Franz Treller
Der Gefangene der Aimaràs
Franz Treller

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Mariquita

Als Alonzo am anderen Morgen die Augen aufschlug, war ihm, als sei er zu neuem Leben erwacht; nie glaubte er die Erde schöner gesehen zu haben. Die Sonne strahlte vom wolkenlosen Himmel; in majestätischer Schönheit floß der Strom dahin; die glitzernden Tautropfen an Blättern und Gräsern schienen unzählige Diamanten. Bunte Kolibris durchschwirrten die Luft, hauchzarte Schmetterlinge gaukelten im Sonnenglast, die Blütenpracht der Lianen, das sanfte Grün des Waldes, – es war alles wie ein Märchen. Nun nach Otoño! dachte er und reckte die Arme im Vollgefühl seiner Kraft, schnell nach Otoño, damit die Sorge aus ihren Herzen weicht.

Sie fuhren im Canoa stromauf nach Cabuyara; die Fahrt war anstrengend und kostete viel Zeit, aber Maxtlas scharfes Auge hatte bereits vom Waldsaum aus einen einsamen Rancho entdeckt. Vielleicht gelang es, dort Reittiere aufzutreiben; man mußte es jedenfalls versuchen. Sie gingen an Land und schritten auf das einsam unter Palmen liegende Gehöft zu.

In der Tür des aus Adobeziegeln errichteten Hauses stand ein Mädchen; Alonzo blieb unwillkürlich stehen und sah erstaunt auf die Erscheinung.

Es war noch ein Kind; zwölf, dreizehn Jahre mochte sie zählen, aber dem jungen Mann kam sie, wie sie dort im Türrahmen stand, vor wie ein Bild. Das schmale zarte Gesicht war von dunklen Locken umrahmt. Dunkel waren auch die Augen, die in samtenem Glanz schimmerten und nun verwundert auf den fremden Mann starrten, der da, von zwei Indios gefolgt, herankam.

Wie ist mir denn? dachte Alonzo. Wo habe ich dieses Antlitz schon gesehen? Er stand und starrte, und auch das Mädchen sah ihn an. Die Lippen der Kleinen waren leicht geöffnet, ein leichtes Erstaunen malte sich auf ihrem Gesicht. Aber dann hatte sie die Befangenheit wohl überwunden, sie sprang die Stufe hinab und kam auf den Fremden zu.

»Wer bist du?« fragte sie, »suchst du Don Esteban? Er ist ausgeritten, wird aber bald hier sein. Und die Mutter ist im Garten. Sei willkommen!« Mit unbefangener, kindlicher Geste streckte sie ihm die Hand entgegen.

Alonzo nahm zögernd diese Hand; ein wunderliches Gefühl beschlich ihn. »Wie heißt du denn?« fragte er, ohne den Blick von ihren Augen zu lassen.

»Mariquita, oder Maruja, wie du willst«, lachte die Kleine. »Mama ruft mich Maruja. Und du? Wie heißt du?«

»Alonzo«, sagte der Jüngling, »Alonzo d'Alcantara.«

Eine alte, gebeugte Indianerin kam um das Haus herum. Ihr dumpfer Blick richtete sich auf die Fremden; auch die beiden Indios waren mittlerweile herangekommen.

»Oh, Estrangeros!« rief die Alte. »Estrangeros! Wo sind eure Pferde? Wo kommt ihr her? – Das muß Señora wissen«, setzte sie hinzu und ging zurück hinter das Haus.

Alonzo, der noch immer ganz in den Anblick des Kindes versunken war, hatte nicht bemerkt, daß auch der hinter ihm stehende Maxtla die Kleine aufmerksam und augenscheinlich überrascht betrachtete; eine höchst ungewöhnliche Erscheinung bei einem Indianer.

»Komm, setz dich, Don Alonzo«. Die Kleine wies auf eine Bank in einer schattigen Laube, hinter der einige Bananenstauden wuchsen. »Laß deine Indios auch nähertreten. Ah, da ist die Mutter.«

Eine Frau in mittleren Jahren kam heran. Sie sah erstaunt, aber freundlich auf die Fremden. Alonzo begrüßte sie höflich und sagte, wie er es vorher mit Maxtla verabredet hatte: »Verzeiht, Señora, daß wir die Gastfreundschaft Eures Hauses in Anspruch nehmen. Wir haben unser Boot eingebüßt und suchen den Weg nach Cabuyara zurück.«

»Seid willkommen, Señor«, antwortete die Frau, die von Alonzos Erscheinung angenehm berührt sein mochte, »unser Haus ist das Eure. Ja, der Strom ist ein tückischer Gesell. Laßt Euch ruhig nieder; mein Mann kann jeden Augenblick zurückkommen. Ich bringe Euch gleich Kaffee. Die Indios können sich dort in den Schatten der Agave setzen. Habt Ihr schon Marujas Bekanntschaft gemacht? Aber ich sehe es ja. Verzeiht ihr die Schüchternheit; sie sieht wenig Fremde.«

Sie ging ins Haus, und Mariquita, die durchaus keine Schüchternheit zeigte, setzte sich neben Alonzo. Unter der Agave saß Maxtla und ließ keinen Blick von dem Mädchen.

»Du wirst doch einige Tage bleiben, Señor?« fragte die Kleine. »O bitte, tu das! Wir haben so selten Besuch. Papa wird sich ganz gewiß freuen.«

»Aber ich kann leider nicht bleiben, Mariquita«, antwortete Alonzo. »Wenn dein Vater uns Pferde verkauft oder leiht, müssen wir gleich wieder weiter. Man wartet auf mich.«

»Oh, das ist aber schade; es wäre so schön gewesen.«

Woran erinnert sie mich nur? dachte Alonzo. »Ja, es ist schade«, sagte er, »du gefällst mir nämlich, kleine Mariquita. Weißt du, ich hätte jetzt, lebte sie noch, eine Schwester in deinem Alter. Wie alt bist du?«

»Zwölf Jahre.« Das Mädchen sah ihn aus seinen dunklen Samtaugen aufmerksam an.

»Siehst du, das dachte ich mir. Zwölf Jahre wäre meine Schwester jetzt auch.«

»Ist deine Schwester tot?« fragte die Kleine. Er nickte: »Ja, Maruja, sie ist tot, lange schon. Ist nur zwei Jahre alt geworden.«

»Dann ist sie jetzt ein Engel im Himmel«, sagte Mariquita.

Alonzo faßte sacht ihre Hand und streichelte sie; seine Stirn hatte sich umdüstert. »Ja, kleine Maruja, das ist sie gewiß. Hast du denn noch Geschwister?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ganz allein. Aber Papa und Mama lieben mich sehr, und die alte Mali ist auch gut zu mir.«

»Wer sollte auch nicht gut zu dir sein, Kind!« Ein zärtliches Gefühl war in Alonzo; er vermochte es sich selbst nicht zu erklären. Noch nie hatte ein Kind ihn auf solche Weise beeindruckt. Und eine geheime Unruhe war da, für die er keine Erklärung wußte. Das Mädchen neben ihm plauderte, kindlich und unbefangen. Es plauderte allerlei kleine Geheimnisse vor ihm aus. Er nahm die Worte kaum auf, aber die Stimme drang ihm tief in die Seele. Es fiel ihm schwer, auf das Geplapper einzugehen; er hätte das Kind immer nur ansehen mögen.

Die Indianerin war aus dem Hause herausgetreten und begab sich nun zu ihren beiden Stammesgenossen, um ihnen Maisbrot und Fleisch zu bringen. Maxtla sprach sie an. »Dienst du schon lange hier?« fragte er, sich der Chibchasprache bedienend.

»Viele Jahre«, sagte die Frau. »Die Weißen sind gut zu mir.«

»Hast du einen Mann?«

»Er ist tot.«

»Und Kinder?«

Die Frau schüttelte den Kopf.

»Du stammst aus den Bergen«, sagte Maxtla jetzt und wechselte in den Dialekt der Gebirgschibchas über. Die Augen der Frau leuchteten auf. »Ja«, sagte sie, »aus den Bergen, und du auch, wie ich höre.«

Die Señora erschien und brachte Alonzo Kaffee, Brot und Eier. Mit Erstaunen sah sie, wie vertraulich ihr Kind mit dem fremden Mann plauderte. »Nun, das ist ein Wunder, Señor«, sagte sie. »Das ist sonst gar nicht Mariquitas Art.«

»Ja, Madrecilla«, – die Kleine sah unbefangen zu der Mutter auf, »aber er gefällt mir. Und ich gefalle ihm auch. Er hatte eine kleine Schwester, die ist jetzt ein Engel im Himmel.« Die Frau warf einen prüfenden Blick zu Alonzo. »Nun, es freut mich, daß Maruja Sie gut unterhält, Señor«, sagte sie und ging ins Haus.

Unter der Agave erhob sich Maxtla. Er sah seiner Stammesgenossin ernst ins Gesicht und sagte: »Komm mit mir, ich will eine Frage an dich richten.« Das Weib folgte ihm zögernd nach einer Baumgruppe.

Ein Reiter näherte sich dem Haus; der Llanero Esteban Mauricio, der Herr dieses Ranchos, wie sich bald darauf erwies. Der Mann, eine kräftige, biedere Erscheinung mit einem offenen Gesicht, zeigte sich sehr erfreut, einen Caballero als Gast zu erblicken. Alonzo wiederholte ihm, was er schon der Frau gesagt hatte und äußerte seine Wünsche. »Selbstverständlich bringe ich Euch nach Cabuyara, Señor«, sagte der Mann, »und wenn Sie Wert darauf legen, verkaufe ich Ihnen auch Reittiere.« Er hieß den Besucher im übrigen herzlich willkommen und gab dem Wunsche Ausdruck, er möge sich mit dem Abreiten nicht übereilen.

Während der Llanero nach den Ställen hinüberging, um die Reittiere auszusuchen, trat Maxtla an Alonzo heran. Er wies mit den Augen auf das Mädchen Mariquita und sagte leise, in der Chibchasprache: »Weiß Don Alonzo, wem sie ähnlich sieht?«

Der junge Mann sah dem Indio überrascht in das sehr ernste Gesicht. »Nein«, versetzte er zögernd, »aber ich grüble fortgesetzt darüber nach.«

»In deines Vaters Haus in Bogotá hing ein Bild deiner Mutter, das sie als Señorita zeigte.«

Alonzo fühlte, wie er erblaßte. »Maxtla!« stammelte er und warf einen scheuen Blick auf das Kind, das ihn aus großen Augen ansah und den fremden Lauten zuhörte, die es nicht verstand.

»Aber du hast recht«, sagte der Jüngling, »es ist sonderbar, Maxtla, aber du hast zweifellos recht. Warum bin ich nur nicht selber darauf gekommen?« Es waren zehn Jahre vergangen, seit er das Haus in Bogotá verlassen hatte; viel war seitdem geschehen, grauenvolle Dinge hatte er durchlebt, aber nun, da Maxtla es sagte, stand das wohlbekannte Bild, das seine Mutter als sechzehnjähriges Mädchen darstellte und vor dem er so oft gestanden hatte, plastisch vor seiner Seele. Ein Flut von Gedanken und Ahnungen stieg in ihm auf; er wagte nicht mehr zu denken.

Die Verstörung mußte sich wohl in seinem Gesicht abzeichnen. Mariquita war herangekommen; ihre kleine Hand schob sich sacht in die seine. »Don Alonzo, amigo mio«, flüsterte das Kind, »was hast du? Was hat dir der Indio gesagt? Bist du traurig?«

Er wandte den Kopf, sah das Mädchen an, die Augen, die Stirn, den leicht geöffneten Mund mit den Perlzähnen. »Mein Gott!« stammelte er. Und da er den Anflug von Tränen in des Kindes schönen Augen bemerkte, »nicht doch, nicht doch, amiga, es ist nur: du erinnerst mich – an ein Bild, ein mir sehr teures Bild. Nein weine doch nicht. Du bist lieb, Maruja.«

Im Hintergrund stand die Indianerin Mali und sah starren Blickes bald auf Alonzo, bald auf das Mädchen; ihr verrunzeltes Gesicht erschien sonderbar fahl.

Langsam sagte Maxtla, jedes Wort betonend: »Diese Frau dort, sie ist eine Chibcha aus den Bergen, ich habe mit ihr gesprochen – sie fand das Kind vor zehn Sommern – – im Tal der drei Quellen.«

Alonzo war es, als sei die vertraute Stimme des Indios aus sehr, sehr weiter Ferne zu ihm gedrungen, mehr, als sei sie ein Traum, ein phantastischer. Er fühlte, wie das Blut in seinen Adern schneller kreiste, er spürte den rasenden Schlag seines Herzens. Einem Irrsinnigen gleich starrte er Maxtla an. »Was – sagst du da?« stammelte er schließlich.

»Don Alonzo hatte zwei Schwestern«, fuhr der Chibcha fort. »Maxtla weiß es, er kannte sie; zwei Sommer zählte Juana – damals. Jene Frau trug sie fort, aus dem Tal der drei Quellen.«

Meine Knie wanken, dachte Alonzo, ich muß mich setzen. Das ist doch nicht möglich. Das gibt es doch nicht. Das ist doch ein Spuk. Aber er taumelte, und die kleine Mariquita schrie auf: »Was hast du, amigo, was hast du denn nur?«

Maxtla sagte, nicht ohne einen leichten Verweis in der Stimme: »Ein Krieger muß sich beherrschen können.« Alonzo fiel auf die Bank zurück. »Mach mich nicht irrsinnig, Maxtla«»sagte er, »überlege dir, was du sprichst.«

Maxtla, unbewegten Gesichtes nun, fuhr fort: »Mali ist eine Bergchibcha; sie schwur bei den Göttern unseres Volkes, sie hat die Wahrheit gesagt.«

Die Señora, die herausgekommen war, um nach ihrem Mann und dem Fremden zu sehen, sah die Verstörung des letzteren. Sie sah erstaunt auf den fremden Señor, auf das verängstigte Gesicht des Kindes, und ein dunkle Unruhe beschlich sie. Sie verstand nicht, was die Männer da redeten, und niemand achtete auf sie.

Maxtla aber begann zusammenhängend zu erzählen, während die Stammesgenossin mit niedergeschlagenen Augen hinter ihm stand. Die Frau, vor zehn Jahren mit ihrem Mann auf der Flucht vor den Regierungswerbern, die jeden kräftigen Mann zum Soldaten aushoben, hatte eines Abends das Tal der drei Quellen betreten. Sie war auf einen Haufen blutiger Leichen gestoßen: Männer, Frauen und Kinder. Unter den Toten aber hatte sie ein ängstlich schreiendes Kind erblickt, ein etwa zweijähriges Mädchen. Eine Machete hatte es am Halse gestreift und betäubt niedergeworfen; die Mörder hatten es für tot liegen lassen. Mali war unlängst ein Kind gestorben; sie hatte das kleine Geschöpf mitgenommen. Dann aber hatte sich ihrer und ihres Mannes lähmende Angst bemächtigt. Der Mann hatte festgestellt, daß man Indios in Verdacht habe, das Verbrechen verübt zu haben. Es lag nahe, daß man das Paar für die Mörder, mindestens für ihre Spießgesellen halten würde. Mali aber hatte nun von dem Kind nicht mehr lassen wollen, und so waren sie weiter geflohen, durch Berge und Wälder, immer in Angst vor den Werbern und den Alguacils, die nach den Mördern suchten. Sie waren schließlich zu den hier einsam wohnenden Leuten gekommen und hatten bei ihnen Dienst genommen. Das Kind hätten sie in einem Kahn auf dem Fluß treibend gefunden, hatten sie gesagt.

Señora Mauricio aber hatte sich der Kleinen angenommen; alle Nachforschungen nach der Herkunft des Kindes waren vergeblich geblieben. Spät erst und in sehr entstellter Form war die Nachricht von dem Mord im Tal der drei Quellen hierhergedrungen; niemand konnte auf den Gedanken kommen, daß die Kleine mit dieser Sache in Verbindung zu bringen sei. Malis Mann war gestorben, das Kind aber im Schutz der kinderlosen Señora als deren Tochter aufgewachsen und erzogen worden.

»Sieh selbst«, sagte Maxtla, »die Narbe am Hals, die die Machete der Aimaràs zurückgelassen hat, ist noch zu sehen.«

Weder Alonzo noch Maxtla hatten bemerkt, daß auch der Llanero seit einiger Zeit bei ihnen stand und der Erzählung Maxtlas zuhörte. Der Mann war blaß wie die Wand; er verstand sehr viel von der Chibchasprache, es war ihm nur wenig unklar geblieben. Mit verstörten Augen sah er auf das kleine Mädchen, das offensichtlich von alledem nichts begriff, aber mit verhohlener Angst auf die Gruppe starrte. »Mariquita!« stöhnte der Mann.

Alonzo hatte regungslos zugehört, den Kopf in die Hand gestützt. Jetzt sah er auf, und in seinen Augen, die schon als Kind das Weinen verlernt hatten, glitzerte eine Träne. Stumm streckte er die Arme nach dem Mädchen aus. »Juana«, stammelte er, »kleine Juana! Schwester!«

Aber das eben noch so zutrauliche Kind wich scheu zurück; es regte sich nicht. Plötzlich lief es zur Mutter und schlug die Arme um deren Knie. »Mutter«, schluchzte es, »Madrecilla, was ist das denn alles?«

Alonzo aber erhob sich; er war blaß, aber äußerlich schon wieder ruhig. »Das Schicksal geht sonderbare Wege«, sagte er. »Ihr habt gehört, Don Esteban – ich sehe, daß Ihr verstanden habt – sagt es Eurer Frau, ich kann nicht mehr daran zweifeln: Dieses kleine Mädchen, das bisher als Eure Tochter galt, – Ihr wißt ja, daß sie es in Wahrheit nicht ist – ist Juana d'Alcantara, meine Schwester. Ich fasse das noch nicht, und ich möchte heute glauben, daß auch Freude einen Menschen umbringen kann, aber es ist kein Irrtum mehr möglich. Sprächen die Umstände nicht für sich selbst, ich wüßte es so. Ich fühle es.«

»Wir wollen darüber reden. Kommt ins Haus! Dergleichen begreift sich nicht so schnell.« Die Stimme des Llaneros hatte einen rauhen Klang. »Seit zehn Jahren ist das Kind unsere Tochter«, fügte er hinzu.

Jetzt erst schien die Frau zu begreifen; sie schrie auf und schlang die Arme um das Mädchen, das den Kopf an ihrem Schoße barg. »Nein«, stammelte sie leichenblaß, »nein.« Der Mann nahm sanft ihren Arm und führte sie ins Haus.

Sie saßen drinnen um den Tisch herum. Die alte Mali mußte noch einmal berichten, Punkt um Punkt, Wort für Wort. Don Esteban warf manche Frage dazwischen; die Frau barg das Kind in ihrem Arm, als sei sie bereit, es zu verteidigen wie eine Löwin ihr Junges.

Aber es war alles klar. Die nochmalige Darstellung, durch Alonzos eigenen Bericht ergänzt, die unverkennbare Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Mädchen ließen keinen Zweifel übrig. Als die Frau dessen sicher war, brach sie in Tränen aus. Mariquita, in das Weinen einstimmend, streichelte sie fortgesetzt. »Mama, Madrecilla«, schluchzte sie, »ich bleibe doch bei dir. Ich gehe doch nicht fort. Ich bleibe doch bei dir.«

Alonzo rief sie an, leise, mit schmeichelnder Stimme: »Juana!«

Das Mädchen fuhr herum; in ihren dunklen Samtaugen blitzte es:

»Ich heiße nicht Juana!«

»Mariquita dann, das bleibt sich ja gleich. Aber du bist meine Schwester. Du bist es wirklich, so wunderbar es ist. Fühlst du es denn nicht?«

Er faßte die Augen des Mädchens, er lächelte sein schönes, offenes, warmes Lächeln.

Da schluchzte die Kleine auf. »Doch! Doch! Hab' dich ja gleich lieb gehabt. Aber – aber – ich kann doch nicht von Mama weggehen.«

»Wer sagt dir denn, daß du das sollst?« lächelte Alonzo.

»Don Alonzo«, – der Llanero hatte sich gefaßt; er räusperte sich, um seiner Stimme Festigkeit zu geben, »Don Alonzo, Ihr tragt einen großen Namen. Ich habe vom Schicksal Eures Vaters und Eurer Familie gehört. Ich konnte nicht ahnen, daß Eure Schwester in meinem Hause weilte. Es ist Gottes Wille, der Euch diesen Weg finden ließ. Gegen Gottes Willen sind wir machtlos. Aber was Ihr uns nehmt, wißt Ihr nicht.«

»Ich gebe sie nicht her!« schluchzte die Señora.

Alonzo lächelte: »Bin ich ein Barbar? Juana d'Alcantara muß die Stellung im Leben einnehmen, die ihr gebührt, daran ist kein Zweifel, und Ihr könnt es selbst nicht anders wollen. Ihr aber sollt sie gewiß nicht hergeben und verlassen, Ihr habt Elternrechte an ihr erworben. Kommt mit mir an den Ocoa, Ihr sollt Land und Haus dort haben. Und wie sich mein Schicksal auch immer gestalten mag, Ihr sollt das Kind nicht entbehren müssen. Nun, willst du mit mir kommen, Juana-Mariquita?«

Da strahlten die dunklen Samtaugen schon wieder. »Ja, wenn Mama und Papa auch mitgehen.«

»Sie gehen mit, sie verlassen dich nicht. Und auch ich werde dich nun nicht mehr verlassen, Juana.« Er öffnete die Arme, und nun spürte er das warme junge Leben an seiner Brust. »Gott, ich danke dir«, flüsterte er, »ich danke dir, Gott!«

Sie beredeten dann gemeinschaftlich, was zu geschehen habe. Maxtla würde vorausreiten und in Otoño berichten, was geschehen war. Er selbst würde mit Señora Mauricio und Juana folgen, um am Ocoa alle Vorbereitungen für die Zukunft zu treffen. Maxtla ritt sofort, und die anderen saßen noch lange zusammen.

Am nächsten Tag machten sie sich auf den Weg. Juana-Mariquita streichelte unentwegt die braunen Wangen ihres Pflegevaters. »Wir sehen uns wieder, sehen uns bald wieder. Mariquita verläßt dich nicht«, flüsterte sie ihm zu. Tiefbewegt blieb der Llanero zurück. Huatl folgte den Reisenden als Peon.

In Cabuyara fanden sie eine aufgeregte Bevölkerung. Entscheidende Dinge hatten sich ereignet: Der Staatspräsident, Manuel Obanda, war plötzlich gestorben, neue Wahlausschreiben waren ergangen, die große Junta zusammenberufen, um den neuen Präsidenten zu ernennen.

In der Posada, in der sie Unterkunft fanden, traf Alonzo zahlreiche aufgeregte Landleute. Er nannte seinen Namen nicht, und er war auch viel zu sehr um die so plötzlich wiedergefundene Schwester bemüht, um sich viel für die öffentlichen Ereignisse zu interessieren. Dennoch drang das Wesentliche des Geschehens an sein Ohr.

De Vallas Name wurde allgemein mit wilden Verwünschungen genannt. Gleichwohl wurde selbst hier in der abgelegenen Stadt für die Wahl des Ministers agitiert. Daneben wurde der Name des Generals Mosquerra genannt. Die Brüder Vivanda hatten, wie Alonzo sich erinnerte, den General oft mit großer Achtung erwähnt.

Aber was sollte ihm das jetzt alles? Alle politischen Fragen erschienen ihm plötzlich bedeutungslos. Der Himmel hatte ihm eine Schwester geschenkt; daneben verblaßte alles andere. Hochgestimmt setzte er die Reise nach Otoño fort.


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