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InitialVom Finkenberge sagten die Freygger, er trüge in seinem Rücken das Gesicht einer schlafenden Jungfrau. Als Heinz Heide heimging, wuchs aus dem Berg eine dunkelblaue Wolke, von der Gestalt eines Armes. In der Hand dieses Armes hing goldblank die Mondsichel.

Heinz Heide ging langsam, er schaute in das Goldblank: mir ist etwas Gutes geschehen! –

Am Morgen flog er aus dem Hause, er stellte sich in die Sonne und schaute ringsumher. Was war da vor ihm, rund um ihn?

Von den Augen fiel ein Nebel nieder: er sah zum ersten Male Buchenfreygg wieder!

»Ha,« sagte er, »ein Mädchen vom Lande hat mir die Augen gewaschen!« Und er lachte spöttisch, denn noch war es nicht sicher, ob sie rein blieben. »Stimmungen!« sagte er, er pfiff ein Liedchen.

»Nein, ich werde Fräulein Judith heute nicht im Walde treffen!« sagte er.

Aber gegen Mittag stand sie plötzlich im Walde.

Ich werde ungezogen sein, sagte er; es war eine sentimentale Szene gestern, sie soll die Reaktion verspüren! »Euere Herrlichkeit, guten Morgen,« sagte er, »die vernünftigsten Menschen sind hie und da verrückt.«

Aber Fräulein Judith sagte: »Sehen Sie nur dies Grün, Herr Heide!«

Schön, dachte er, sie ist taktvoll!

Das Grün kam aus der Erde hervor, allerorten. Die braune Erde sprang überall auf und das Grün sprang hervor.

»Und die Berge!« sagte Fräulein Judith.

Auf allen Bergen, rundherum, ward es grün. Eine grüne Geburt war es rundherum.

»In die Bäume springt es, Herr Heide!«

Denn das Grün kroch wahrhaftig in die Bäume. In den Birken war es nur so ein Schimmer, seidengelbgrün.

Heinz Heide lief eine Stunde herum mit Fräulein Judith. Wahrhaftig, seine Augen sahen! »Wohin sind nur die unzähligen, braunen Blätter verschwunden?« sagte er. »Das ist merkwürdig!«

Noch merkwürdiger war es, wie die Vögel den Frühling erfahren hatten; wie Mückenschwärme stürzten sie aus dem Südblauhimmel herab.

Aber am merkwürdigsten, alte Leute, wie Tobias Weiße und Frau Thore, die es so oft Frühling werden gesehen hatten, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen, »ja, sagt nur, woher? Woher?« riefen sie.

Der Frühling ging bei allen Fenstern herein. Ich mache ihm ein kaltes Gesicht vor, pfiff Heinz Heide. Aber er merkte, wenn er das Gesicht nur hinausstreckte, es war ein freundliches Gesicht.

»Larifari,« pfiff er, »mich geht das nichts an.« Es sei auch der Frühling eine Komödie. »Reaktionen, Reaktionen!«

Aber da bemerkte er: ich saß eine Stunde lang und habe die Wiesen angeschaut!

Die wuchsen unheimlich schnell. Abends waren die Halme zwei Zentimeter lang, morgens schon zehn.

»Herr –!« krächzte eine Stimme.

»Ihr sollt mich in Ruhe lassen,« fluchte Heinz Heide. Aber er sprang gegen seinen innersten Willen auf, es war der Matthä, der ihn rief: »Die Forstleute sind da.«

Die Arbeit dauerte bis in den Abend. Heinz Heide war voll Eifer. Ich rege mich auf, pfiff er, und stieg nächsten Morgen mit den Forstleuten ins Wildeichenrevier für fünf Tage.

Dabei kam es vor, daß etwas in ihm drin sagte: Nun setzen wir uns nieder; da ist eine Eberesche!

Und so saß er vor der elenden Eberesche, die kahl war und sich im Winde ganz sanft bewegte. –

Einmal lag ein Porphyrklotz im Wege. Ein häßlicher, unten hatte er eine Kruste von Aprilschlamm stecken. Nun setzen wir uns wieder, sagte das in ihm drin; dieser Klotz gehört dir! Auf deinem Grunde liegt er! Er liegt seit ungezählten Jahren!

Es hämmerte durch den Wald.

Woher hämmert es?

Er lief durch den Wald, ganz gegen seinen innersten Willen war er voll eigenartiger Freude: von der Lichtung sah er in die Laast hinab, von der Laast kam das Hämmern. Er sah die Laaster wie Ameisen den Weg nach dem Baue hinaufziehen, Steine, Holz, Ziegel, Kalk schleppten sie und riefen sich zu. –

»Es geht kräftig vorwärts auf der Laast,« sagte er im Heimkommen zum Feldkönig. Er rieb sich die Hände.

»Eine schöne Luft war über dem Boden. Der Boden roch wundervoll; wir setzten siebenhunderttausend Pflanzen!«

Und da vergaß er seinen innersten Gegenwillen gegen alle Besserung. »Severine,« sagte er, »es ist etwas Eigentümliches!«

Bei diesen Worten erriet der Feldkönig gleich mehr, als er sollte. Und er, der selber im Frühling stand wie eine Osterkerze, und voll war von verschwenderischen Wünschen für alle Erdentalpilger, so daß er oft in die blauen Aprilhoffnungen rief: Coele benedicte, terra benedicta, cor benedictum! – fiel jetzt Heinz Heide um den Hals: Frater benedicte! rief er aus, – und seit diesem Tage sagten sie sich wieder du.

»Was ist mit dir?« fragte dann Heinz Heide; er sah das Jubilierende in des Feldkönigs Augen, es zog ihn an.

Aber der Feldkönig lächelte nur. Er verriet es nicht, daß er allabends ins Eschentor ging, denn nun sprangen die Himmelschlüssel und die Veilchen auf.

»Wohin, wohin?« witzelte Lorelock aus dem Pfeifenrauche, wenn er ihn schreiten sah. »Ei, ei, Herr Feldkönig?« rief Pius Vesper hinter sieben Schulmädelzöpfen nach. Aber der Feldkönig schritt unangefochten dahin.

Zu Fräulein Judith, die ihr Gesicht in Himmelschlüssel und Veilchen tauchte, redete er aus seinem blühenden Herzen. Von den Wolken redete er, dahinter säße himmelblauweiß die Jungfrau Maria. Vom Walde. Was für ein ewiges Herrliches sei der Wald! Man gehe durch ihn, »was denkst du?« fragt er. Und alle Geheimnisse, – keinem andern würde man sie verraten –, ihm verrät man sie alle!

Fräulein Judith hörte zu, obwohl sie an ganz anderes dachte, und lächelte. Verzaubert gehe ich im Frühling, dachte sie, es ist still ringsumher; – aber wenn sie nur ein bißchen erwachte aus ihrem Träumen, flüsterte es ringsumher, und sie verstand jedes Wort.

»Und übrigens, die Welt ist voll von Gleichnissen jetzt!« fuhr sich der Feldkönig in die Locken.

»Voll von Gleichnissen?«

»Ja, voll von Gleichnissen. Überall ist eine heilige Taufe; wohin Sie nur sehen wollen, es lebt überall, und alles fragt: was soll ich nur schnell beginnen mit meinem Leben? Sie müssen betrachten: die Blumen, die Käfer, die Eidechsen, die Samenkörner, die Vögel, – alles, alles lebt, es fliegt, es kriecht, es schwirrt, rasend schnell wirbelt es, voll von einer heißen Frage: was soll ich nur schnell beginnen mit meinem Leben?«

Fräulein Judith lächelte. »Ja, so ist es, wahrhaftig,« sagte sie.

»Ja, wahrhaftig! Aber über Nacht –« oh, er wurde rot, – »nun weiß alles: was! Da ist ein Nest, ein Bau, eine Höhle; ein Blütenstäubchen ist da, gelb fliegt es herum; Sie hören zwei Vögelchen zwitschern, – das sind zwei, Fräulein Judith!«

Er ließ es diesmal dabei bewenden. Anderen Tags aber brachte er den Hausplan. Sein Schritt war stürmisch. Auf dem Auerhahnplatze werde es stehen, vier Zimmerchen lasse er machen.

»Vier?«

»Vier. Man sieht davon nach allen Seiten.«

Ob aber vier nicht zu wenig seien?

Da tat sein Herz einen Sprung.

»Sie müssen daran denken, daß Sie einmal zu zweien, – einmal zu dritt –«

Da überlief es ihn heiß. Mit einem rotglühenden Kopfe kam er zur Abendtafel im Heidehause.

»Was ist dir?« fragte Heinz Heide.

Aber er verriet noch nichts, – »und dir?« lachte er.

Sieht man mir etwas an, erschrak Heinz Heide? Verändere ich mich etwa?

Er lachte. »Ich trank vom Wein zuviel,« lachte er.

Aber es gibt Stunden, da bittet etwas Unbekanntes in der Brust drin: lausche! Und Heinz Heide mußte lauschen, auch wenn er nicht wollte, denn das Unbekannte atmete oft, wie der junge Wald atmete, in heftigen Zügen, oder wie das große Gesicht der mittagsschlafenden Erde, auf dem die Wolkenschatten tanzten.

Es zuckte oft auf, wenn eine Glocke anschlug, und oft war es eine Pflanze, die durstig die Brust heraufkroch, sie ahnte Sonnenlicht und Himmelblau.

Es kam auch vor, daß ihn das Unbekannte bei der Hand nahm und durch Buchenfreygg führte, als wäre er noch ein Jüngling.

Ein Jüngling hockte im Walde, geheim, er schaute in die verschlungenen Zweige. Jener Jüngling war es, der die Bäume wie die Menschen anredete und in seinen Gemütswallungen nicht umhinkonnte, ihnen dann und wann um den Hals zu fallen.

»Hier hockt er,« lachte Heinz Heide den Jüngling an, »wie geht es dir, mein Junge?«

Zu wem er spreche? fragte Fräulein Judith, mit der er nun Morgen für Morgen im Walde zusammenkam. »Ich treffe Sie rein zufällig, Fräulein Judith,« pflegte er zu sagen.

»Ach,« sagte er, »das ist so einer! Hie und da treffe ich mich im Walde. Noch von der Jugend her, Fräulein Judith.«

Lese! sagte das Unbekannte, und hielt ihm seine Jugend vor die Augen.

Das sei ein Leben gewesen! Närrisch und dumm. »Ein verzetteltes Leben.« Alles da herum habe er leidlich gern gehabt, und es sagte da alles immerzu: bleibe doch, bleibe! »Bei Mutter wäre es schön sitzen gewesen, und sie meinte gewiß immerzu: bleibe doch, bleibe! Aber ich mußte in den Wald, in die Wiesen, in die Felsen. Und von den Felsen rief mich das Alpenglühen herab oder der Himmel im Laaster Weiher. Freund, sagte ich, nun bleibe einmal vor einem Quadratmeter Gras liegen! Betrachte! Prachtvoll! Prachtvoll! Gras, Halm, eine vertrocknete Kleepflanze, ein Steinchen, – und darunter Erde, Erde, Erde!«

Aber da war ein Buch im Hause. »Dieser Mann, Herder heißt er, lockte mich vom Walde fort und stieß mich immer wieder hinaus in die Suche!«

»Gott verdamm' es!« –

Schwalben flogen über dem Heidedache.

Wie er auf dem Meere gefahren sei, erzählte er. Blaues Meer kam aus seinen Worten hervor. »Ah, Sie haben keine Ahnung, wie das Meer ist!« Es war wie blaues Glas, es schmolz auf einmal von innen und brodelte auf. Und der tiefblaue Himmel lag darüber, so daß es immer tieffarbiger wurde.

»Die Ufer lösten sich auf, der Himmel stieg von der Höhe herab, rundum, und faßte das Meer ein: Himmel und Meer!«

Da habe er dann diese Tiere gesehen. Er fragte einen Matrosen und dann auch den Kapitän: was für Tiere sind es? Keiner wußte es. Aber eine bresthafte, alte Frau, sie ging nach Alexandrien, die schrie da auf einmal: unsere Schwalben sind das!

Da habe er dann wohl an die Heimat gedacht, fragte Fräulein Judith?

»Im Gegenteil. Immer weiter über Land und Meer!«

»Aber,« sagte er ernsthaft, »die Welt ist viel zu weit, geradeso wie die Wissenschaft, – man schöpft sie nicht aus.« Daß er das nicht verstanden, machte die Dummheit seiner Jugend aus. »Überhaupt, überhaupt!«

»Ein Irrtum ist das, natürlich,« sagte Fräulein Judith. »Als Vater von den Reisen erzählte, nahm ich mir vor: Judith, Judith, du wirst nicht ewig im Eschentore sitzen! Aber –« es genügt, wenn man nur die Sehnsucht behält. Immer, immer muß man sich sehnen, nach fernen Ländern; immer den Wanderstab bereit muß man halten, – aber nicht glauben, das Glück kann zu Hause nicht wohnen!

»Vollkommen richtig!« wollte das Unbekannte sagen. »So ist es!« Aber Heinz Heide wehrte sich dagegen, »das sind liebliche Ansichten,« sagte er.

Er ging ingrimmig neben Fräulein Judith einher; ha, was erzählte er diesem Mädchen, kein Wort mehr sollte über seine Lippen!

Aber er hörte eines Tages eine Stimme unter seinem Fenster. Ich bleibe da, befahl er sich. Ich habe zu arbeiten!

Aber plötzlich sprang er doch auf, »Fräulein Judith!« beugte er sich aus dem Fenster, »einen Augenblick!«

Bis hinüber ins Eschentor sprachen sie von Wirtschaft. »Wo nimmt Frau Thore die Gemüsesamen her?« Ha, lachte er, das ist etwas für's Eschentorfräulein! –

»Frau Thore,« sagte er drüben, »ich störe!«

Das war ihm jäh eingefallen. Er hatte schon einen Stuhl in der Stube und einen Platz vor dem Garten. »Ich bin da wie zu Hause,« war ihm eingefallen. Es war ihm unangenehm.

»Ich bin eine alte Frau,« antwortete Frau Thore. Für eine alte Frau sei es schön, wenn ihr die Jugend nicht davonliefe.

»Alte Frauen,« redete da Heinz Heide aus einer altmodischen Stimmung heraus, – »kannten Sie meine Großmutter? Bei der saß ich stundenlange, – alte Frauen wissen viel vom Leben!«

Daraufhin seufzte Frau Thore ein wenig. »Die Jugend weiß heutzutage viel mehr davon.«

Dem widersprach er mit plötzlicher Heftigkeit. »Das ist Schein, Frau Thore, bloßer Schein! Wir wissen gar nichts. Gar nichts wissen wir; – Sie wußten wenigstens das Gewöhnliche, wir wissen gerade das nicht!«

»Allerdings,« schwenkte er ab, »es ist ein herrlicher Zug in der Welt! Es muß alles anders werden, als es bisher war, sagt die Welt heute. Denken Sie nur, früher wagte man über nichts nachzudenken, und heute sind die freien Gedanken wie Vögel in der Luft. Wenn da einer heute sagt: es gibt keinen Gott, und die Monarchie ist ein Schwindel, und die Ehe eine Art Prostitution, – wird er etwa eingesperrt? Keineswegs. Rede nur, rede nur, heißt es, der Gedanke ist frei!«

Von den Erfindungen wolle er gar nicht reden. Oder von den Künsten. Überhaupt von der Kultur wolle er gar nicht erst reden. In dieser Beziehung sei es prachtvoll, heute zu leben. »Aber denken Sie daran: früher wurde ein Verbrecher ohne weiteres eingesperrt! Hast du's getan? ›Ja.‹ Basta! Kerker! – Aber heute: tat er es aus Leidenschaft, aus Not, aus Krankheit, – sagen wir, seine Nerven waren kaput, oder aus Veranlagung, oder aus schlechter Erziehung? Alles untersucht man, – das ist das Großartige: auch der Verbrecher ist ein Mensch!«

Aber, – meinte Frau Thore, – ob die Leute heutzutage glücklicher geworden seien?

»Und ich möchte fragen,« rief Heinz Heide, »ob sie gescheiter geworden sind!« Und da müsse er bekennen: nein, und tausendmal nein! »Denn das ganze, tolle Geschrei von der Zivilisation ist Humbug, sage ich, es steckt nichts Reelles darin!«

Er nehme zehn Prozent von allen aus. Zehn Prozent sind anständige Leute, Männer der Wissenschaft, Ingenieure, Genies. Aber der Rest teile sich in zwei Partien: »in die gewissenlosen Impresarii der Zivilisation, die machen mit dem Gottaufheben und dem Abschaffen der Moral und so weiter ein Bombengeschäft, in allen Geschäftszweigen, – und in die anderen, die auf den Leim gehen. So ist es!« –

Er müsse viel gelernt haben, fragte daraufhin einmal Fräulein Judith. Sie gingen zwischen den Tannenfreyggäckern auf einem Raine.

»Im Gegenteil! Nichts! Nichts habe ich gelernt! Oder heißt man das gelernt haben, wenn man zuletzt dasteht und sagen muß: ich weiß gar nichts!?«

Wenn Herr Heide erlaube, – »ich verstehe zwar nichts davon,« – aber ginge das nicht allen gleich, die früh hinausgehen? »Die meisten machen es anders; die bauen sich zuerst einen festen Block, die Heimat, – und werden sie dann von der Welt betrogen, so klammern sie sich daran, und es geht wieder.«

»Aber, – die so ohne weiteres hinausgehen, – wenn die zurückkommen –?« –

Ob er sich nicht schwer zurechtfinde in Buchenfreygg?

»Im Gegenteil! O nein!« Ja, wenn es das wäre! Dann steckte ein gewisses Verdienst darin, daß er hier aushielte; dann könnte er sich vielleicht einbilden: hier ist das rechte für dich, gerade weil du dich zwingen mußt! »Aber, wie gesagt, im Gegenteil: es gefällt mir!«

»Reaktionen! Reaktionen! Nichts als Reaktionen! Wie bei einem verdorbenen Magen! Zuerst die Welt, – und jetzt Buchenfreygg!«

»Ha,« sagte er, »es steht hie und da in den Fabeln: nach einem tollen Leben fand er die Befriedigung in hartem Kampfe auf einer bäuerlichen Einöde!« Aber damit sei es nichts, mit dem Kampf sei es nichts!

»Das ist gelogen!« stampfte Fräulein Judith in den Boden und blieb zornig vor ihm stehen. »Das ist einfach gelogen! Herr Heide sagt: mir gefällt es, deshalb bleibe ich da, –«

»Ja, warum bliebe ich sonst? Ha?«

»Das ist gelogen, Herr Heide! Es gefällt Ihnen gar nicht! Nicht im mindesten gefällt es Ihnen hier! Sie hängen mit hundert Wurzeln noch an der Welt, sonst würden Sie nicht so gewaltsam darüber losziehen, und wenn Sie tausendmal behaupten: es gefällt mir hier, –: es ist nicht wahr! werde ich sagen! Was, denken Sie im geheimen, diese Philister, diese Bauern, mit diesen beisammen bleiben? Es überfällt Sie ein Gruseln –.«

»Das stimmt nicht, das stimmt nicht!«

»Und die Arbeit, – dies mühselige Ordnungschaffen und Aufbauen, – wozu? denken Sie. Es ist vollkommen nutzlos, denken Sie! – Oft möchten Sie alles hinwerfen und –«

»Könnte ich auch; ich könnte es!«

»Aber Sie tun es nicht! Tun es nicht, werden es auch nicht tun! Aber nicht, weil es Ihnen gefällt, sondern – –« –

Nun könnte auch sie lügen, sie könnte sagen: weil es eine Laune von Ihnen ist! »Ich könnte das sagen, – aber ich lüge nicht, ich sage ganz offen: weil Sie erkennen, es ist etwas Gutes darin! Deshalb, deshalb bleiben Sie da, nur deshalb, – und darin liegt ein Verdienst!« – – –

Nun gingen sie stumm nebeneinander her. »Sie lügt nicht! Glaube es!« sagte das Unbekannte zu Heinz Heide. »Glaube es! Es hat keinen Sinn mit dem gezwungenen Spotte!«

»Freue dich, freue dich!« sagte das Unbekannte. »Nimm dir ein Herz und sage: es freut mich, unendlich freut mich das! Nimm ihre Hand und küsse sie zum zweiten Male. ›Sie sind ein gutes Mädchen‹, sage! Sage, du sähest ganz klar, sie solle nicht glauben, du sähest es nicht, ›ein Engelchen sind Sie, Fräulein Judith!‹«

»Wer säet da?« fragte er aber.

Ein Bauer ging im violetten Ackerfeld. Sein Gesicht war bronzerot in der Sonne, und wenn der Arm aus dem blauen Zwilchsack kam, war die Hand feuerrot in der Sonne. Er ging schwer, seine Füße wuchsen wie Stämme aus den Schollen, er schien eine sanfte Beschwörung zu sprechen, wenn er die Faust aufklappen ließ und den Samen ausstreute. Man hörte den Samen niederfallen auf die Erde.

»Der Haller ist's,« sagte Fräulein Judith.

»Der Haller? Starb dem nicht gestern das Weib?«

Ja, sein Weib liege daheim auf dem Schragen. Die Kinder beten den Seelenrosenkranz.

Heinz Heide besah sich den grauen Bart des Mannes. Dieser Bart hing massig vom Kinn nieder, er verlieh dem Gesicht den schwerblütigen Zug eines Apostels.

»Und er sät da!« lächelte er böse. »Keine Kleinigkeit! Aber je nachdem!«

Der eine so, der andere so!

Fräulein Judith bog aus dem Ackerfelde, sie fürchtete, der Sämann hörte Heinz Heide. »Freilich,« sagte sie. Aber ob Herr Heide von diesem Manne Näheres wisse? »Hier heroben hat ein jeder seine Geschichte, man möchte es nicht meinen. Man sieht die Leute tagtäglich, man sagt sich: ach was, sie essen, sie trinken, sie schlafen und arbeiten.«

»Jawohl,« knurrte Heinz Heide.

»Aber dieser Mann, – wissen Sie, daß er bis in sein dreißigstes Jahr Priester gewesen ist?«

»Priester?« blieb Heinz Heide stehen.

»Sie mußten das bitter büßen, die Leute machten vor ihm und dem Weibe jahrelang das Kreuz.« –

Es ging ihm dies den ganzen Abend nicht aus dem Kopf. Und darum ging er auch nächsten Tag mit dem Begräbnis der Hallerin. Ein Regentag war es, die Bauern standen mit dampfenden Joppen um den Sarg herum. Heinz Heide verfolgte immerzu den Haller; der Mann beugte seinen breiten Rücken nicht, er zuckte nicht zusammen, als die Totengräber in schwarzen Kitteln herzustürzten und den Sarg in die Grube stießen. Aber, als er aus der ausgestreckten Faust die Erde langsam auf das Tannenholz prasseln ließ, machte er die Augen zu.

Heinz Heide fuhr nach dem Begräbnis auf den Pfarrer los: »Ein ekelhafter Anblick ist es gewesen!« Es war das letztemal, daß er sich auf dem Friedhofe blicken ließ, »jeder Mensch hat ein Herz, der Haller wahrscheinlich auch!«

Der Pfarrer zitterte.

»Keinen Hund stützt man so in die Grube hinab!« schrie ihm Heinz Heide ins Gesicht und rannte davon.

Aber da lief ihm ein Mann mit fanatisch glücklichen Augen in die Arme. Pius Vesper war es, der das Gespräch gehört hatte. Er nahm Heinz Heides Hände in die seinen, er preßte sie wie in einem Schraubstock, er rang mit dem Munde nach einem Wort, das die unermeßliche Genugtuung ausdrücken sollte, schließlich sagte er keuchend: »Vergelt's Gott!« –

Heinz Heide erzählte das Fräulein Judith. »Er überfiel mich mit einer merkwürdigen Glückseligkeit, in wenigen Augen sah ich soviel Zufriedensein, – ich kann es mir nicht erklären.«

»Doch,« sagte Fräulein Judith, »es ist dies zu erklären, denn damals, als sie die Braut des Lehrers begruben, vor drei Jahren –«

»Hat der Lehrer eine Braut gehabt?«

Ja, das sei die traurigste Geschichte von Tannenfreygg! Von allen die traurigste. Denn, – aber im Augenblicke brach Fräulein Judith ab, sie wurde bleich.

»Denn?«

»Nein, nein, nein,« sagte sie. »Ich irre mich; Lorelocks Geschichte ist die traurigste von allen. Lorelocks Geschichte ist die traurigste. Das mit dem Lehrer, – er hatte ein Mädchen, in Wildeiche drüben, und als sie das begruben und die Totengräber an den Sarg heranstürzten, warf er sie wie Knaben in den Boden. Weg mit euch! schrie er, er nahm den Sarg wie ein Schächtelchen auf und stieg damit ins Grab. So war es! – Aber das mit Lorelock!«

Sie atmete wie in der Angst.

»Sie wissen es doch!«

Nein, er wisse es nicht.

»Wie er zum Marzani nach Brücke gerufen wurde! Sie wissen doch, der Marzani, der von unten herauf die Gegend verwelschte, und Lorelock, der gegen ihn predigte, es war ein wirklicher Haß, den die beiden aufeinander hatten. Aber eines Tages schickt der Marzani – –«

»Ein Freund meines Vaters!« pfiff Heinz Heide.

»Ja,« hauchte Fräulein Judith. »Lorelock soll nach Brücke, läßt er sagen. Nein, sagt Lorelock zuerst, nein, er soll krepieren! So sagte er. Dann aber, als er hörte, daß es die Frau sei, die ihn brauchte, ging er.

Aber die Frau war nimmer zu retten, und das Kind auch nicht. Es handelte sich nämlich um eine Geburt. Sie starben alle beide. – »Aber was tat nun der Marzani? Er rennt überall herum, der deutsche Doktor, schreit er, er hat sie umgebracht, aus Hatz, er hat sie getötet!«

»Lump!« pfiff Heinz Heide.

Es stand in seiner Hand, sie zu retten, schrie er. Er brauchte nur, – ich verstehe das nicht, – aber nur aus Haß unterließ er es. Er hat sie umgebracht! So lief er überall herum, und –«

Herr Heide wisse doch, wie es endete?

Nein, er wisse es nicht.

»Er saß! Sieben Monate lang saß er in Untersuchungs –«

»Lorelock? Saß??«

»Er hat es noch nie überwunden. Sieben Monate! Jawohl!« – –

Heinz Heide riß im Heimweg heiß an Lorelocks Klingel. »Sieben Monate, sieben Monate!« Es empörte sich etwas in seiner Brust, es rumorte darin, diesem Manne mußte Genugtuung geschehen!

Er saß dann vor ihm, er betrachtete ihn, und auch Frau Susanne, die daneben Strümpfe stopfte, betrachtete er. »Sieben Monate, sieben Monate!«

Er habe mit dem Doktor etwas zu besprechen, sagte er endlich, da verließ Frau Susanne das Zimmer.

Als er aber noch immer nicht redete, begann Lorelock: »Der Mai kommt jetzt, Herr Heide. Ich hörte einen Kuckuck!«

»Ja, jawohl.« Aber, was er sagen wollte: Der Doktor sprach neulich von den Wildeichehöfen, die unter den Hammer kämen. »Diese Höfe kaufe ich, das Geld ist bei mir zu holen!« – – –

Er ließ Lorelock in einer schlagflußähnlichen Ohnmacht und stürzte in den Wald. Er rannte durch den Abendwald, hinter jedem Baum stand die Sonne. Der Kopf war ihm heiß; was war das, was war das? Alles war wunderbar!

Er blickte sich um, nein, da war niemand im Walde, so bückte er sich und küßte ein Farrenkraut; mit Inbrunst küßte er es, als hätte es die Kraft, Sünden und Krankheiten fortzuzaubern. Er legte sich auf den Boden, mit den Händen wühlte er die Erde auf: »die Erde ist es, die mich gesund macht.« Dann lief er aus dem Wald und stand vor dem gelben Himmel, und weil ringsherum keiner war, streckte er die Arme in den Himmel: »Der Himmel, der Himmel ist es, der mich gesund macht!«

Dann ging er dem Hause zu. Am Brunnen standen drei Menschen, in der Dämmerung erkannte er sie nicht. Vom Verwalterhause kam ein Mann, wer mochte es sein? Im Heidehause brannte eine Lampe, wer mochte da warten?

Er blieb stehen, niemand konnte sein Gesicht sehen, als das Unbekannte in seiner Brust ausrief: die Menschen, die Menschen sind es! Sie stehen und laufen da geheim herum, aber sie tragen eigenartige Geschichten mit sich!

Er zog den Hut, tief zog er ihn, als er am Brunnen vorbeiging. –

Im Hause drin sagte an diesem Abend der Feldkönig: »Der Mai kommt jetzt. Ich fühle es am Gerüche der Erde.«

Da wurde Heinz Heide ärgerlich. »Du hörst das Gras wachsen!« spottete er. »Lorelock hat wenigstens den Kuckuck gehört!«

Aber der Feldkönig trat mit ihm auf den Balkon, und ob es schon fahlblau war überall unter dem Himmel, zeigte er doch hinaus: »Siehe, unten die Apfelblüte, in den Leiten der Wein grün, und die Luft wie göttlicher Atem!«

Und während da Luft und Rebengrün und Apfelblüh in Heinz Heides streitende Brust sanken, er wollte niederknien, »Herrgott, ich lobe dich!«, und er wollte aufbrausen und eine Hand ins Geländer werfen, »Teufel, verführe mich nicht!«, – geschah am Fuße des Freyggerberges ein Wunder, das nach sieben Nächten Heinz Heides Herz zur Raserei brachte.

Am Fuße des Freyggerberges, rund herum, sproßte der Maisamen auf. In sieben Nächten stiegen die Blumen, alle Düfte, alle Sorten von Blumen vom Fuße des Freygger Berges aufwärts, über Felsen, über Wege und Wälder, und in der siebenten oben angekommen, schlugen sie über dem Berg zusammen, so daß am Morgen nachher der Berg gefesselt war und geschlungen in Blumen.

Der Feldkönig saß vor den wachsenden Wänden seines Hauses und sah es seidenblau schimmern in den Heidewiesen; und aus dem Walde roch er es duften von weißen Orchideen. Er erriet, alle Jöcher färbten sich rubinrot, in den Rainen standen die Narzissenbäche, – der Mai rief, aber die Mauern hielten ihn. Mit tobender Brust und heißen Augen harrte er aus vor der Pracht. »Laufe, laufe, laufe!« lockte der Mai, ein Schrecken entstand: »und wenn Judith Nein sagt?«, eine Furcht spottete: »du baust umsonst –!«, – in beklemmender Angst blieb er vor den wachsenden Wänden seines Hauses hocken.

Während Heinz Heide die Pracht aufreizend ins Auge stieß. Der Wald war wie ein Dom, gewisse Buchenbäume schimmerten sonngetroffen wie smaragdne Damastwolken. Im Walde ging die Sonne wie eine Prozession, gelb und blau und grün rollten die Fahnen, Tausende beteten flüsternd.

Wie Feuer bohrte das Blut in Heinz Heides Adern: »Ha, es ist ein Wunder, unfaßbar ist es!«

Unfaßbar schwamm über allem Wuchern der Erde die stille Majestät des sonnblauen Himmels.

»Schließe die Augen! Alles ist Schein!« fuhr da der Unglaube wie Eis in das Feuer.

Und Heinz Heide jagte herum, mit gesperrten Augen. Aber nun vernahmen die Ohren ein Summen, es brauste und predigte: »Bekehre dich, glaube, – was du siehst, ist wahr!« Es gab keine Stille mehr, die Luft redete, die Mauern redeten, die Bäume schwatzten, alle Tiere plapperten, selbst die Nacht flehte inbrünstig.

Und wenn er sich zornig die Ohren zuhielt, da, – da war plötzlich etwas, das in ihm selber redete. Worte kamen da hervor, die credo! credo! credo! schrien, ja, sie brüllten es hinaus, als müßte die ganze Welt es hören; und solche, die wie fallendes Gold klangen, wie Schritte eines lächelnden Mannes in seinem Heim, wie Lachen eines Gütigen, Zufriedenen.

Und wenn er diesen Worten davonlief, stand da nicht zum Unglück Fräulein Judith in der Wiese und pflückte Glockenblumen? Er wollte schon lachen vor Freude, da griff ein zorniger Widerstand in solche Sentimentalität und hieß ihn sagen, es sei ein kindisches Geschäft, Blumen zu pflücken. Aber Fräulein Judith antwortete nebenhin, heute sei Assuntas Todestag, – und er biß die Zähne zusammen.

Voll ingrimmiger Beschämung stand er dann neben ihr, als sie den Kranz um Assuntas Grabstein schlang. Und als das Merkwürdige geschah, und Fräulein Judith einen mairoten Strauß auf seines Vaters Gruft legte, – »Nein!« wollte er auf sie losstürzen, »Nein!« – blickte sie ruhig zu ihm auf, vom Grabe seines Vaters, – und er biß wieder die Zähne zusammen.

»Sie will mich noch das Verzeihen lehren!« machte er sich im Heimweg Luft. »Sie, – sie –!« Sie sei ein Zuckerwassermädchen, altjüngferlich sei sie. Sie paßt in ein süßes Genrebild, in die Verse eines Gymnasiasten! »Haha – du deutsche Jungfrau!«

Aber je mehr er spottete: geht sie nicht tugendeitel daher, selbstbewußt, kalt? duldet sie es nicht vornehm, daß ich sie begleite? verbessert sie mich nicht, mahnt sie mich nicht wie ein Lehrer?, – bewegte sich nicht etwas da drin in ihm, griff da nicht etwas mit tausend Armen nach einem schwebenden Gute? Das war, das war irgendwo, – aber wo war es?

»Ha,« sagte er nächsten Tages, als Fräulein Judith schon wieder in den Blumen stand, »Fräulein Judith, es ist ein niedlicher Anblick! Ich fühle mich in die Romantik zurückversetzt. Lenau hätte Sie kennen sollen, oder Theodor Körner! Oder die Heimburg!«

Aber Fräulein Judith lachte nur. Ja, lachte sie, Herr Heide habe wohl recht; wüte sie nicht wie eine gierige Ziege in den Blumen? »Aber – ich liebe sie schrecklich!«

Sie ging in diesen Maitagen freudig einher, sie sah immerzu nach links und nach rechts, sie entdeckte die seltensten Blumen. Sie machte zierliche Sträuße daraus, es war schön zu sehen, wie auch das kleinste Blümchen sorgfältig darin geborgen war. Und dann verschenkte sie die Sträuße. Tausend Blumen fielen in Frau Thores Schoß, – was wußte Frau Thore damit anzufangen? Die Madonna bekam einen Vergißmeinnichtstrauß, was wußte die Madonna damit anzufangen? Pius Vesper trug von ihr eine Aurikel hinterm Ohr, ein Bettelweib von Wildeiche blickte enttäuscht in die Schürze, Fräulein Judith hatte Waldmyrthe hineingeworfen.

Ein jeder bekam seinen Teil. Auch der Feldkönig. »Severin,« lud sie dem Seligen Sträuße auf, »Ihr habt hundert Vasen im Hause. Heraus an die offenen Fenster!« –

Als alle beschenkt waren, spottete Heinz Heide: »Mädchen aus der Fremde, es ist Feierabend!« Es war dies an einem weißhimmeligen Abend, da sie auf dem Heimweg in Flörkweide rasteten und Fräulein Judith untätig vor dem Teppich blauer Genziamen saß. Es war ein stiller Abend, kein Lufthauch war in den Lärchen um die Wiese, und Fräulein Judith sah gerade vor sich hin in diese Stille.

»Was denkt sie?« schaute Heinz Heide zu ihr herüber, wie nachdenklich schaut sie in die Wiese! – Da sagte sie vor sich hin: »Ja, jeder hat seinen Teil bekommen!«

Und da geschah etwas Merkwürdiges! Die Millionen Genziamen krochen aus der Wiese heraus, auf zappeligen Würzelchen krabbelten sie Heinz Heide entgegen und begannen vor ihm zu läuten. Es wurde ihm, als wäre er ein taubes Haus, aber nun klingelten die Millionen Glocken vor dem Tore, »du,« klingelten sie, »du!«, – und er wird plötzlich wach und springt aus dem Schlafe, – »du,« läuten sie, – »ein Kränzel für Judith!«

Er greift sich an die Stirne, sie stürzen schon ins Haus herein, im großen Hause laufen sie klingelnd umher, alle zusammen: – »ein Kränzel für Judith!« –

Er wurde bleich, seine Augen bekamen den Schrecken einer furchtbaren Entdeckung. Er wollte aufspringen, aber er war vollkommen steif.


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