seinen Mantel, »hat uns erlaubt, noch zu bleiben.«

Lorelock beachtete das nicht, er ging auf Fräulein Judith zu. »Fräulein Judith,« blickte er sie an, »haben Sie den Schafbuben vom Siebenfahrer beim Brande gesehen?«

Fräulein Judith besann sich.

»Den rothaarigen? Den von Wildeiche?« fragte Pius Vesper.

Er kenne ihn nicht, sagte Lorelock.

Es käme ihr vor, – »ja,« versicherte Fräulein Judith, »ja, ich sah ihn. Er hat ja den Stier eingefangen.«

»Mit dem Christus vom Eulenhofer ist er aus dem brennenden Haus gelaufen. Ich weiß es, die Nachtigallin schrie: der Hirt hat den Herrgott!« – Darauf könne er sich genau besinnen, beteuerte Tobias Weiße.

Lorelock setzte sich nieder.

»Setzen sich die Herren nieder,« bat Heinz Heide, er freute sich auf den traulichen Kreis. »Fräulein Judith, ich bitte hier!«

»Nämlich,« sagte Lorelock, »es ist bis heute nicht herausgekommen, wie das Feuer entstand!«

»Die Leute sagen,« beeilte sich der Pfarrer im Niedersetzen – »einer von den Laasterknechten habe, bevor sie zur Mette gingen, unvorsichtig mit der Laterne hantiert –?«

»Die Leute behaupten aber ganz richtig,« sagte Lorelock, »dann mußte das Feuer früher ausgebrochen sein, denn die Knechte gingen schon nach elf Uhr fort. Sie sagen aber, sie bemerkten das Feuer erst gegen ein Uhr. Auch der Gregori vom Haller sagt so; als er nach der Kommunion aus der Kirche ging –«

»Es konnte aber schon früher entstanden sein und wurde doch erst spät entdeckt!?« sagte Heinz Heide. Er rückte zappelig seinen Stuhl. »Oder eines der Weiber, die zu Hause blieben –?«

»Aber, – das Feuer kam nachgewiesenermaßen beim Worweber aus! Beim Worweber aber war kein Mensch zuhause!« – Es sei ein Rätsel!

»Aber« – sprang der Pfarrer erregt auf, »ich erinnere mich: der rothaarige Hirte war ja in Tannenfreygg! Jawohl, beim Spritzenhause stand er, der Haller räumte ihn aus dem Wege, als wir das Spritzenhaus einstemmen wollten.« Er habe sogar seine roten Haare gesehen. –

Warum man überhaupt jemand in bösen Verdacht bringen wolle? fragte Fräulein Judith. Sie glaube an eine natürliche Ursache des Feuers. Gewiß, es muß durch irgendeine Schuld entstanden sein, das ist sicher. Aber derjenige, der schuld ist, weiß es gar nicht.

»Ja, das ist auch meine Ansicht,« stand Heinz Heide auf und setzte sich sofort wieder. »Einer, – ich bitte, – einer, nicht wahr, im Stall oder in der Scheune, vollkommen gutgläubig, er zündet die Laterne an, fitsch, ein Funken oder ein Körnchen Schwefel, –« es könne Stunden dauern, bis so ein Brand sich emporfrißt!

»Gut! Aber die Leute! Der Siebenfahrer ist ein eigener Mann! Er hat mit dem Worweber eine alte Feindschaft, – und überhaupt, – benahm er sich nicht in einer höchst auffälligen Weise?« Lorelock tat es nicht wohl, das zu reden, er hinkte mit den Worten.

»Er war betrunken,« betonte Fräulein Judith. Aber deswegen allein?

»Ich –« wollte da der Lehrer hinaus, er wollte, – ja, sagte er sich: das muß heraus, man muß offen reden! Aber siehe da, er vermochte es nicht, vor Heinz Heide zu erzählen, warum er den Siebenfahrer in den Schnee geworfen hatte.

»Die Leute,« zuckte Lorelock die Achseln, »wollen den Gendarmen. Ich soll beim Herrn um die Anzeige bitten. Sie verdächtigen den Siebenfahrer!«

Heinz Heide wurde dunkelrot, er bekam beide Arme in Bewegung: »Gendarm?« Das dulde er nicht! Unter seinen Leuten gebe es keine Brandleger! »Der Brand war ein Unglück! Ein Unglück ist er, jawohl – aber –«, oder sollte man etwa die Leute noch unglücklicher machen? Sollte man – er wurde jetzt bleich.

»Schön! Gut!« sagte Lorelock heiser vor Erregung – »aber, ja, Herr Heide, waren Sie nicht auch in der Kirche?«

Heinz Heide drehte sich herum.

»Der Peter vom Klaus will Sie gesehen haben –!«

»Der Peter?«

Heinz Heide lief an den Tisch und legte die Hände darauf.

»Der Peter? – Natürlich! das stimmt!«

»Ich bin rein zufällig daraufgekommen! Ich kehrte abends von einem Abstecher in die Stadt zurück und sitze da und arbeite etwas, irgend etwas, – da schaue ich einmal hinaus. Ha, was ist das? sagte ich. Die Laternen da, und die Glocke –«

»Wenn man so allein ist, man vergißt alles! Wie gesagt, da fiel es mir ein: es ist Christnacht.« – Er habe sich dann schnell aufgemacht, – es war übrigens schwer zu gehen im Walde, – und kam also in die Kirche. »Ich lehne da an einem Pfeiler, – die Kirche war ja gesteckt voll. An einem Pfeiler, wie gesagt, ich lehne, – da überfällt mich plötzlich, ganz plötzlich der Schlaf. Ein Schlaf,« – er schaute sie alle fest an, »ein Schlaf überfällt mich, nicht zum Sagen! Ich denke mir: widerstehe! Aber es ist richtig, ich war müde, ich hatte einige Nächte nicht geschlafen, – es ist nicht anzukämpfen! Nein, denke ich, in der Kirche schlafen? Da ist es gescheiter, – es war eine schreckliche Sehnsucht nach Schlaf, – da ist es gescheiter, du gehst.« – Darum sei er beim Gloria auf und davon gegangen, – »ich brachte mich kaum herüber.«

»Und da sahen Sie noch nichts?«

»Nichts, gar nichts. Ich stand ziemlich lange vor dem Hause, mein Schloß ist ruiniert gewesen, ich dachte: welch eine klare Nacht, über dem Elfwiesengrunde stand ein großer Stern –«

»Ob Herr Heide dann geschlafen habe?«

»Ich weiß nur, ich sprang hinauf, – und ohne mich auszukleiden, ins Bett. Das weiß ich.«

Sie saßen alle stumm. Lorelock rauchte die Pfeife.

»Und so kam das ja! – Ja,« begann Heinz Heide wieder und schlug verächtlich mit der Faust auf den Tisch, »es ist ein Skandal, ich sage das selber. Es ist ein Skandal! Der Herr schläft! Da brennt alles zusammen, ich wäre der erste, der helfen soll, – der Herr schläft! Alles rettet, ein jeder tut sein Bestes, – nichts! Der Herr schläft! Es rennt zuerst der Lehrer herab, Herr, schreit er, er schreit, was er kann, – nichts! Es rennt dann –«

Er sah nach Fräulein Judith hin, aber Fräulein Judith blickte auf den Tisch.

»Und so weiter!« Und wenn da, – »das wollte ich eben sagen: wenn der Siebenfahrer, – ich höre, er schimpfte, – er soll gerufen haben: kitzeln wir den Herrn aus dem Bett! mit einem feurigen Rütel kitzeln wir ihn heraus! – – – bei Gott, ich muß sagen: ich verstehe das; ich verstehe seine Erbitterung –.«

Er setzte sich nieder.

»Hm,« rauchte Lorelock.

»Aber,« sprang er empor und streckte sein Gesicht der Versammlung zu, es war weiß vor Erregung, »aber – so wahr mir Gott helfe –« – –

In diesem Augenblick stürzten alle empor und schrien auf, ein Mann flog wie der Wirbelwind in das Zimmer herein, mit ausgestreckten Armen blieb er mitten im Zimmer stehen.

»Das ist, –«

»Severine, Severine!« erkannten sie ihn und schossen ihm zu; ihr Gelächter riß ihm den Havelock von den Schultern. Der Pfarrer rannte um ihn herum, der Lehrer stand vor seinem offenen Munde. »Severine, Severine!« brüllte Lorelock, er brüllte, daß die Wände zitterten, – »er ist es wirklich und wahrhaftig!«

Und »Severine, Severine!« begann er von neuem.

»Pst,« machte da Heinz Heide, und deutete nach dem Nebenzimmer hin. Da wurden sie ruhig und traten vor ihm zurück.

Er aber warf nun sein schäbiges Ränzel auf den Boden, seinen Hut auf das Ränzel, schaute sich im Kreise um, und sank dann wie ein Stück Holz auf einen Sessel.

Nun blickten sie ihn an und schwiegen. Ach so, schwiegen sie, er wußte es nicht!

Es wurde eine schwere Pause.

Endlich klopfte Lorelock auf seinen Pfeifendeckel: »Hm,« machte er.

Und als der Mann im Traume blieb, sagte er so dahin: »Er käme auch zu unserem Begräbnis zu spät!«

Der Feldkönig warf den Stuhl um. Er schrie: »Ich wollte ja, ich wollte ja!«

Er fiel auf den Stuhl zurück.

»Hm,« machte Lorelock.

»Ich wollte,« fuhr sich der Feldkönig verzweifelt in die Locken, »ich sagte zu Fritz Geberlein, – er ist aus Thüringen, –: am heiligen Abend bin ich zu Hause!«

»Fritz Geberlein?« spöttelte Lorelock.

»Er ist aus Thüringen. Nein, sagte er, es war am Thomastage, wir kamen den Po entlang aufwärts, – wir müssen noch nach Venedig! – Ich wollte nicht, ich wehrte mich, ich sagte: ich muß heim! Aber Fritz Geberlein behauptete: wer den Markusplatz nicht gesehen hat –« – –

Hier verließ Fräulein Judith das Zimmer. Und nach einer Minute, als der Feldkönig seine Verteidigung gerade unterbrach, erhob sich auch Heinz Heide. Er hielt es nicht aus. »Severine,« sagte er, schon an der Türe, er war etwas bleich, »machen Sie mir das Vergnügen und wohnen auch Sie unter meinem Dache; Ihr Kämmerchen auf der Laast ist mitverbrannt!«

Es brannte eine Hölle in ihm, er mußte aus dem Hause!

Er rannte auf dem Schnee einher. Da erblickte er vor den Verwalterhäusern Fräulein Judith. Er rannte auf sie zu, ein Weib, mit dem Fräulein Judith gesprochen hatte, schied in das Dunkel. »Fräulein Judith,« ergriff er ihre Hand.

Ob sie ein paar Schritte mit ihm –?

Sie gingen vom Hause fort über den Wiesenschnee.

Alle Sterne waren im Himmel, sie brannten vollkommen stille. Aus weiter Ferne, über allen fernen Gipfeln und Bergbögen brannten sie.

Unter den Sternen war der Wald schwarz, und unter dem Walde, ein bißchen bestrichen mit Glanz, dämmerte der Schnee. Gegen Osten zu lag das Land hell vom Schneeleuchten.

»Man sieht Frau Lorelocks Lampe,« sagte Fräulein Judith. »Sie ist zu den Kindern gegangen.«

»Es ist schrecklich,« brach Heinz Heide hervor, »ich kann keine Ruhe bekommen, daß ich schlief!«

Fräulein Judith erschrak.

»Das ist ein schöner Schlaf, werden die Bauern sagen! Das ist kein Schlaf! Jeder könnte das sagen!« Er wisse es genau, »genau weiß ich es, das sagen sie. Ich merke das, an allem!« Aber, redet etwa einer aufrichtig zu mir? Der Doktor oder der Lehrer, – der Pfarrer – –?«

Er blieb stehen, der ganze Mann zuckte. »Fräulein Judith, reden Sie!« stieß er hervor.

Was hätte sie da zu reden?

Sie möge sagen, ganz offen sage sie das: Herr Heide, Sie sind ein schlechter Mensch! Niemand hätte das von Ihnen gedacht! »Sie müssen das sagen, einer muß das sagen; aber sie hocken alle um mich herum wie die Fliegen um das Fleisch, ich merke das, ein jeder möchte es gerne sagen, – aber, – oder stellt sich etwa einer hin und sagt: Herr Heide, wie steht es in dieser Beziehung bei Ihnen?«

Sie verstehe ihn nicht! Herr Heide habe zugestandenermaßen geschlafen, – also? »Und dann retteten Sie die Kiebitzin und trugen die Johannesbuben herab.« Wie käme da einer dazu?

Aber er ließ nicht nach. Sie möge verzeihen, aber das sind Worte! »Ich erkenne die Verhältnisse genau! Ich erschlage jemand, jawohl, nehmen wir das an, ich tue das. Alle werden es glauben, sie werden sogar auf mich deuten: er hat es getan, – sie werden sagen: seht, wie er herumgeht, er hat Gewissensbisse, – aber wer kommt her und stellt sich vor mich hin: Du bist es?!«

Fräulein Judith zitterte.

»Ich bin auch ein Mensch! Hie und da, ich bin auch ein Mensch, in der Einsamkeit, – kennen Sie das nicht?: ich muß zu jemandem reden. Man weiß nichts mehr von sich. Wer bist du? fragt man sich in der Einsamkeit. Man sieht sich an, ganz hinein sieht man, man erschrickt: das bist du? Und kein Mensch ist da, es kommt kein einziger, der da sagen würde: lieber Freund, so geht es nicht weiter!«

Herr Heide habe sich immer abseits gehalten, die Leute glaubten, er wünsche es so. »Sie sind ja der Herr!«

»Ich bin der Herr! Was heißt Herr? Herr!« Er hätte zugrunde gehen können, – es kam niemand! »Ein Feuer hat ausbrechen müssen, bis man mich rief!«

Fräulein Judith wurde kühn. »Man rief Sie, weil die Leute drohend wurden.«

»Aha! – Aha! Also deshalb? – Sehen Sie!?«

Sie fiel ihm ins Wort. »Sie sagten ja selbst, – sagten Sie nicht selbst, Sie verstehen die Erbitterung?«

»Es ist also wahr, – bitte, das habe ich zu wissen! – es ist also wahr, daß einige flüstern, der Herr selber hat das Feuer –?«

»Herr Heide!« sprang Fräulein Judith aus dem Schritte. Sie stand wachsbleich vor ihm. Wie er so etwas denken könne!

»Sehen Sie doch die Leute an,« sagte sie zitternd, »sehen Sie sie an, – Herr Heide!«

Mehr vermochte sie nicht zu sagen. – –

Er wurde etwas ruhiger. Aber er saß doch noch mit einer schweren Brust in seinem Knabenstübchen vor der Lampe, den ganzen Abend, und ging nicht in den Saal hinab zu den andern. Er legte Pläne vor sich aus: es muß gutgemacht werden! Gutmachen! Er hatte eine fieberige Eile, wo sollte er beginnen? Das hastige Erinnern an alles, was vorher war, jagte ihm die heiße Röte ins Gesicht, er schloß die Augen. Er wollte morgen schon mit dem Baumeister verhandeln; ein jeder sollte es besser bekommen, als er es vor dem Brande gehabt. Berge von Arbeit, Arbeit, Tag und Nacht Arbeit, häufte er vor sich auf, eine gierige Sehnsucht nach Arbeit und Wohltun erfaßte ihn.

Er saß, ohne sich zu rühren.

Gutgemacht mußte werden! – –

Spät in der Nacht klopfte es. Er fuhr auf, der Feldkönig trat herein.

Er hatte zuerst stöhnende Worte der Reue, dann heiße Worte der Freude. Es sei ein Glück im Unglück! Überall sei er schon gewesen, auf dem Brandplatz, bei den Laastern, bei den Johannesbuben, sogar bei der Kiebitzin. »Herr Heide, Ihr Verdienst ist es, daß niemand umkam! – Und ich – acht Tage zu spät!«

Dann aber –: er habe einen delikaten Auftrag!

Er hielt etwas verborgen in der Hand.

»Da stehen wir,« lächelte er, »Fritz Geberlein und ich, vor ein paar Tagen vor der Kirche San Paolo e San Giovanni in Venedig. Ha, den Colleoni! sagt Fritz Geberlein zehnmal, er geht um ihn herum wie der Löwe um den Menschenkäfig. Den Colleoni! Aber ich bin gerade anderweitig beschäftigt, – ›Teufel, den Mann auf dem Rosse schau an!‹ schreit Fritz Geberlein, – ein kleines Mädchen, ein zerlumptes Kind, steht da und macht die Augen groß auf zu mir! Welch wunderliebliches Kind! sage ich; ich gehe zum Mädchen hin, ich will es anreden, – ›Herr Feldkönig!‹ höre ich da rufen!«

Wer ihn in Venedig rufen könnte? dachte er. »Herr Feldkönig!« – noch einmal!

Wer, glaube Herr Heide, könnte das gewesen sein? »In Venedig?«

Heinz Heide war ungeduldig. Das wisse er nicht. Wie sollte er das wissen?

Mag er sich verstellen! dachte der Feldkönig und machte ein listiges Gesicht. Ich bin doch klüger. »So?« sagte er. »Nicht wissen? Wirklich nicht erraten?« und klappte die Hand auf. Da kam ein Briefchen zum Vorschein.

Er legte es Heinz Heide auf den Tisch hin, sehr behutsam, und sagte innig: »Wohl zu ruhen!«


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