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Viertes Kapitel.

Bei dem Präsidenten von Kannegießer, einem der einflußreichsten Räte des Landgrafen, war an demselben Abend Ball, welcher die vornehmste Gesellschaft Kassels vereinigte.

In allen Räumen der ausgedehnten Wohnung bewegten sich fröhliche Gäste.

Die zahlreichen Wachskerzen strahlten auf das gestickte Kleid des Hofmanns, die glänzende Uniform des Offiziers, die seidenen Roben der Damen, gepuderte Locken und blitzende Augen hernieder.

Es war ein freundliches Bild, welches die Vereinigung von so viel Jugend, Schönheit und Anmut in der zierlichen Tracht und reichen Farbenpracht der Zeit darbot.

Eben endete die Menuett, das Orchester schwieg, die Tänzer führten ihre Damen zu den Sitzen zurück, und die Zuschauerschar in den geöffneten Türen lichtete sich.

Albrecht von Schallern vom Regimente Loßberg, eine breitschulterige kräftige Gestalt mit kühnem Gesichtsausdruck, trat zum Saale hinaus und durchforschte die sich in langer Front hinziehenden benachbarten Gemächer.

In einem derselben stand einsam ein Jägeroffizier am Fenster und schaute in die dunkle Nacht hinaus.

»Wo steckst du beim, Hugo? Ist die melancholische Stimmung wieder Herr über dich geworden?«

»Du weißt, Albrecht, daß ich in Ballsäle nicht tauge.«

»Ja, alter Cato, ich weiß es, aber deine Laune wollen wir bald verbessern. Höre. Schlieffen hat heute Nachmittag den Vertrag mit England unterschrieben.

»Ah,« fuhr Reizenstein aus einer trüben Ruhe empor, »das ist herrlich. Gott sei Dank.«

»Das wird ein Feldzug, Hugo – Meerfahrt, Amerikaner – Wilde – Avancement – Orden – welche Perspektive?«

»Nach Amerika also?« sagte der Jäger –, »so kann ich dort den Spuren meines Vaters folgen.«

»Ah – recht, dein Vater ist ja dort einst verunglückt.«

»Niemand weiß, wie der Arme dort seinen Tod gefunden hat. Der Brief meines Oheims, welcher die Todesnachricht enthält, ist seit einigen Jahren in meinem Besitz, Frau d'Arville hat ihn mir übergeben.«

»Wie kam denn die dazu?«

»Er war an sie gerichtet. Als die treueste Freundin meiner so früh verstorbenen Mutter führte sie während ihres Leidens deren Korrespondenz.«

»Ja, ich entsinne mich jetzt, von dem mysteriösen Ende deines Vaters gehört zu haben, wie auch von der ebenso geheimnisvollen Haltung deines Oheims. Wenn wir hinüberkommen, wollen wir nachforschen, wo er geblieben ist. Konnte dir Frau d'Arville nichts über ihn mitteilen?«

»Sie wußte und weiß selbst nicht mehr als alle übrigen. Mein Onkel ist verschollen.«

»Auf diese Weise also bist du an die d'Arvilles gekommen?«

»Ja, höchst unfreiwillig.«

Eine Gruppe höherer Offiziere, in deren Gesellschaft ein englischer Oberst sich befand, betrat das Zimmer und die beiden jungen Leute entfernten sich. Die Offiziere ließen sich an dem Kamin nieder und Oberst Rall, eine herkulische Gestalt mit frischem roten Gesicht sagte: »Gott sei Dank, daß das Garnisonleben ein Ende hat. Wenn wir den Herrn Washington mit seinen Schuster- und Schneidergeneralen nicht noch vor Beginn des Winters in Stücke hacken, so will ich Tambour bei einem Garnisonregiment werden.«

Die Offiziere lachten, und Oberst Donop sagte mit der ihm eigenen Trockenheit: »Als Tambourmajor würden Sie sich trefflich ausnehmen, Rall,« was die Heiterkeit verdoppelte.

Ernst erwiderte Loßberg: »Es hieße die uns gestellte Aufgabe wie unsere Gegner sehr unterschätzen, wenn wir uns die Niederwerfung der Rebellen so gar leicht vorstellen würden. Ich kenne das voraussichtliche Operationsfeld aus eigener Anschauung und kenne Herrn Washington.«

Erstaunt unterbrach ihn der englische Oberst Faucitt: »Herr von Loßberg kennt unsere Kolonien?«

»Vor mehr als zwanzig Jahren weilte ich mehrere Monate dort, und erst der zwischen Preußen und Österreich ausbrechende Krieg rief mich zur Heimat zurück. Ich habe dort Land und Leute und, wie gesagt, auch Herrn Washington kennen gelernt. Wir haben es drüben mit andern Boden- und Raumverhältnissen zu tun als hier, und der Rebellenführer, den ich zu meinem Bedauern auf jener Seite sehe, ist, wie er das damals schon bewies, ein sehr umsichtiger, kaltblütiger und tapferer Offizier. Sowohl seiner Beanlagung nach als auch wohl durch die Verhältnisse gezwungen, wird er den Cunctator spielen, eine Kriegführung, welche durch die ungeheure Ausdehnung des Kriegsschauplatzes wesentlich erleichtert wird.«

»Ei, Loßberg,« sagte Rall, »wir werden den Stier bei den Hörnern fassen.«

»Ganz gut, Rall,« meinte Generalmajor Schmidt, »das wäre so Ihre Sache, aber ehe man ihn fassen kann, muß man ihn erst zum Stehen bringen.«

»Na, sie werden doch nicht ewig ausreißen,« lachte Rall.

»Welche Veranlassung führte Sie nach Amerika?« fragte General Schließen.

»Wanderlust und Freundschaft für einen längst verstorbenen Kameraden, Exzellenz. Zwei meiner Jugendfreunde zogen mich hinüber: die Brüder Reizenstein.«

»Ah, ganz recht, jetzt entsinne ich mich, von Ihrer Meerfahrt gehört zu haben, es geschah, lange ehe ich in hessische Dienste trat. Der junge Reizenstein bei den Jägern ist der Sohn eines Ihrer Freunde?«

»Der Sohn Kurts von Reizenstein, des jüngeren der beiden Brüder, ja, Exzellenz.«

»Die Angelegenheit der beiden verschollenen Reizensteins gewinnt jetzt, wo wir den amerikanischen Boden betreten werden, ein aktuelleres Interesse. Ich habe früher schon mit Teilnahme einiges von jenen Vorgängen vernommen, und erfahre jetzt gerne mehr davon. Da den anwesenden Herren die Verhältnisse wahrscheinlich zur Genüge bekannt sind, lassen Sie uns, lieber Loßberg, einen kleinen Abstecher in den Wintergarten machen, erzählen Sie mir dort Genaueres.«

Er nahm mit diesen Worten des sich erhebenden Obersten Arm und schritt mit ihm hinaus, dem kleinen Wintergarten zu, den sie, wie vermutet, leer vorfanden. Sie ließen sich auf einer der dort angebrachten Bänke nieder, und Schlieffen sagte:

»Ich habe für den jungen Reizenstein einige Teilnahme, lieber Loßberg, nicht nur, daß mir schon der Knabe einen angenehmen Eindruck gemacht hat, ich habe vor allem seine Mutter als junge Dame gekannt und geschätzt. Die Brüder Reizenstein und ihre Schicksale waren seit Jahren vergessen, jetzt wird die Erinnerung, wo der Sohn und Neffe sich anschickten, den ihnen so verderblichen Erdteil zu betreten, wieder lebendig. Sie verpflichten mich durch eingehende Mitteilungen über jene fernliegenden Vorgänge. Ich betrachte sie natürlich als vertrauliche.«

»Was ich Exzellenz mitteilen kann, ist hinreichend bekannt. Der ältere Reizenstein, Friedrich, lernte eine junge Amerikanerin kennen, eine Miß Melville, heiratete sie, quittierte den Dienst und siedelte nach ihrer Heimat über, wo die Familie reich begütert war. Er veranlaßte später seinen Bruder Kurt, den er innig liebte, nachzukommen, nur auch ihm drüben eine dauernde Heimstätte zu gründen. Kurt war damals schon vermählt und folgte des Bruders Ruf um so lieber, als er kein Vermögen besaß. Doch zunächst begab er sich aller vorbereitenden Schritte wegen allein nach Amerika, die Gattin und den kleinen Sohn, den sie ihm geschenkt, hier zurücklassend. Ich folgte einer Einladung des mir nahe befreundeten älteren Bruders und verweilte längere Zeit drüben, ein gutes Stück des Landes mir ansehend. Der Ausbruch des Krieges rief mich 1756 zurück. Wenige Monate nach meiner Rückkehr traf die Trauerkunde ein, Kurt von Reizenstein sei gestorben, erschlagen wahrscheinlich durch herumstreifende Indianer. Man fand die einer Geldsumme beraubte Leiche, aber die Nachforschungen nach den Mördern blieben ohne Erfolg. Die junge Frau überlebte die Todeskunde nicht lange und ließ das Kind als Waise zurück. Seitdem hat man auch nie etwas von Friedrich Reizenstein wieder gehört.«

»Das ist so seltsam,« sagte Schlüssen, welcher dem Bericht anteilvoll lauschte. »Nie wieder von ihm gehört? Nicht von seinen Verwandten dort?«

»Nach dem Briefe mit der Todesnachricht Kurts nichts mehr. Uns allen war und ist dies unerklärlich. Daß der damals ausbrechende Krieg zwischen Frankreich und England, der auf den Meeren und hauptsächlich in den amerikanischen Kolonien, bis in die Wildnis hinein, geführt wurde, alle Verbindungen mit Amerika wie die dort im Lande selbst störte, war ja begreiflich, aber unerklärt bleibt deshalb doch das gänzliche Schweigen des Bruders.«

»Von wo waren seine Briefe datiert?«

»Bald von New-York, bald von Albany, wo er sich abwechselnd aufhielt, selbst aus andern Teilen des Landes, von Besitzungen, welche die Familie seiner Frau in verschiedenen Kolonien besaß und gelegentlich besuchte.«

»Man hat von hier aus keine Nachforschungen nach ihm angestellt.«

»Doch, Exzellenz, so energische und so umfangreiche, als nur möglich waren, private und sogar solche durch das englische Gouvernement, alles vergeblich. Nach Jahren erfuhren wir durch das Londoner Kolonialamt, Friedrich von Reizenstein sei vom Hudson, wie ich damals sein Gast war, längst nach dem spanischen Florida übergesiedelt. Weiteres sei nicht zu ermitteln gewesen. Das war alles, was wir erfahren konnten. Florida lag damals ganz abseits des Stromes der Zivilisation. Da keiner der abgesandten Briefe je beantwortet wurde, kein Versuch, ihn zu ermitteln, ein Resultat ergab, so ist nur eines möglich und denkbar, daß auch Friedrich bald nach seinem Bruder vom Tode ereilt wurde, und die amerikanische Verwandtschaft nicht geneigt war, sich um Kurts Waise zu bekümmern. Der Knabe ist unter harten Entbehrungen in jener wilden Zeit, welche Kassel wiederholt einer Belagerung aussetzte, aufgewachsen, bis er endlich, nachdem ich aus dem langen Kriege heimgekehrt war und erst Muße fand, mich um ihn zu kümmern, durch meine Vermittelung in die Kriegsschule ausgenommen wurde.«

»Dieses so vollständige Verschwinden eines Mannes wie Friedrich Reizenstein,« bemerkte Schlieffen, »ist selbst unter den überaus schwierigen Umständen, welche die kriegerische Zeitlage damals schuf, sehr seltsam. Denn so wild ist doch Amerika nicht, daß man nicht einen Mann von Stand dort sollte ausfindig machen können, außer, er müßte sich verbergen wollen. Und daß er absichtlich geschwiegen, ist wohl nicht anzunehmen?«

»Er liebt seinen Bruder auf das Zärtlichste und würde dessen Waise unter keinen Umständen verlassen haben.«

»Daß Briefe in jenen Tagen verloren gingen, daß ein Ortswechsel etwa in den so ausgedehnten und so dünn bevölkerten Landstrichen einer brieflichen Verbindung verhängnisvoll werden konnte, ist begreiflich – erklärt jedoch das Schweigen Reizensteins und seiner Verwandten nicht genügend.«

»Uns allen war dieser jähe Abbruch aller Beziehungen damals ein Rätsel – und ist es noch heute.«

»Briefe zu unterschlagen hatte wohl niemand ein Interesse?«

Der Oberst stutzte bei diesen nicht gerade mit besonderer Bedeutung hingeworfenen Worten.

»Briefe unterschlagen? Wer sollte das tun? Und warum?«

»Mein Gott, Loßberg, es gibt hierzu die verschiedensten Veranlassungen. Konnten die Briefe z. B. nicht Geld enthalten.«

»Der Gedanke ist mir noch nicht gekommen.«

»Durch wen wurde nach der jungen Mutter Tode die Korrespondenz hier vermittelt?«

»Durch eine Jugendfreundin der Verewigten, Frau d'Arville, welche sich des verwaisten Knaben angenommen hatte.«

»Ah!« Es war ein seltsamer Laut, welcher von des Generals Lippen kam. »Frau d'Arville? So? Das ehemalige Fräulein von Flor?«

»Dieselbe.«

»War sie schon zu jener Zeit die Gemahlin des französischen Herrn?«

»Ja, Exzellenz. Ich lag damals im Felde – sie blieb in Kassel, daher hatte sie die Vermittelung.«

»Das ist interessant. Und sie war die Freundin der armen jungen Reizenstein?«

»Die zärtlichste.«

»Wirklich? Nun,« fuhr der General fort, »jetzt, wo wir in einigen Monaten den Boden Amerikas betreten werden, gibt sich wohl Gelegenheit zu erfahren, wie Friedrich Reizenstein geendet hat. Schade – sehr schade, daß ich das, was sie mir da erzählen, nicht früher erfahren habe. Ich danke Ihnen, lieber Oberst, für Ihre so ausführlichen Mitteilungen. Ich kenne dieses ehemalige Fräulein von Flor und ihren parlierenden Herrn Gemahl zur Genüge, kenne beide besser als sie wohl denken. Diese ganze Angelegenheit klingt sehr rätselhaft – nun vielleicht können wir drüben etwas zur Lösung des Rätsels tun. Ich werde die Sache im Auge behalten. Lassen Sie uns jetzt wieder zur Gesellschaft zurückkehren.«

Beide verließen das schön geordnete Pflanzenhaus.

Kaum waren ihre Schritte verhallt, als hinter einer dichten Gruppe tropischer Pflanzen eine Frauengestalt auftauchte, deren verstörtes Gesicht auf einen hohen Grad von Aufregung schließen ließ. Sie hatte sich jedenfalls schon im Wintergarten befunden, ehe die Offiziere eintraten, und jedes Wort der Unterredung vernehmen müssen. Die Dame, nicht mehr jung, doch jugendlicher erscheinend, als sie war, mit feinen aristokratischen Zügen, die einst schön gewesen sein mußten, und zierlicher, eleganter Gestalt setzte sich, wie von Erschöpfung darniedergezogen auf dieselbe Bank, welche die Herren eben verlassen hatten, und stützte das kunstvoll frisierte Haupt mit der Hand. Sie blieb in dieser Stellung, bis ein leichter Schritt vor der Türe her sie aufschauen ließ.

»Ah,« sagte die Stimme ihres Gatten, Monsieur d'Arvilles, des Maître de garderobe Sr. hochfürstlichen Durchlaucht, »muß man Sie hier unter Palmen suchen, teuerste Marguerite?«

Herr d'Arville war ein wohlkonserviertes, etwa fünfzigjähriges Herrlein, mit rundlichem Gesicht, welches von Bonhommie strahlte, und vereinigte die Würde eines französischen Maître de danse, als welcher er nach Kassel gekommen war, trefflich mit dessen Beweglichkeit.

» Ciel! ma chère, wie sehen Sie aus,« fragte er, als er, näher tretend, die hohe Erregung der Gattin in deren Zügen bemerken mußte, »sind Sie krank?«

»Er geht nach Amerika,« flüsterte sie ihm zu.

»Wer?«

»Der Reizenstein.«

»Nun? Und?«

»Man wird Nachforschungen nach seinem Onkel anstellen, er hat Schlieffens und Loßbergs Protektion.«

»Ah, bah, Teuerste,« sagte der kleine Franzose leise, »der Reizenstein muß längst tot sein, wir hätten doch sonst etwas von ihm vernommen, wenigstens hätte er Ihre Briefe beantwortet.«

»Wenn er noch lebte und es zu Tage käme, wir wären verloren.«

Herrn d'Arville entfuhr ein ganz unsalonmäßiges » Diable«, und die gute Laune, die ihn sonst auszeichnete, und ihn zum Liebling des Landgrafen machte, war plötzlich verschwunden.

»Ich habe immer gefürchtet, daß mich Ihre Handlungen noch ins Unglück stürzen würden.«

Die Frau warf ihm einen verächtlichen Blick zu. » Meine Handlungen, Monsieur d'Arville? Ihr Gedächtnis scheint schwach zu werden. Habe ich Geld unterschlagen? Habe ich einen falschen Totenschein ausfertigen lassen?«

Der Franzose wurde bleich. » Mon Dieu, mon Dieu, was reden Sie da? Wer spricht solch' abscheuliche Sachen?«

»Ich wollte nur andeuten, wie weit meine Handlungen Sie ins Unglück zu stürzen vermögen, Monsieur!«

»Freilich, Sie haben Glück, Marguerite,« sagte er mit bitterem Hohne, »Ihr werter Freund, der Herr Postdirektor, der so ganz in Ihren Diensten stand, kann nicht mehr als Zeuge vernommen werden.«

»Diese ganze finstere Epoche meines Lebens beginnt ihre Schatten rückwärts zu werfen,« sagte sie, ohne die hämische Äußerung des Mannes zu beachten.

»Da Sie, Madame, so gut Schuld und Unschuld zu verteilen wissen, so möchte ich Ihnen zurückrufen, daß ein gewisser Heldberg in jener Zeit eine merkwürdige Rolle gespielt haben muß.«

Die Frau wurde entsetzlich bleich und faßte mit der Hand nach der Bank.

»Schweigen Sie, was wissen Sie davon?«

»Mehr, Madame, als Sie ahnen.«

Sie schwieg und fuhr nach einer Weile, in welcher sie mit bewundernswerter Kraft ihre leidenschaftliche Aufregung bezwang, ruhiger fort: »Lassen Sie uns jetzt nicht streiten, Alfons, sondern überlegen.«

»Erklären Sie doch zunächst, was Ihre Befürchtungen so direkt hervorruft?«

»Ich hörte hier eine Unterredung zwischen Schlieffen und Loßberg mit an, deren Inhalt die Reizensteins waren. Der Oberst ist ein argloser Bär, aber Schlieffen ein feiner Kopf, er warf Verdachtsmomente hin, die sich ihm stärker auszubilden schienen, als er von meiner Tätigkeit in der Sache vernahm.«

»Und er kennt Sie, meine gute Marguerite,« warf Herr d'Arville leicht hin.«

Seine Frau bemerkte in ihrer Erregung den darin liegenden Spott nicht oder wollte ihn nicht bemerken, sondern fuhr fort: »Ich erschrak im Innersten, als er von unterschlagenen Briefen und Geldsendungen sprach. Er ist weder mir noch Ihnen gewogen, und scheint hier ein Rätsel zu ahnen, welches ihm, wo seine Hand demnächst bis über den Ozean reichen wird, nicht unlöslich erscheint.«

» Sacre!« fluchte Herr d'Arville, »er kann mich nicht vor Augen sehen. Was beginnen?«

»Noch weiß ich's nicht,« sagte die Frau.

Ihr Antlitz, in dem unter ziemlich starken Brauen dunkle Augen blitzten, nahm einen dämonischen Ausdruck an, als sie leise fast vor sich hin sagte: »Mag kommen was da will – es ist geschehen – es mußte sein – ich habe sein Glück zerstört – wie er meines.«

Nach einer Weile fuhr sie fort: »Wenn ihm jetzt in diesem melancholischen Jüngling ein Rächer entstünde?«

» Mais, Marguerite,« zischte Herr d'Arville mit lauerndem Blick, »wenn man seine Abreise nach Amerika zu verhindern wüßte?«

Dem seinen begegnete ein finsterer Blick der Frau: »So verhindern Sie es, wenn Sie können.«

Der Garderobemeister erschrak über Blick und Ton seiner Gattin, und mehr noch, als er durch ein leichtes Geräusch veranlaßt, seinen Blick nach dem Eingang wandte und dieser dort auf zwei sich eilig zurückziehende weibliche Gestalten fiel.

» Ciel! Man belauscht uns – wir sind verloren!«

Der Blick seiner Frau wandte sich ebenfalls der Tür zu, erreichte aber nur noch ein verschwindendes Ballkleid.

» Poltron! Wir sprachen zu leise, um dort verstanden zu werden. Wahrscheinlich verhindern wir ein zärtliches tête à tête. Kommen Sie zurück zur Gesellschaft, Sie zweiter Bayard, und setzen Sie statt des Armsündergesichts die freundliche Miene auf, welche Sie so gut kleidet. Allons donc. Was komme, komme.«

Damit verließ das würdige Paar den Pflanzengarten, um sich mit heiterer Miene wieder der Gesellschaft anzuschließen.

Als zu später Stunde die Gäste sich entfernten, schritt General Schlieffen dicht hinter Frau d'Arville den Korridor entlang, die in Begleitung ihrer Tochter, der Gattin des Kriegsrats Dallner dem Ausgang zustrebte.

»Ah, so wird mir noch Gelegenheit, mich von den Damen zu verabschieden,« sagte er artig und fuhr nach einer freundlichen Erwiderung von Seiten der Angeredeten fort: »Ich hatte mir vorgenommen, Madame d'Arville eine Frage vorzulegen, doch es findet sich wohl passendere Gelegenheit.«

Auf einen Augenwink der Mutter schritt Frau Dallner weiter.

Schlieffen nahm den Arm von Frau d'Arville und folgte langsam nach.

»Ich habe da erst kürzlich erfahren, daß Sie mit der Mutter des jungen Reizenstein innig befreundet waren, Madame?« er fühlte, als er so direkt auf sein Ziel los ging, wie der Arm der Frau leicht erbebte, aber sein forschendes Auge begegnete einem ruhigen Gesicht.

»Ja, Exzellenz, wir waren innig befreundet.«

»Diese Reizenstein'sche Tragödie, die sich in zwei Weltteilen abgespielt hat, interessiert mich lebhaft, und niemand könnte mir besser helfen, sie aufzuklären, als Sie, gnädige Frau!«

»Wie das, Exzellenz?«

»Vermittelten Sie nicht während der Krankheit der jungen Frau von Reizenstein die Korrespondenz mit ihren Verwandten?«

»So ist es, Exzellenz,« entgegnete sie mit vollkommener Ruhe.

»Sollten Sie nicht auch der Meinung sein, ma chère,« warf der General mit einem Tone hin, der wenig Achtung verriet, »daß hier Briefe verloren gegangen oder unterschlagen sein müssen, Briefe und vielleicht noch anderes?«

Die Frau war auf diesen Angriff vorbereitet und entgegnete mit immer gleicher Gelassenheit: »Der Gedanke ist uns auch oftmals aufgestiegen.«

Der General ließ ihren Arm dem seinen entgleiten, als sein so direkter Angriff so gänzlich wirkungslos blieb, und sagte: »Meine liebe Marguerite, ich habe die Freude, Sie und Ihren werten Herrn Gemahl recht genau zu kennen, und seitdem ich erfuhr, daß Sie die Reizenstein'sche Angelegenheit geführt hatten, ist mir der Gedanke aufgestiegen, es könnten vielleicht durch Herrn d'Arville, der der deutschen Sprache nur in geringem Grade mächtig ist, allerlei Irrtümer veranlaßt worden sein.«

»Wie meinen das Exzellenz?« fragte die Frau scharf.

»Ereifern Sie sich nicht, meine Gute,« sagte Schlieffen mit seiner nachlässigen Ruhe, »ich meine nur, daß jetzt, wo der junge Reizenstein sich hinüberbegibt, um neben seinen kriegerischen Obliegenheiten auch nach dem Schicksal der Seinen zu forschen, Sie möglichen Falls bei Ihrer genauen Kenntnis der ganzen Angelegenheit Mittel und Wege anzugeben vermöchten, welche zur Aufklärung vorhandener Irrtümer beitragen könnten.«

»Bedaure, Exzellenz, da nicht dienen zu können, was ich wußte, habe ich Reizenstein mitgeteilt, was ich an Papieren besaß, ihm übergeben.«

»Alles?« fragte Schlieffen, und in dem Blick, mit welchem er die Frage begleitete, in der leicht gefalteten Stirn lag etwas so gefährliches, daß Frau d'Arville innerlich erbebte.

»Ich interessiere mich für den jungen Mann, er steht unter meinem Schutz, Madame, und ich werde ihm beistehen, gewisse unerklärliche Vorgänge aufzuhellen. Sie wissen, daß Schlieffen nie vergeblich droht. – Sie würden gut tun, Madame, bei Aufklärung der dunklen Vergangenheit mitzuwirken.« Er verbeugte sich leicht und ließ Frau d'Arville einfach stehen. Diese rauschte mit durch Zorn verzerrtem Gesicht ihrer Tochter nach.

Gleich darauf führte Mutter und Tochter der Wagen davon. Als sie vor ihrem dem Schlosse gegenüber liegenden Hause ankamen, bemerkte die Mutter beim Aussteigen das Gesicht des Oberjägers Konski im Schein der Wagenlaterne. Sie erschrak heftig und schritt ins Haus hinein, die Treppe hinauf. Als der Diener die Tür schließen wollte, hielt ihn Konski an: »Ich habe der gnädigen Frau noch eine Botschaft auszurichten,« sagte er mit etwas schwerer Zunge.

»So spät?« fragte verwundert der Diener.

»Ja, es ist wichtig, auch ist es noch nicht 10 Uhr.«

»Ja, ich weiß nicht –.«

»Melden Sie es wenigstens Frau von d'Arville.«

Kopfschüttelnd ging der Diener hinein, erschien aber gleich darauf wieder und führte den Jäger hinauf zu dem Zimmer der Herrin des Hauses und öffnete ihm dasselbe.

Frau d'Arville stand mit auffallend bleichem und finsterem Gesicht am Tisch, als der Jäger eintrat.

»Was wollen Sie?« fragte sie hastig.

»Die Armee geht nach Amerika!«

»Ich weiß es bereits.«

»Ich will nicht mit hinüber und brauche deshalb Geld.«

»Wollen Sie fortwährend wie ein Blutegel an meinem Leben zehren? Ich habe kein Geld.«

»Ich will nicht nach Amerika,« sagte er nachdrücklich.

»Was glauben Sie denn fürchten zu müssen? Man wird Sie nach zwanzig Jahren drüben so wenig erkennen, wie man Sie hier erkannt hat, als Sie die Tollheit hatten, wieder zu erscheinen, am allerwenigsten in der Uniform erkennen, und wer kann Ihnen, den schlimmsten Fall angenommen, im Schutze des Heeres etwas anhaben?«

»Ich will nicht hinüber,« wiederholte er.

»Ei, Sie fürchten sich?«

»Ja, und Sie haben ebenso viel zu fürchten wie ich, Madame.«

»Nicht ganz so viel, guter Freund, aber auch mir ist diese Expedition unangenehm.«

»Mir kann schließlich niemand etwas beweisen, aber Ihnen beweist man desto mehr,« brachte er fast lallend hervor.

Frau d'Arville erkannte jetzt, daß Konski betrunken war und trat ängstlich zurück.

»Ich will nicht nach den Kolonien,« fuhr der Jäger fort. »Ich bin zum Kain gestempelt und treibe mich ruhelos und verkommen in der Welt umher. Nach Amerika will ich nicht, nein – ich bin ohne Mittel – also schaffen Sie Rat.«

In der Angst, daß der berauschte Mann das Haus in Aufruhr bringen und Dinge aussagen könnte, die gefährlich waren, trat die Frau auf den Jäger zu, legte die Hand auf die Schulter und sagte mit schmeichlerischem Tone: »Glauben Sie denn nicht, Eduard, daß Sie drüben einer möglichen Gefahr der Entdeckung für mich vorbeugen könnten? Gefahr bedroht mich und Sie nur, wenn Friedrich Reizenstein noch lebt – ich hoffe, er wandelt nicht mehr auf Erden.«

»Ich kann da drüben nichts nützen und will den Boden nicht wieder betreten, Rachegeister lauern dort auf mich.«

»Sie sind kein Mann mehr, sonst würden Sie fühlen, daß einer Gefahr entgegengehen sie schon halb besiegen heißt. Sie waren stets mein Freund und ich weiß Ihre Treue zu schätzen, und – jetzt wo Hugo hinübergeht – und – wirklich Gefahr droht, liegt es nur an Ihnen, mir vollständige Sicherheit vor den Schatten der Vergangenheit zu verschaffen.«

Sie sagte das mit einem Blicke und einer Betonung, die dem Jäger wohl verständlich sein mußte.

Er schauderte leicht zusammen und sagte mit finsterem, fast verstörtem Blick: »Willst du meine Hand noch einmal bewaffnen, Weib? Sie ist rot genug. Nichts davon,« fuhr er lauter fort, »es ist genug und ich könnte mich doch erinnern, welchem Satan ich das Unglück meines Lebens verdanke.«

»Schweig, oder ich rufe um Hülfe,« zischte sie, erschreckt durch den lauten Ton des betrunkenen Mannes wie durch den Ausdruck seines Gesichts.

»Das würdest du wohl schwerlich wagen –,« lachte er. »Was das Geld betrifft – haben muß ich es und – er murmelte einige unartikulierte Laute – »gib mir Geld – oder –.«

Frau d'Arville ging an einen Sekretär, nahm aus einem seiner Fächer einige Goldstücke und gab sie Konski: »Mehr habe ich nicht – und nun tue, was du willst.«

Er wog die kleine Summe in der Hand, sah die Frau an und sagte: »Ich war weniger sparsam. Gute Nacht, Satan.« Er schritt ziemlich festen Schrittes hinaus.

Sie stand am Tische, den stieren Blick in weite Ferne gerichtet: »Steigt dein blutiger Schatten aus dem Grabe herauf und streckt die Hand nach mir aus? – Zwanzig Jahre leide ich – niemand weiß, wie sehr – o – grauenvoll. – Fort – Schemen, ich biete euch Trotz – fort – fort – fort.« Ein nervöses Zittern befiel sie, und sie sank, die Hände vors Gesicht schlagend, in einen Stuhl.


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